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Teil IX
Antisemitismus aus kritisch-theoretischer Sicht
Möglichkeiten und Grenzen politischer Bildungsarbeit in einem gesellschaftlichen Problemfeld


Von Ingolf Seidel

3.2. Projektionen des modernen Antisemitismus

Antisemitismus ist nicht bloß notwendig falsches Bewusstsein oder ein Mittel zur Spaltung der Arbeiterklasse, wie es marxistische Orthodoxie und stalinistische Apologeten behauptet haben und auf derlei immer noch insistieren. Friedrich Engels Begriff vom Antisemitismus "als Merkzeichen einer zurückgebliebenen Kultur"[88] fasst nicht das Problem. Auch ist von einem gleichsam ‚ewigen Antisemitismus’ abzusehen, wie es zum Beispiel der Titel einer Veröffentlichung von Christina von Braun und Ludger Heid Der ewige Judenhass[89] suggeriert. Erklärt man solcherart den Antisemitismus zu einer anthropologischen Konstante, dann entzieht er sich jeglicher Erklärung und seine Bekämpfung erübrigt sich. Die sich hieraus ergebende Frage, wie politische Bildungsarbeit gegen eine solche angebliche Konstante überhaupt noch angehen kann, ist evident. Für eine objektive Betrachtung dessen was Bildung gegen Antisemitismus vermag oder eben nicht, müssen neben der psychologischen Betrachtung, die Projektionen des modernen Antisemitismus eingehender betrachtet werden.

Beerbt auch der moderne Antisemitismus den christlich motivierten Antijudaismus (vgl. Kapitel 3.1. und 4.1.), so beinhaltet er zugleich einen Wechsel in der Form, der einem Wechsel in der Herrschaftsform entspricht. In der Moderne, die Universalität postuliert und das Besondere, das Nicht-Identische, verfolgt, sind die Ursachen des Antisemitismus strukturell bereits angelegt. In der kapitalistischen Gesellschaft wird das Versprechen von universaler Freiheit ersetzt in der Durchsetzung des universalen Tauschgesetzes, als "Herrschaft des Allgemeinen über das Besondere, der Gesellschaft über ihre Zwangsmitglieder."[90] Das moderne Subjekt dieser Gesellschaft, ausgerichtet am männlich-patriarchalen Prinzip von Nützlichkeit und Messbarkeit, ist nicht erst dem Terror eines staatlichen Machtapparates erlegen. Die überlebensnotwendige Anpassung des Individuums an die Macht und die Herrschaft des allgemeinen Tauschs haben bereits die Grundlagen der Entstehung menschlicher Subjektivität fundamental verändert. Das bürgerliche Subjekt verlegt die Grundlagen von Herrschaft in sein Inneres. Ein Prozess, der ohne die Entstehung des Protestantismus nicht zu denken ist, welcher die Beherrschung der ‚inneren’ Natur des Menschen schon früh postulierte.

"Rücksichtslos gegen sich selbst hat die Aufklärung noch den letzten Rest ihres eigenen Selbstbewußtseins ausgebrannt."[91]

In derselben Rücksichtslosigkeit geschieht, wie oben gezeigt, die Integration der Einzelnen in diese Welt. Die Einpassung des Menschen an die vorgegebene Ordnung ist ein Akt des Zwangs, der sich bei weitem nicht nur in physisch oder psychisch angedrohten Strafen äußert. Vielmehr wird diese Eingliederung kulturell vermittelt. Die Kritische Theorie stellt die Widersprüchlichkeit des Prozesses der Subjektivierung in der bürgerlichen Gesellschaft fest: Da Herrschaft und Lustverzicht bereits in der frühen Kindheit internalisiert werden, muss die Autonomie des bürgerlichen Subjekts eine brüchige bleiben. Der Prozess der individuellen Zivilisierung vollzieht sich unter Leiden, Schmerzen und Angst. Damit sind bereits die Voraussetzungen zur Aufhebung der Vernunft geschaffen. Die individuelle Verhärtung, in der "das Ich geschmiedet worden"[92] ist, führt potentiell zu einer Blindheit, die "in der Moderne, im besonderen im faschistischen bzw. antisemitischen Zwangskollektiv"[93] ihren Ausdruck findet. Dementsprechend stellt das autoritäre Subjekt eher die Regel bürgerlicher Individuation, denn ihre Ausnahme dar. Am ehesten gefeit sein, gegen eine absolute Verhärtung dürften also diejenigen sein, deren Ich-Entwicklung nicht schon in der Kindheit zusätzlich durch autoritäre und repressive Erziehung beschädigt worden ist und denen die Möglichkeit geboten worden ist vielfältige Erfahrungen zu machen.

Antisemitische Ideologie verdichtet die stereotypen Bilder und greift die Bedürfnisse der Subjekte, welche ohne die Anbindung an Herrschaft und Autorität nicht denkbar sind, auf. Als Ideologie ist Antisemitismus den Menschen nicht Äußerliches, kein falsches Bewusstsein, welches aufzuklären wäre, sie ist "in die psychologische Verfassung der Menschen eingesickert."[94] Gleichzeitig ist der Antisemitismus zu einem System der Welterklärung geworden und in der Vorstellung vom Juden die Projektionsfläche der eigenen Paranoia findet. Wo Herrschaft bereits ein Teil des Charakters ist, bekommen die Juden das Bild des verbannten Wunsches zugeschrieben, unabhängig davon, wie das Objekt der Projektion real beschaffen ist. So tragen die Juden für den Antisemiten das Bild "des Glücks ohne Macht, des Lohns ohne Arbeit, der Heimat ohne Grenzstein, der Religion ohne Mythos. Verpönt sind diese Züge von der Herrschaft, weil die Beherrschten sie insgeheim ersehnen"[95].

Der moderne Antisemitismus erfüllt als Vorurteilsstruktur ergo die psychologischen Bedürfnisse herrschaftlich Subjektivierter und bietet zugleich die Möglichkeit einer personifizierenden Erklärung der kapitalistischen Moderne, inklusive ihrer gesellschaftlichen Zwänge.

Es ist nicht zufällig, dass der Begriff des Antisemitismus, dessen Prägung dem Journalisten Wilhelm Marr zugeschrieben wird, in der Mitte des 18. Jahrhunderts entstanden ist und gleichzeitig eine rassistische Bedeutung bekommen hat, die es den Juden qua Definition der Rasse verunmöglichte, diesen Zuschreibungen zu entkommen. Das Aufziehen des völkisch-rassistischen Antisemitismus stellt die Kehrseite der zeitgleich stattfindenden Emanzipation und Assimilation des Judentums in Europa dar. Hier zeigt sich die Janusgestalt der Aufklärung. Der moderne Antisemitismus benötigt die realen Juden nicht: "Er schafft sie nach seinem Bilde."[96] Und weil das an die Herrschaft gebundene Subjekt nichts anderes projizieren kann, als "das eigene Unglück, von dessen ihm selbst einwohnenden Grund es doch in seiner Reflexionslosigkeit abgeschnitten ist (...) sind die Produkte der falschen Projektion, die stereotypen Schemata des Gedankens und der Realität, solche des Unheils."[97]

Die Aggressionen, aus der Wunschunterdrückung resultierend, der Narzissmus, die Orientierung an der Autorität und der Neid auf alle, die es vielleicht besser haben könnten, errichten die unterschiedlichen, zum Teil widersprüchlichen, antisemitischen Stereotype. Durch die Vereinigung der mannigfachsten Projektionen und widersprüchlicher psychischer Interessen, bleiben die Inhalte des Antisemitismus wandelbar und ohne festgelegte Gestalt, eben amorph.[98] Nur so kann das Bild, welches die Antisemiten sich von den Juden machen, auch die Bedürfnisse der Ich-schwachen Subjekte erfüllen. In der Setzung als ‚Gegenrasse’, als Prinzip des grundsätzlich ‚Anderen’, schlagen die Antisemiten in den Juden projektiv tot, was sie in der Realität nicht kritisieren und anzutasten wagen oder was sie in sich als mögliche Verführung zu einem besseren Leben verspüren. Hieran knüpft das antisemitische Stereotyp des jüdischen ‚Zersetzers’ und Intellektuellen an, als dessen Prototyp den völkischen Antisemiten Heinrich Heine gegolten hat. Was die Antisemiten an den emanzipativen Seiten der Aufklärung zerstören wollen, lasten sie noch dem Juden an, der diese für sie repräsentiert. Die Möglichkeit individueller Emanzipation muss dem antisemitischen Individuum verhasst bleiben, weil es durch sie stets auf das Neue mit dem eigenen Konformismus konfrontiert wird: "in dieser Welt ist kein Platz mehr für Individuen."[99] Der Antisemitismus kann bei den autoritären Charakteren also anknüpfen "an unbewusste Triebregungen, Konflikte, Neigungen, Tendenzen, die er verstärkt und manipuliert, anstatt sie zum Bewußtsein zu erheben und aufzuklären."[100]

Es liegt folglich in der Wahrnehmung der Antisemiten, in ihrer pathischen Projektion begründet, die Juden nicht mehr als menschlich zu sehen. Die Vergleiche der Juden mit Ratten[101] in der nationalsozialistischen Propaganda, wie etwa in dem Film Der ewige Jude,  zeugen davon.

"Mord ist dann der Versuch, den Wahnsinn solcher falschen Wahrnehmung durch größeren Wahnsinn immer wieder in Vernunft zu verstellen: was nicht als Mensch gesehen wurde und doch Mensch ist, wird zum Ding gemacht, damit es durch keine Regung den manischen Blick mehr widerlegen kann."[102]

Im Pogrom rotten die Antisemiten mit den Juden ihre eigenen verdrängten Triebe aus und begehen ihre Morde im aufrichtigen Gefühl der Rechtschaffenheit, jegliches Schuldbewusstsein ist ihnen dabei fremd. Die Mordtat der Antisemiten gilt dem Prinzip der Freiheit, auch wenn sich ihr Ressentiment aus unterdrückten Freiheitswünschen speist. Sie ist kein verschobener Protest gegen die Autorität, sondern deren Anrufung oder wie es Fabian Kettner ausdrückt: "Im Mord wird an jedem Einzelnen, der dieses Verdrängte darstellen soll, bewiesen, dass seine Freiheit keine ist, wird in jedem Fall solche Freiheit ausgelöscht. Die antisemitische Tat ist ein aktives Exterminieren von verdinglichter Freiheit, ist eine Erneuerung von Unterwerfung."[103]

Eines der virulentesten antisemitischen Stereotype ist sicherlich das der angeblichen jüdischen Weltverschwörung. In Form der populären Protokolle der Weisen von Zion findet es auch in der Gegenwart noch Verbreitung[104]. Die eingebildete Allmacht der Juden im Verborgenen bietet die vergegenständlichte Erklärung einer Welt, die man nicht versteht. Was im Mittelalter hinter die Mauern der jüdischen Ghettos an Unheimlichem phantasiert worden ist, bildet dem modernen Individuum der Wahn von der jüdischen Weltverschwörung. Sie findet ihren Widerhall in den Behauptungen, der israelische Geheimdienst sei verstrickt in die Anschläge am 11. September 2001 oder die jüdischen FirmenmitarbeiterInnen im World Trade Center seien vorgewarnt worden und so an diesem Tag nicht zur Arbeit gegangen. Liest man die Veröffentlichungen der Verschwörungstheoretiker, so wird offenbar wie die "Erklärung, in welcher der eigene Wunsch als objektive Macht auftritt"[105] die eigenen Macht- und Herrschaftswünsche an die Oberfläche bringt. Das Stereotyp der jüdischen Allmacht zeigt den infantilen Narzissmus derer, die es verbreiten. Wenige zeigen mehr Neigung zur Verschwörung und Konspiration, als diejenigen, die von der ‚jüdischen Weltverschwörung’ fabulieren. Dabei steht noch der Wahn einer "Verschwörung lüsterner jüdischer Bankiers, die den Bolschewismus finanzieren, (als) (...) Zeichen eingeborener Ohnmacht, das gute Leben als Zeichen von Glück."[106]

Die Verdichtung der pathischen Projektionen des autoritären Charakters zur Paranoia beschreibt Rensmann als wesentlichen Bestandteil antisemitischer Ideologie: "Antisemitismus ist (...) ideologisch rationalisierte Paranoia. Sie entspricht den stereopathisch regredierten Bewusstseinsformen des autoritären Subjekts. Indem Juden allgegenwärtig gesichtet werden, bietet ihr Feindbild zugleich die Erklärung noch des kleinsten, vor allem aber der bedrängensten individuellen, wie sozialen Wünsche und Probleme."[107]

Der moderne Antisemitismus wird so zum radikalen Ausdruck des Autoritarismus[108]. Das Leben besteht den Antisemiten in einer permanenten Furcht vor der Bedrohung dessen, was als das ‚Eigene’ definiert wird. Alles Abweichende wird auf die Juden projiziert, welche die Ordnung und Autorität, jenen Fetisch der Antisemiten, angeblich zerstören wollen. Die solcherart unter permanenter Anspannung und Druck lebenden Einzelnen können nicht einhalten in ihrem Hass und Verfolgungsdrang[109]. Die reine Existenz der Juden ist dem Antisemiten eine fortwährende Provokation: "Es ist, als könne der Antisemit nicht ruhig schlafen, ehe er nicht die ganze Welt zu eben dem paranoiden System umgeformt hat, von dem er besessen ist."[110]

Hier liegt ein Ansatz zur Erklärung des irrationalen Vernichtungsinteresses der Nationalsozialisten, die das Grauen von Auschwitz dennoch nicht funktionalistisch betrachtet. Für eine weitere Annäherung werden eben jene soziale Paranoia in der Projektion und Personalisierung des Abstrakten in den Juden im Zusammenhang mit  den historisch-politischen Bedingungen in Deutschland genauer zu untersuchen sein.

  • [88] Friedrich Engels, zit. n. Claussen: Grenzen der Aufklärung, a.a.O., S. 48

  • [89] Christina von Braun / Ludger Heid: Der ewige Judenhass, Köln (Du Mont) 1993.

  • [90] Adorno: Gesellschaft, in Ders.: Soziologische Schriften I, a.a.O., (1965) S. 14.

  • [91] Vgl. Horkheimer / Adorno: Dialektik der Aufklärung, a.a.O. S. 10.

  • [92] Ebda., S. 190.

  • [93] Rensmann: Kritische Theorie über den Antisemitismus, a.a.O., S. 131.

  • [94] Adorno: Gesellschaft, a.a.O., S. 18.

  • [95] Horkheimer / Adorno: Dialektik der Aufklärung, a.a.O., S. 208f.

  • [96] Horkheimer / Adorno: Dialektik der Aufklärung, a.a.O., S. 200.

  • [97] Ebd., S. 201.

  • [98] Vgl. Rensmann: Kritische Theorie über den Antisemitismus, a.a.O., S. 91.

  • [99] Leo Löwenthal: Falsche Propheten. Studien zur faschistischen Agitation, in: Ders: Schriften 3. Zur politischen Psychologie des Autoritarismus, a.a.O., (1949) S. 96.

  • [100] Adorno: Zur Bekämpfung des Antisemitismus heute, in: Ders: Kritik. Kleine Schriften zur Gesellschaft, Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1971 (1962), S. 112f.

  • [101] Zusätzlich werden im bildhaften Vergleich mit Ratten allerdings noch Assoziationen mit deren Funktion als Krankheitsüberträger, ihrer untergründige Omnipräsenz und ihrer Zählebigkeit mobilisiert.

  • [102] Adorno: Minima Moralia, a.a.O., S. 189.

  • [103] Fabian Kettner: Volksgemeinschaft und Antisemitismus, Velbert (unveröffentlichtes Skript e. Vortrags) 2000, S. 10.

  • [104] Die Protokolle der Weisen von Zion basieren auf einer Fälschung der Ochrana, des zaristischen russischen Geheimdienstes, aus den Jahren 1896/97. Sie phantasieren den angeblichen Plan allmächtiger jüdischer ‚Stammesführer’ zur Beherrschung der Welt. Seit ihrer ersten, auszugsweisen Drucklegung im Jahr 1903, hat dieses Falsifikat weite Verbreitung gefunden. So hat der für seinen paranoiden Antisemitismus bekannte Henry Ford eigens eine Zeitung inklusive Verlag gekauft, um das Pamphlet in englischer Sprache zu verbreiten. Adolf Hitler hat die Protokolle ausführlich im elften Kapitel von Mein Kampf referiert und im Jahr 2002 hat sie das Ägyptische Fernsehen während des muslimischen Fastenmonats Rahmadan als 41-teilige Fortsetzungsserie ausgestrahlt. (Vgl. Jürgen Roth / Kay Sokolowsky: Wer steckt dahinter? Die 99 wichtigsten Verschwörungstheorien, Köln (Kiepenheuer Witsch) 1998, S. 132 – 144).

  • [105] Horkheimer / Adorno: Dialektik der Aufklärung. S. 205.

  • [106] Ebda., S. 181.

  • [107] Rensmann, a.a.O., S. 102. Schreibfehler i.O..

  • [108] Die Quellen eines Antisemitismus nach und wegen Auschwitz, der sich zum Teil ‚subtiler’ äußert und mit dem modernen Antisemitismus verbindet werden in Kapitel 5. gesondert dargestellt.

  • [109] Vgl. ebda., S.102..

  • [110] Adorno: Studien zum autoritären Charakter, a.a.O., S. 143.

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18-03-2004


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