3.1. Vom christlichen Antijudaismus zu Stereotypie und pathischer
Projektion
Gerade das stereotypisierende Vorurteil bietet den Autoritären die
Möglichkeit, ihre im unbewussten liegenden Triebwünsche und Aggressionen
abzuwehren und abzuspalten.
"Das Vorurteil erlaubt die Projektionen eigener Wünsche, Schwächen und
verhaßter Selbstanteile auf einen anderen oder eine Gruppe von anderen."
Die eigenen Sehnsüchte nach einem lustvollen und von befreiten Leben werden
unterdrückt und die aus dem Es stammenden Aggressionen werden auf die
Außenwelt projiziert. Das dem stereotypen Denken zugrunde liegende, Prinzip
von Dichotomie und die Ablehnung dessen, was als ‚anders’ eingeschätzt wird,
liegt bereits in der "strenge(n) Zweiteilung zwischen Männlichkeit und
Weiblichkeit",
sowie in dem "Tabu über jedem psychologischen Übergang von jener zu dieser."
Die Starrheit der Stereotype ist nur Ausdruck der Starrheit des Charakters.
Stereotypes Denken ersetzt die Erfahrung und den Erkenntnisprozess, da
dieser die Gefahr birgt sich der eigenen seelischen Deformation bewusst zu
werden. Das zwanghafte in der Stereotypisierung macht sie zur Stereopathie.
In deren Schemata werden die Objekte der Projektion hypostasierend
eingepresst. Während die Existenz des autoritären Charakters an keinerlei
weltanschauliche Ausprägung gebunden ist, muss das Projektionsobjekt
bestimmte Bedingungen erfüllen, um seiner Funktion als ‚Sündenbock’ gerecht
zu werden:
"Es muß greifbar genug, aber auch nicht zu greifbar sein, damit die
eigene Wirklichkeit es nicht zunichte macht. Es muß historisch fundiert sein
und als unbestreitbares Element der Tradition erscheinen. Es muß in starren
wohlbekannten Stereotypen definiert sein, und schließlich muß es Merkmale
besitzen oder zumindest im Sinne von Merkmalen wahrgenommen und verstanden
werden können, die den destruktiven Tendenzen der Vorurteilsvollen
entgegenkommen."
Im Kontext europäischer Zivilisation erfüllen die Juden, bzw. die
Zuschreibungen, die über sie bestehen, genau diese notwendigen Bedingungen
für die pathische Projektion.
Durch die Ausgrenzung und immer wiederkehrende Vertreibungen seitens der
Christen in allen europäischen Ländern ist der Antijudaismus zur Zeit der
Aufklärung bereits tief in den Gesellschaften verankert gewesen. Die
Festschreibung der Juden als ‚Gottesmörder’ seit dem 3. Jahrhundert
christlicher Zeitrechnung hat eine antijüdische Tradition im Christentum
begründet, die mehr beinhaltet als nur eine Glaubenskonkurrenz. So steht das
Judentum in vorchristlicher Zeit noch für die Einheit von Selbsterhaltung
und geistig-magischem, einer Einheit, die noch stärker dem Naturhaften
verpflichtet ist. Durch die Fleischwerdung des Geistes in der Person Jesus
hat das Christentum diese Einheit zerbrochen:
"(D)as Christentum (...) wollte geistlich bleiben, auch wo es nach
Herrschaft trachtete. Es hat die Selbsterhaltung durchs letzte Opfer, das
des Gottmenschen, in der Ideologie gebrochen, eben damit aber das entwertete
Dasein der Profanität überantwortet: das mosaische Gesetz wird abgeschafft,
aber dem Kaiser wie dem Gott je das Seine gegeben. Die weltliche Obrigkeit
wird bestätigt oder usurpiert, das Christliche als das konzessionierte
Heilsressort betrieben. Die Überwindung der Selbsterhaltung durch die
Nachahmung Christi wird verordnet."
Der Antijudaismus ist auch die Verfolgung dessen, was dem
Magisch-naturhaften und dem Versprechen auf hiesiges Glück nahe steht, wo
die Christen, von ihrer Heilserwartung enttäuscht, sich ihren Glauben
einreden müssen. So wird das Judentum, das in seinem Charakter als
Nicht-Identisches beharrt, ohne es zu wollen zum ärgerlichen Symbol für die
christlichen Judenfeinde, als "die Wahrheit, die dem Unheil standhält, ohne
es zu rationalisieren und die Idee der unverdienten Seligkeit gegen Weltlauf
und Heilsordnung festhält."
In den antijüdischen Bildern manifestiert sich der Wandel von der
Glaubenskonkurrenz zum christlichen Antijudaismus: vom angeblichen
Ritualmord über die Behauptung der Brunnenvergiftung bis zum Bild des
Ahasver, des ‚ewigen Juden’. Die Ghettoisierung im Mittelalter, als
räumliche Absperrung, sowie die Einsperrung der Juden in der Sphäre von
Handel und Geld, schaffen für die Christen eine Distanz zu den Juden, obwohl
diese ihnen nahe sind. So werden die Juden, noch mehr als Sinti und Roma,
zur idealen Projektionsfläche der autoritätsgebundenen Subjekte in der
kapitalistischen Gesellschaft. Denn die Assoziation mit der
Distributionssphäre haftet den Juden eine in ihnen vermeintlich
personalisierte Macht an, die sie zur Projektionsfläche par excellence
werden ließ. Die negativen Auswirkungen der komplexer werdenden Mechanismen
des Marktes und der Akkumulation von Kapital, die der konkreten Erfahrung
entrückt sind, werden von Subjekten, die nur in Dichotomien und Reduktionen
denken können, als antisemitische Stereotype festgeschrieben (Vgl. dazu auch
Kapitel 4.). Obwohl die christlich motivierten Stereotype heute weitgehend
von ihrem religiösen Kontext abgekoppelt sind, besteht eine Virulenz
religiös-antijüdischer Elemente zum Beispiel in katholischen Passionsspielen
oder im russisch-orthodoxen Glauben.
Jedoch haftet sich der Mechanismus von Stereotypisierung nicht nur an die
Juden, auch wenn traditionell vor allem ihnen die Rolle des ‚Sündenbocks’,
mit dem ganzen Gehalt des Opfersinnes, der in diesem Wort liegt,
zugeschrieben wurde. Antisemitismus beinhaltet die Umsetzung von autoritären
Dispositionen und rationalisierten Vorurteilen in konkrete Politik qua
Feindbildkonstruktion:
"Die Guten werden als die vorgestellt, denen man selber gleicht, und das
Schema erspart einem, als Guter sich erst zu bewähren, denn alles ist ja
längst vorentschieden. Die Bösen aber liefern den Schein eines Rechtsgrundes
dafür, daß man die eigenen sadistischen Instinkte, im Namen der gebührenden
‚Strafe’, auf die jeweils bezeichneten Opfer loslässt."
Das Gegenteil der Stereotypisierung, die Personalisierung, ergänzt diese in
der Sphäre des Politischen. Bleibt der stereopathischen Wahrnehmung die Welt
abstrakt und kalt, so ist die Personalisierung der Versuch sich diese quasi
heimisch und potentiell beherrschbar zu machen, sei es auch nur im Wahn. Der
Versuch, politische Prozesse, gesellschaftliche Friktionen oder ökonomische
Prozesse an einzelnen Personen zu materialisieren, erspart "die Anstrengung
(sich) der unpersönlichen geistigen Arbeit zu unterziehen, die die
Abstraktheit der gesellschaftlichen Prozesse erfordert."
Diese Materialisierung des Abstrakten verschafft ein Phantasma von Macht für
die Einzelnen und stellt den pathischen Versuch dar, die eigene soziale
Ohnmachtserfahrung auf Kosten der Juden aufzuheben.
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