4.3. Die Nationalisierung des Arbeitsbegriffs gegen die "jüdische
Nicht-Arbeit"
Während sich die bürgerliche Gesellschaft immer
weiter entfaltet hat, wird auch die Zirkulationssphäre das Allgemeine. Mit
der Verallgemeinerung des Tauschprinzips wird auch die unmittelbare Gewalt
mehr und mehr ersetzt; "ein Schein von Freiheit entsteht, der unabhängig vom
unmittelbaren Geschäft der Selbsterhaltung macht."
Nicht von ungefähr knüpft die Aufklärung an die
Reformation an, deren Subjekte bereits das ‚innere Reich der Freiheit’ und
die Verlegung der äußeren Macht Gottes in ihr Inneres kennen. Luther hat
jedoch nicht nur die Kirche reformiert, sondern auch bereits den
Antijudaismus. Seine späte Schrift Von den Juden und ihren Lügen aus
dem Jahr 1543 wirkt nicht nur an verschiedenen Stellen wie die Aufforderung
und Anleitung zum Pogrom. Sie nimmt bereits ein zentrales Element des
modernen Antisemitismus voraus und ideologisiert es: Die scheinbar
wunderhafte Schaffung der Vermehrung des Geldes in der Zirkulation und die
Personalisierung dieses Prozesses in den Juden.
"Denn die Juden, als im Elende, sollten ja gewisslich nichts haben, und was
sie haben, das muß gewisslich unser sein. So arbeiten sie nicht, verdienen
uns nichts ab, so schenken und gebens wir ihnen nicht, dennoch haben sie
unser Geld und Gut und sind damit unsere Herren in unserem eigenen Land und
in ihrem Elende."
Martin Luther, der für die erste Bibelübersetzung vom
Griechischen ins Deutsche verantwortlich zeichnet, hat in eben dieser
Übersetzung das Wort ‚Arbeit’ mit ‚Beruf’ übersetzt. Ist Arbeit bis dahin
ausschließlich verbunden gewesen mit dem Lebenserhalt, Mühsal und Plage, so
lädt Luther den neuen Begriff auf. Beruf wird konotiert mit "göttlichem
Willen, Berufung, Schickung und Fügung."
Arbeit soll fortan ein Werk sein, um Gott zu gefallen. Sie soll in Demut
gegenüber der Obrigkeit und in Fügung in die göttliche, also natürliche,
Ordnung verrichtet werden. In Luthers Arbeitsbegriff liegt die Grundlage
einer Arbeitsideologie, die Arbeit als Wert an sich, unabhängig von deren
Gehalt fetischisiert. Luther hat sich nicht nur als Kirchenreformator
betrachtet, sondern auch als ‚deutschen Patrioten’ im Kampf gegen den
römischen Kaiser. In solcher Sicht scheint es nur konsequent, einen
‚deutschen Volkscharakter’ zu konstatieren, der dem Lutherschen Arbeitsethos
gerecht wird und sich durch Naturgebundenheit, Arbeitsfreude,
Traditionsverbundenheit und sittlichem Verhalten hervorhebe.
Als Antipoden solcher sittlichen Arbeitsamkeit gelten dem Reformator die
Juden, ‚Zigeuner’ und ‚Hexen’. In diesen Gruppen wird von Luther
personifiziert, was sich seinem Arbeitsethos, der aufkeimenden
instrumentellen Vernunft und der Verinnerlichung der göttlichen Ordnung zu
entziehen scheint. Sie werden neben den Bettlern zu Symbolen der
Nicht-Arbeit stilisiert und entsprechend verfolgt. Alles Dasein, welches
real oder scheinbar außerhalb der reformatorischen Ordnung, sich anmaßte zu
existieren, ist dem Luthertum und dem sich daraus herausbildenden Pietismus
ein Werk des Teufels. Nur in den Projektionen auf die Juden jedoch, die "mit
dem sich selbst erzeugenden Geld identifiziert"
werden, findet die Personifizierung der Nicht-Arbeit ihr System der
Welterklärung.
Die bürgerliche Askese bildet die religiös
untermauerte Grundlage der Kapitalakkumulation im Individuum nicht nur in
den deutschen Ländern. Die deutschen Pietisten interpretieren, in Nachfolge
Luthers, die Arbeit als Gottesdienst. Sie sei natürlicher Selbstzweck des
Daseins, unabhängig vom Inhalt, und diene nicht der individuellen
Bereicherung. Dem deutschen, romantischen Ideal einer ‚Gemeinschaft der
fröhlich Schaffenden’ gibt schließlich Friedrich Schillers
Lied von der Glocke von 1800, auch in Abgrenzung zur französischen
Revolution und deren Werten, Ausdruck:
"Fest gemauert in der Erden / steht die Form aus Lehm gebrannt. / (...) /
Von der Stirne heiß / Rinnen muß der Schweiß / Soll das Werk den Meister
loben; / Doch der Segen kommt von oben. / (...) / Dann fließt die Arbeit
munter fort / (...) / Das ist’s ja was den Menschen zieret / Und dazu ward
ihm der Verstand / (...) / Tausend fleiß’ge Hände regen, / Helfen sich im
munterm Bund, Und in feurigem Bewegen / Werden alle Kräfte kund. / Meister
rührt sich und Geselle / (...) / Jeder freut sich seiner Stelle / Bietet dem
Verächter Trutz. / Arbeit ist des Bürgers Zierde, / Segen ist der Mühe
Preis; / Ehrt den König seine Würde, / Ehret uns der Hände Fleiß."
Diese Vorstellung der Arbeit, gewendet gegen die
Erscheinungsebene zunehmender Durchkapitalisierung der Gesellschaft,
versteht die Produktion als ‚organisches’ Miteinander der ‚Schaffenden’, das
sich als Nation im "Trutz" gegen den "Verächter", Symbol des Unproduktiven,
formiert. Solch Arbeitsverständnis, in dem die Einzelnen zu Ehren eines
höheren Wertes tätig sind, sei es Gott, Vaterland oder der König, wendet
sich in Deutschland explizit gegen die Aufklärung, "die alles nur
auseinander nähme und auf >Einzelteile< reduziere."
Die Entwicklung des bürgerlichen Subjekts ist ein
langandauernder Prozess. Schon bei Luther zeichnet sich die Koppelung von
verinnerlichter Autorität, Projektion und Personalisierung ab, sowie die
Abgrenzung einer vorweg imaginierten deutschen Nation von den Juden. Dem
Kirchenreformator Luther wird von Fromm dessen sado-masochistischer
Charakter bescheinigt, da er sich durch "das beständige Nebeneinander einer
feindselig-trotzigen Einstellung zu einer
Autorität und der masochistischen Unterwerfung unter eine andere"
auszeichne.
In der deutschen Romantik ist der christliche
Antijudaismus weitgehend säkularisiert. Die Form der romantischen
Denunziation des Judentums gleicht "der christlichen Verteufelung (...),
wobei das Christentum in ihr in neuer Weise verinnerlicht" wird.
"Nicht Gott, sondern die Menschen, die sich als Volk untereinander lieben,
schließen die Juden aus der (...) Erlösungsgemeinschaft aus."
In den sogenannten Hep-Hep Unruhen des Jahres 1819
findet das fetischisierte Bewusstsein der deutschen Erlösungsgemeinschaft zu
sich selbst. Die Handwerkszünfte strebten in dieser Zeit der
Wirtschaftskrise danach die jüdischen Handwerker als Konkurrenten
auszuschalten. Die ‚ehrliche’ Handarbeit soll einzig der Ausdruck des
"deutschen Gemüts"
werden. Nicht nur die Hep-Hep Pogrome jedoch sind getragen durch alle
Schichten der Bevölkerung. Sehr deutlich kommentiert dies der preußische
Diplomat Varnhagen von Ense in einem Brief vom 3. September 1819:
"Man sieht aus der Allgemeinheit dieser Ausbrüche gegen die Juden, dass
diejenigen irren, welche in unserer politischen Zerstückelung ein Hindernis
allgemein durchgreifender Volksbewegungen glauben wahrnehmen zu müssen. Die
größte Einheit der Deutschen ist in dem Gefühle zu erkennen, welches sie von
ihrem Zustand äußern. Übrigens sind diese Stürme gegen die Juden ein Anfang
solcher Ereignisse, die ihnen späterhin alle Gleichheit der Rechte von
Volkswegen bringen werden"
Wo die Assimilation und Säkularisierung, gerade der
deutschen Juden, diese aus dem Ghetto zu befreien sich anschickt und sie so
gesellschaftlich ‚unsichtbar’ macht, schafft der rassistisch aufgeladene
Antisemitismus künstlich eine neue Sichtbarkeit. Wenn der moderne
Antisemitismus auch in anderen europäischen Ländern virulent gewesen ist, so
hat er sich in Deutschland verbunden mit einer idealistischen Philosophie,
die sich in vielen Aspekten in Abgrenzung zu den Werten der französischen
Revolution verstanden hat oder diese in obrigkeitsstaatliche, autoritäre
Denkmuster transformiert hat. Historisch ist das Aufkommen des deutschen
Nationalismus nicht zu trennen vom Antisemitismus, beide verhalten sich wie
ein Zwillingspaar. So findet sich beispielsweise in Johann Gottlieb Fichte
nicht nur ein Wegbereiter des deutschen Nationalismus und Republikanismus.
Fichte begründet auch philosophisch einen "Antisemitismus der Vernunft",
den später Hitler für den Nationalsozialismus zu mobilisieren gedenkt.
Parallel zum aufkommenden Nationalismus geht die Liberalisierung des
Marktes, die in Preußen mit der Hardenbergschen Reform von 1810/11 ihren
Ausgangspunkt hat. Der Marktliberalismus in den deutschen Ländern führt
allerdings nicht zu einer Beschneidung der Vorrechte der Handwerkszünfte,
die ihre starke Position ebenso behalten wie die feudale Landwirtschaft.
"Dies ist ein Grund für die Tradierung und Reformulierung einer feudalen
Sicht von Arbeit in Deutschland"
Die Emanzipation des Judentums ist zugleich erkauft
mit dem Zwang zur Assimilation, was häufig auch den Übertritt in das
Christentum eingeschlossen hat. Der aufkommende Liberalismus des 19.
Jahrhunderts gewährt zwar den Juden Besitz, "aber ohne Befehlsgewalt."
Ihre Sicherheit bleibt damit abhängig von der Anbindung an die staatliche
Gewalt.
Die Antisemiten im Gefolge Wilhelm Marrs setzen wie
der Journalist Otto Glagau den Begriff des ‚schaffenden’ Kapitals mit guter,
deutscher Produktivität gleich. So liest man 1874 in der
"Gartenlaube", einer Zeitschrift für die deutsche Mittelschicht, die in
einer Auflage von 400.000 Stück vertrieben wurde:
"Die Judenschaft (...) arbeitet nicht, sie beutet die mit der Hand
verrichtete oder die geistige Arbeit des Mitmenschen aus (...)"
Diese Haltung fußt auch in der Tradition der
mittelalterlichen Judenfeindschaft, welche in der Moderne keinen expliziten,
vielmehr einen gesellschaftlich impliziten Charakter besitzt. Das
christliche Motiv ist bei Glagau in den Hintergrund gedrängt und
säkularisiert: "Die soziale Frage ist die Judenfrage."
Hierin liegt der qualitative Unterschied des modernen Antisemitismus
gegenüber dem mittelalterlichen, christlichen Antijudaismus. Am Ende des 19.
Jahrhunderts wird das dichothome Verhältnis von ‚deutscher Arbeit’ und
jüdischer ‚Nicht-Arbeit’ zum kulturellen Code geronnen sein. Der Börsenkrach
von 1873, in dem die Kleinanleger ihre gesamten Ersparnisse verloren haben,
scheint die Mär vom unehrlich an der Börse erworbenen ‚jüdischen’ Kapital in
den Augen des Großteils der Bevölkerung zu untermauern. Schnell werden die
eigenen ‚Spekulationsgelüste’ verdrängt. So haben sich "Katholiken und
Protestanten, Christen und Atheisten, Konservative und Demokraten (...)
ungeachtet aller Gegensätze vereint in der Opposition gegen den als
>jüdischen Manchesterkapitalismus< halluzinierten Kapitalismus."
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