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Jüdische Weisheit
 
 
Teil VIII
Antisemitismus aus kritisch-theoretischer Sicht
Möglichkeiten und Grenzen politischer Bildungsarbeit in einem gesellschaftlichen Problemfeld


Von Ingolf Seidel

3.1. Vom christlichen Antijudaismus zu Stereotypie und pathischer Projektion

Gerade das stereotypisierende Vorurteil bietet den Autoritären die Möglichkeit, ihre im unbewussten liegenden Triebwünsche und Aggressionen abzuwehren und abzuspalten.

"Das Vorurteil erlaubt die Projektionen eigener Wünsche, Schwächen und verhaßter Selbstanteile auf einen anderen oder eine Gruppe von anderen."[79]

Die eigenen Sehnsüchte nach einem lustvollen und von befreiten Leben werden unterdrückt und die aus dem Es stammenden Aggressionen werden auf die Außenwelt projiziert. Das dem stereotypen Denken zugrunde liegende, Prinzip von Dichotomie und die Ablehnung dessen, was als ‚anders’ eingeschätzt wird, liegt bereits in der "strenge(n) Zweiteilung zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit"[80], sowie in dem "Tabu über jedem psychologischen Übergang von jener zu dieser."[81]

Die Starrheit der Stereotype ist nur Ausdruck der Starrheit des Charakters. Stereotypes Denken ersetzt die Erfahrung und den Erkenntnisprozess, da dieser die Gefahr birgt sich der eigenen seelischen Deformation bewusst zu werden. Das zwanghafte in der Stereotypisierung macht sie zur Stereopathie. In deren Schemata werden die Objekte der Projektion hypostasierend eingepresst. Während die Existenz des autoritären Charakters an keinerlei weltanschauliche Ausprägung gebunden ist, muss das Projektionsobjekt bestimmte Bedingungen erfüllen, um seiner Funktion als ‚Sündenbock’ gerecht zu werden:

"Es muß greifbar genug, aber auch nicht zu greifbar sein, damit die eigene Wirklichkeit es nicht zunichte macht. Es muß historisch fundiert sein und als unbestreitbares Element der Tradition erscheinen. Es muß in starren wohlbekannten Stereotypen definiert sein, und schließlich muß es Merkmale besitzen oder zumindest im Sinne von Merkmalen wahrgenommen und verstanden werden können, die den destruktiven Tendenzen der Vorurteilsvollen entgegenkommen."[82]

Im Kontext europäischer Zivilisation erfüllen die Juden, bzw. die Zuschreibungen, die über sie bestehen, genau diese notwendigen Bedingungen für die pathische Projektion.

Durch die Ausgrenzung und immer wiederkehrende Vertreibungen seitens der Christen in allen europäischen Ländern ist der Antijudaismus zur Zeit der Aufklärung bereits tief in den Gesellschaften verankert gewesen. Die Festschreibung der Juden als ‚Gottesmörder’ seit dem 3. Jahrhundert[83] christlicher Zeitrechnung hat eine antijüdische Tradition im Christentum begründet, die mehr beinhaltet als nur eine Glaubenskonkurrenz. So steht das Judentum in vorchristlicher Zeit noch für die Einheit von Selbsterhaltung und geistig-magischem, einer Einheit, die noch stärker dem Naturhaften verpflichtet ist. Durch die Fleischwerdung des Geistes in der Person Jesus hat das Christentum diese Einheit zerbrochen:

"(D)as Christentum (...) wollte geistlich bleiben, auch wo es nach Herrschaft trachtete. Es hat die Selbsterhaltung durchs letzte Opfer, das des Gottmenschen, in der Ideologie gebrochen, eben damit aber das entwertete Dasein der Profanität überantwortet: das mosaische Gesetz wird abgeschafft, aber dem Kaiser wie dem Gott je das Seine gegeben. Die weltliche Obrigkeit wird bestätigt oder usurpiert, das Christliche als das konzessionierte Heilsressort betrieben. Die Überwindung der Selbsterhaltung durch die Nachahmung Christi wird verordnet."[84]

Der Antijudaismus ist auch die Verfolgung dessen, was dem Magisch-naturhaften und dem Versprechen auf hiesiges Glück nahe steht, wo die Christen, von ihrer Heilserwartung enttäuscht, sich ihren Glauben einreden müssen. So wird das Judentum, das in seinem Charakter als Nicht-Identisches beharrt, ohne es zu wollen zum ärgerlichen Symbol für die christlichen Judenfeinde, als "die Wahrheit, die dem Unheil standhält, ohne es zu rationalisieren und die Idee der unverdienten Seligkeit gegen Weltlauf und Heilsordnung festhält."[85]

In den antijüdischen Bildern manifestiert sich der Wandel von der Glaubenskonkurrenz zum christlichen Antijudaismus: vom angeblichen Ritualmord über die Behauptung der Brunnenvergiftung bis zum Bild des Ahasver, des ‚ewigen Juden’. Die Ghettoisierung im Mittelalter, als räumliche Absperrung, sowie die Einsperrung der Juden in der Sphäre von Handel und Geld, schaffen für die Christen eine Distanz zu den Juden, obwohl diese ihnen nahe sind. So werden die Juden, noch mehr als Sinti und Roma, zur idealen Projektionsfläche der autoritätsgebundenen Subjekte in der kapitalistischen Gesellschaft. Denn die Assoziation mit der Distributionssphäre haftet den Juden eine in ihnen vermeintlich personalisierte Macht an, die sie zur Projektionsfläche par excellence werden ließ. Die negativen Auswirkungen der komplexer werdenden Mechanismen des Marktes und der Akkumulation von Kapital, die der konkreten Erfahrung entrückt sind, werden von Subjekten, die nur in Dichotomien und Reduktionen denken können, als antisemitische Stereotype festgeschrieben (Vgl. dazu auch Kapitel 4.). Obwohl die christlich motivierten Stereotype heute weitgehend von ihrem religiösen Kontext abgekoppelt sind, besteht eine Virulenz religiös-antijüdischer Elemente zum Beispiel in katholischen Passionsspielen oder im russisch-orthodoxen Glauben.

Jedoch haftet sich der Mechanismus von Stereotypisierung nicht nur an die Juden, auch wenn traditionell vor allem ihnen die Rolle des ‚Sündenbocks’, mit dem ganzen Gehalt des Opfersinnes, der in diesem Wort liegt, zugeschrieben wurde. Antisemitismus beinhaltet die Umsetzung von autoritären Dispositionen und rationalisierten Vorurteilen in konkrete Politik qua Feindbildkonstruktion:

"Die Guten werden als die vorgestellt, denen man selber gleicht, und das Schema erspart einem, als Guter sich erst zu bewähren, denn alles ist ja längst vorentschieden. Die Bösen aber liefern den Schein eines Rechtsgrundes dafür, daß man die eigenen sadistischen Instinkte, im Namen der gebührenden ‚Strafe’, auf die jeweils bezeichneten Opfer loslässt."[86]

Das Gegenteil der Stereotypisierung, die Personalisierung, ergänzt diese in der Sphäre des Politischen. Bleibt der stereopathischen Wahrnehmung die Welt abstrakt und kalt, so ist die Personalisierung der Versuch sich diese quasi heimisch und potentiell beherrschbar zu machen, sei es auch nur im Wahn. Der Versuch, politische Prozesse, gesellschaftliche Friktionen oder ökonomische Prozesse an einzelnen Personen zu materialisieren, erspart "die Anstrengung (sich) der unpersönlichen geistigen Arbeit zu unterziehen, die die Abstraktheit der gesellschaftlichen Prozesse erfordert."[87]

Diese Materialisierung des Abstrakten verschafft ein Phantasma von Macht für die Einzelnen und stellt den pathischen Versuch dar, die eigene soziale Ohnmachtserfahrung auf Kosten der Juden aufzuheben.

  • [79] Rensmann: Kritische Theorie über den Antisemitismus, a.a.O., S. 78.

  • [80] Horkheimer: Autorität und Familie in der Gegenwart. Aus den Vorträgen und Aufzeichnungen in Deutschland, in: Ders.: Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, Frankfurt a. M. (Fischer) 1997 (1960), S. 282.

  • [81] Ebda., S. 282.

  • [82] Adorno: Studien zum Autoritären Charakter, a.a.O., S. 108.

  • [83] So heißt es in einer in Origenes formulierten These über die Juden: "(...) daß die Juden ihre ehemalige Stellung nicht wiedergewinnen werden; denn sie haben das abscheulichste Verbrechen begangen, indem sie jene Verschwörung gegen den Retter des ganzen Menschengeschlechts anzettelten (...), Hermann opusculum de sua conversione, Migne, P.L., CLXX, S. 805ff zit n.: Léon Poliakov: Geschichte des Antisemitismus. Bd. I: Von der Antike bis zu den Kreuzzügen, Worms (Verlag Georg Heintz) 1977, S. 20.

  • [84] Horkheimer / Adorno: Dialektik der Aufklärung, a.a.O., S. 187.

  • [85] Horkheimer / Adorno: Dialektik der Aufklärung, a.a.O., S. 188.

  • [86] Adorno: Vorurteil und Charakter, a.a.O., S.363f.

  • [87] Adorno: Studien zum autoritären Charakter, a.a.O., S. 190.

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18-03-2004


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