3.2. Projektionen des modernen Antisemitismus
Antisemitismus ist nicht bloß notwendig falsches
Bewusstsein oder ein Mittel zur Spaltung der Arbeiterklasse, wie es
marxistische Orthodoxie und stalinistische Apologeten behauptet haben und
auf derlei immer noch insistieren. Friedrich Engels Begriff vom
Antisemitismus "als Merkzeichen einer zurückgebliebenen Kultur"
fasst nicht das Problem. Auch ist von einem gleichsam ‚ewigen
Antisemitismus’ abzusehen, wie es zum Beispiel der Titel einer
Veröffentlichung von Christina von Braun und Ludger Heid
Der ewige Judenhass
suggeriert. Erklärt man solcherart den Antisemitismus zu einer
anthropologischen Konstante, dann entzieht er sich jeglicher Erklärung und
seine Bekämpfung erübrigt sich. Die sich hieraus ergebende Frage, wie
politische Bildungsarbeit gegen eine solche angebliche Konstante überhaupt
noch angehen kann, ist evident. Für eine objektive Betrachtung dessen was
Bildung gegen Antisemitismus vermag oder eben nicht, müssen neben der
psychologischen Betrachtung, die Projektionen des modernen Antisemitismus
eingehender betrachtet werden.
Beerbt auch der moderne Antisemitismus den christlich
motivierten Antijudaismus (vgl. Kapitel 3.1. und 4.1.), so beinhaltet er
zugleich einen Wechsel in der Form, der einem Wechsel in der Herrschaftsform
entspricht. In der Moderne, die Universalität postuliert und das Besondere,
das Nicht-Identische, verfolgt, sind die Ursachen des Antisemitismus
strukturell bereits angelegt. In der kapitalistischen Gesellschaft wird das
Versprechen von universaler Freiheit ersetzt in der Durchsetzung des
universalen Tauschgesetzes, als "Herrschaft des Allgemeinen über das
Besondere, der Gesellschaft über ihre Zwangsmitglieder."
Das moderne Subjekt dieser Gesellschaft, ausgerichtet am
männlich-patriarchalen Prinzip von Nützlichkeit und Messbarkeit, ist nicht
erst dem Terror eines staatlichen Machtapparates erlegen. Die
überlebensnotwendige Anpassung des Individuums an die Macht und die
Herrschaft des allgemeinen Tauschs haben bereits die Grundlagen der
Entstehung menschlicher Subjektivität fundamental verändert. Das bürgerliche
Subjekt verlegt die Grundlagen von Herrschaft in sein Inneres. Ein Prozess,
der ohne die Entstehung des Protestantismus nicht zu denken ist, welcher die
Beherrschung der ‚inneren’ Natur des Menschen schon früh postulierte.
"Rücksichtslos gegen sich selbst hat die Aufklärung noch den letzten Rest
ihres eigenen Selbstbewußtseins ausgebrannt."
In derselben Rücksichtslosigkeit geschieht, wie oben
gezeigt, die Integration der Einzelnen in diese Welt. Die Einpassung des
Menschen an die vorgegebene Ordnung ist ein Akt des Zwangs, der sich bei
weitem nicht nur in physisch oder psychisch angedrohten Strafen äußert.
Vielmehr wird diese Eingliederung kulturell vermittelt. Die Kritische
Theorie stellt die Widersprüchlichkeit des Prozesses der Subjektivierung in
der bürgerlichen Gesellschaft fest: Da Herrschaft und Lustverzicht bereits
in der frühen Kindheit internalisiert werden, muss die Autonomie des
bürgerlichen Subjekts eine brüchige bleiben. Der Prozess der individuellen
Zivilisierung vollzieht sich unter Leiden, Schmerzen und Angst. Damit sind
bereits die Voraussetzungen zur Aufhebung der Vernunft geschaffen. Die
individuelle Verhärtung, in der "das Ich geschmiedet worden"
ist, führt potentiell zu einer Blindheit, die "in der Moderne, im besonderen
im faschistischen bzw. antisemitischen Zwangskollektiv"
ihren Ausdruck findet. Dementsprechend stellt das autoritäre Subjekt eher
die Regel bürgerlicher Individuation, denn ihre Ausnahme dar. Am ehesten
gefeit sein, gegen eine absolute Verhärtung dürften also diejenigen sein,
deren Ich-Entwicklung nicht schon in der Kindheit zusätzlich durch
autoritäre und repressive Erziehung beschädigt worden ist und denen die
Möglichkeit geboten worden ist vielfältige Erfahrungen zu machen.
Antisemitische Ideologie verdichtet die stereotypen
Bilder und greift die Bedürfnisse der Subjekte, welche ohne die Anbindung an
Herrschaft und Autorität nicht denkbar sind, auf. Als Ideologie ist
Antisemitismus den Menschen nicht Äußerliches, kein falsches Bewusstsein,
welches aufzuklären wäre, sie ist "in die psychologische Verfassung der
Menschen eingesickert."
Gleichzeitig ist der Antisemitismus zu einem System der Welterklärung
geworden und in der Vorstellung vom Juden die Projektionsfläche der eigenen
Paranoia findet. Wo Herrschaft bereits ein Teil des Charakters ist, bekommen
die Juden das Bild des verbannten Wunsches zugeschrieben, unabhängig davon,
wie das Objekt der Projektion real beschaffen ist. So tragen die Juden für
den Antisemiten das Bild "des Glücks ohne Macht, des Lohns ohne Arbeit, der
Heimat ohne Grenzstein, der Religion ohne Mythos. Verpönt sind diese Züge
von der Herrschaft, weil die Beherrschten sie insgeheim ersehnen".
Der moderne Antisemitismus erfüllt als
Vorurteilsstruktur ergo die psychologischen Bedürfnisse herrschaftlich
Subjektivierter und bietet zugleich die Möglichkeit einer personifizierenden
Erklärung der kapitalistischen Moderne, inklusive ihrer gesellschaftlichen
Zwänge.
Es ist nicht zufällig, dass der Begriff des
Antisemitismus, dessen Prägung dem Journalisten Wilhelm Marr zugeschrieben
wird, in der Mitte des 18. Jahrhunderts entstanden ist und gleichzeitig eine
rassistische Bedeutung bekommen hat, die es den Juden qua Definition der
Rasse verunmöglichte, diesen Zuschreibungen zu entkommen. Das Aufziehen des
völkisch-rassistischen Antisemitismus stellt die Kehrseite der zeitgleich
stattfindenden Emanzipation und Assimilation des Judentums in Europa dar.
Hier zeigt sich die Janusgestalt der Aufklärung. Der moderne Antisemitismus
benötigt die realen Juden nicht: "Er schafft sie nach seinem Bilde."
Und weil das an die Herrschaft gebundene Subjekt nichts anderes projizieren
kann, als "das eigene Unglück, von dessen ihm selbst einwohnenden Grund es
doch in seiner Reflexionslosigkeit abgeschnitten ist (...) sind die Produkte
der falschen Projektion, die stereotypen Schemata des Gedankens und der
Realität, solche des Unheils."
Die Aggressionen, aus der Wunschunterdrückung
resultierend, der Narzissmus, die Orientierung an der Autorität und der Neid
auf alle, die es vielleicht besser haben könnten, errichten die
unterschiedlichen, zum Teil widersprüchlichen, antisemitischen Stereotype.
Durch die Vereinigung der mannigfachsten Projektionen und widersprüchlicher
psychischer Interessen, bleiben die Inhalte des Antisemitismus wandelbar und
ohne festgelegte Gestalt, eben amorph.
Nur so kann das Bild, welches die Antisemiten sich von den Juden machen,
auch die Bedürfnisse der Ich-schwachen Subjekte erfüllen. In der Setzung als
‚Gegenrasse’, als Prinzip des grundsätzlich ‚Anderen’, schlagen die
Antisemiten in den Juden projektiv tot, was sie in der Realität nicht
kritisieren und anzutasten wagen oder was sie in sich als mögliche
Verführung zu einem besseren Leben verspüren. Hieran knüpft das
antisemitische Stereotyp des jüdischen ‚Zersetzers’ und Intellektuellen an,
als dessen Prototyp den völkischen Antisemiten Heinrich Heine gegolten hat.
Was die Antisemiten an den emanzipativen Seiten der Aufklärung zerstören
wollen, lasten sie noch dem Juden an, der diese für sie repräsentiert. Die
Möglichkeit individueller Emanzipation muss dem antisemitischen Individuum
verhasst bleiben, weil es durch sie stets auf das Neue mit dem eigenen
Konformismus konfrontiert wird: "in dieser Welt ist kein Platz mehr für
Individuen."
Der Antisemitismus kann bei den autoritären Charakteren also anknüpfen "an
unbewusste Triebregungen, Konflikte, Neigungen, Tendenzen, die er verstärkt
und manipuliert, anstatt sie zum Bewußtsein zu erheben und aufzuklären."
Es liegt folglich in der Wahrnehmung der Antisemiten,
in ihrer pathischen Projektion begründet, die Juden nicht mehr als
menschlich zu sehen. Die Vergleiche der Juden mit Ratten
in der nationalsozialistischen Propaganda, wie etwa in dem Film Der ewige
Jude, zeugen davon.
"Mord ist dann der Versuch, den Wahnsinn solcher falschen Wahrnehmung durch
größeren Wahnsinn immer wieder in Vernunft zu verstellen: was nicht als
Mensch gesehen wurde und doch Mensch ist, wird zum Ding gemacht, damit es
durch keine Regung den manischen Blick mehr widerlegen kann."
Im Pogrom rotten die Antisemiten mit den Juden ihre
eigenen verdrängten Triebe aus und begehen ihre Morde im aufrichtigen Gefühl
der Rechtschaffenheit, jegliches Schuldbewusstsein ist ihnen dabei fremd.
Die Mordtat der Antisemiten gilt dem Prinzip der Freiheit, auch wenn sich
ihr Ressentiment aus unterdrückten Freiheitswünschen speist. Sie ist kein
verschobener Protest gegen die Autorität, sondern deren Anrufung oder wie es
Fabian Kettner ausdrückt: "Im Mord wird an jedem Einzelnen, der dieses
Verdrängte darstellen soll, bewiesen, dass seine Freiheit keine ist, wird in
jedem Fall solche Freiheit ausgelöscht. Die antisemitische Tat ist ein
aktives Exterminieren von verdinglichter Freiheit, ist eine Erneuerung von
Unterwerfung."
Eines der virulentesten antisemitischen Stereotype
ist sicherlich das der angeblichen jüdischen Weltverschwörung. In Form der
populären Protokolle der Weisen von Zion
findet es auch in der Gegenwart noch Verbreitung.
Die eingebildete Allmacht der Juden im Verborgenen bietet die
vergegenständlichte Erklärung einer Welt, die man nicht versteht. Was im
Mittelalter hinter die Mauern der jüdischen Ghettos an Unheimlichem
phantasiert worden ist, bildet dem modernen Individuum der Wahn von der
jüdischen Weltverschwörung. Sie findet ihren Widerhall in den Behauptungen,
der israelische Geheimdienst sei verstrickt in die Anschläge am 11.
September 2001 oder die jüdischen FirmenmitarbeiterInnen im World Trade
Center seien vorgewarnt worden und so an diesem Tag nicht zur Arbeit
gegangen. Liest man die Veröffentlichungen der Verschwörungstheoretiker, so
wird offenbar wie die "Erklärung, in welcher der eigene Wunsch als objektive
Macht auftritt"
die eigenen Macht- und Herrschaftswünsche an die Oberfläche bringt. Das
Stereotyp der jüdischen Allmacht zeigt den infantilen Narzissmus derer, die
es verbreiten. Wenige zeigen mehr Neigung zur Verschwörung und Konspiration,
als diejenigen, die von der ‚jüdischen Weltverschwörung’ fabulieren. Dabei
steht noch der Wahn einer "Verschwörung lüsterner jüdischer Bankiers, die
den Bolschewismus finanzieren, (als) (...) Zeichen eingeborener Ohnmacht,
das gute Leben als Zeichen von Glück."
Die Verdichtung der pathischen Projektionen des
autoritären Charakters zur Paranoia beschreibt Rensmann als wesentlichen
Bestandteil antisemitischer Ideologie: "Antisemitismus ist (...) ideologisch
rationalisierte Paranoia. Sie entspricht den stereopathisch regredierten
Bewusstseinsformen des autoritären Subjekts. Indem Juden allgegenwärtig
gesichtet werden, bietet ihr Feindbild zugleich die Erklärung noch des
kleinsten, vor allem aber der bedrängensten individuellen, wie sozialen
Wünsche und Probleme."
Der moderne Antisemitismus wird so zum radikalen
Ausdruck des Autoritarismus.
Das Leben besteht den Antisemiten in einer permanenten Furcht vor der
Bedrohung dessen, was als das ‚Eigene’ definiert wird. Alles Abweichende
wird auf die Juden projiziert, welche die Ordnung und Autorität, jenen
Fetisch der Antisemiten, angeblich zerstören wollen. Die solcherart unter
permanenter Anspannung und Druck lebenden Einzelnen können nicht einhalten
in ihrem Hass und Verfolgungsdrang.
Die reine Existenz der Juden ist dem Antisemiten eine fortwährende
Provokation: "Es ist, als könne der Antisemit nicht ruhig schlafen, ehe er
nicht die ganze Welt zu eben dem paranoiden System umgeformt hat, von dem er
besessen ist."
Hier liegt ein Ansatz zur Erklärung des irrationalen
Vernichtungsinteresses der Nationalsozialisten, die das Grauen von Auschwitz
dennoch nicht funktionalistisch betrachtet. Für eine weitere Annäherung
werden eben jene soziale Paranoia in der Projektion und Personalisierung des
Abstrakten in den Juden im Zusammenhang mit den historisch-politischen
Bedingungen in Deutschland genauer zu untersuchen sein.
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