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Teil VI
Antisemitismus aus kritisch-theoretischer Sicht
Möglichkeiten und Grenzen politischer Bildungsarbeit in einem gesellschaftlichen Problemfeld


Von Ingolf Seidel

2.2.2. Der Typus des Manipulativ-Autoritären

Der manipulative Charakter erscheint bei Adorno als gefährlichste Form autoritätsgebundener Subjektivierung. Als seine Repräsentanten gelten der Kritischen Theorie Nationalsozialisten wie Himmler, Höss oder Eichmann, aber auch Typen von Managern, Geschäftsleuten oder Technokraten. Bei ihnen besteht ein besonders stark ausgeprägter Hang zur Stereotypie.

Diese Menschen sind gekennzeichnet durch eine regelrechte Organisationswut und das Unvermögen, direkte menschliche Erfahrungen zu machen, sowie durch fast völligen Mangel an Emotionen. Manipulative zeichnen sich durch einen zwanghaften Überrealismus aus, "der alles und jeden als Objekt betrachtet, das gehandhabt, manipuliert und nach eigenen theoretischen und praktischen Schablonen erfasst werden muß."[70]

Der Inhalt ihres Handelns hat weitgehende Beliebigkeit, primär ist, das "etwas getan" wird. Dieser Charakterzug macht sie zu den idealen Bürokraten und Organisatoren, sie sind diejenigen, die Abschiebungen organisieren oder, wenn gefordert, Gaskammern bauen. Dabei besteht bei den Manipulativen nicht zwangsläufig ein Hass gegenüber dem Objekt, aber auch kein Mitleid. Schuld oder Gewissensbisse empfinden sie nur, wenn sie ihrer sozialen Funktion nicht gerecht werden.

Aus den Prozessberichten von Hannah Arendt wird deutlich, dass Adolf Eichmann in erster Linie ein gut funktionierender Bürokrat war, der selten auf eigene Initiative handelte.

"»Persönlich« hatte er nie das geringste gegen die Juden gehabt; im Gegenteil, er besaß gute »private Gründe«, kein Judenhasser zu sein."[71]

So ist Eichmann auch kein Radau-Antisemit gewesen und noch nicht einmal aus Überzeugung in die NSDAP eingetreten[72]. Es zeichnet die manipulativ-autoritätsgebundenen Charaktere aus, dass ihre "nüchterne Intelligenz und die fast komplette Absenz von Affekten"[73] sie zu gnadenlosen Administratoren werden lässt. Dabei ist ihnen Legalität ein oberstes Gebot. Eichmanns Stereotypie hat sich im Prozess gegen ihn im klischee- und schablonenhaften Reden manifestiert. In der verdinglichten Wahrnehmung von den Juden fordert deren Individualität die Stereotypie der Manipulativen heraus. Sie unterscheiden sich vom typischen Autoritären durch "das Nebeneinander von extremem Narzißmus und einer gewissen Oberflächlichkeit und Hohlheit."[74] Zur Kompensation seiner Affektlosigkeit identifiziert sich der manipulative Typ total mit der Eigengruppe, zu welcher er gehört. An sie liefert er sich mit allen Konsequenzen völlig aus, bereit seine Individualität dem Wohl des Ganzen zu opfern[75].

Für den Nationalsozialismus ist der Manipulative, zur Organisierung der industriellen Vernichtung, unabdingbar gewesen. Hier haben sich staatliches und individuelles ideologisches Interesse zusammen in der Volksgemeinschaft manifestiert. Oder wie es Leo Löwenthal ausdrückte:

"Wenn in dem Idealverhältnis, in dem subjektive und objektive rationale Autorität zur Deckung kommen, die Autorität gleichsam ein Moment der Vernunft wird, dann ist in der bestehenden Gesellschaft umgekehrt die Vernunft in Gefahr, beständig sich in Autorität aufzulösen."[76]

Die immense Ausdehnung der Bürokratie in allen Bereichen der Gesellschaft, die kritische Theorie spricht von einer verwalteten Welt, bietet den Manipulativen nicht nur ein Tätigkeitsfeld, dass ihrer Charakterstruktur entspricht. Zugleich forcieren die Verwaltungsakte und bürokratischen Tätigkeiten geradezu eine psychische Anpassung; sie erfordern Affektlosigkeit und Oberflächlichkeit, wenn der Apparat reibungslos funktionieren soll. Denkt man nur an den Bereich von Asylrecht und den davon tangierten Behörden, so wird vorstellbar welch großes Maß an Kälte und Unmenschlichkeit bei den Beamten oder Verwaltungsangestellten erforderlich ist, um Verwaltungsakte in Form von Abschiebungen zu vollziehen, die für die davon Betroffenen Hunger, Tod oder Folter zur Folge haben können. Der Sadismus autoritär Subjektivierter kommt ‚nur’ vereinzelt zum Durchbruch. Unter dem Aspekt der Standortsicherung und Kapitalverwertung oder der Abschottung der Grenzen gegenüber Flüchtlingen sind Handlungen manipulativ-autoritärer Charaktere heute noch funktional. Menschen, die individuell verrückt werden verhalten sich "alles andere als systemkonform (...) – das Individuum wird darum für gewöhnlich isoliert und "behandelt", um Störungen des Betriebs zu vermeiden. Demgegenüber bewahren

"die antisemitisch Wahnsinnigen und rassistisch Paranoiden überhaupt keine Würde (...), weil sie in ihrem Inneren vollkommen integriert und integrierend, (...) mit Staat und Kapital identisch geworden sind – und in entsprechenden Situationen zum gesellschaftlichen Leitbild werden."[77]

Die beschädigte Form moderner Subjektivität ist dem allgemeinen, kapitalistischen Tauschverhältnis geschuldet, welches die menschlichen Beziehungen vollkommen durchdringt und gestörte Subjektivierung produziert. Je mehr die Vergesellschaftung des Individuums zunimmt, desto stärker hat es sich in vorgegebene Funktionen einzupassen. Individualität, deren Prinzip schon immer ein Widersprüchliches gewesen ist, gerinnt so vollends zu dem was Marx und die Kritische Theorie als Charaktermaske ihrer Träger bezeichnet. Letztendlich wird das Individuum selbst zur Funktion. Das Ideal spätkapitalistischer Individualität, gründet in Regression oder Absenz des Ich. Es findet seinen Ausdruck in einer Ersatzindividualität, für welche die Identifikation mit Kleidungsmarken wie Carhart und Nike, Hugo Boss oder Bennetton ein Ausdruck ist. Ein Substitut des Gewissens bieten Greenpeace, Aktionen zum Umweltschutz gesponsert von Radeberger und die Bild Zeitung. Dem monadisierten Selbst werden Anpassung, Lifestyle und Glück als Ideologie serviert, statt das es Bewusstsein entwickelt. So bleibt das Gegebene das Unvergängliche.

"Es gehört zum Mechanismus der Herrschaft, die Erkenntnis des Leidens, das sie produziert, zu verbieten, und ein gerader Weg führt zur Errichtung von Menschenschlachthäusern so weit hinten in Polen, daß jeder der eigenen Volksgenossen sich einreden kann, er höre die Schmerzensschreie nicht. Das ist das Schema der ungestörten Genussfähigkeit."[78]

Dieses Schema wirkt bis heute ungebrochen fort, es scheint sich unter dem Einfluss der Kulturindustrie auszudehnen.

  • [70] Adorno: Studien zum autoritären Charakter, a.a.O., S. 334.

  • [71] Hannah Arendt: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München (Piper) 2003 (1964), S. 99.

  • [72] Vgl. ebda., S. 107.

  • [73] Adorno: Studien zum autoritären Charakter, a.a.O., S. 335.

  • [74] Ebda. S. 336.

  • [75] Vgl. ebda, S. 339.

  • [76] Leo Löwenthal: Autorität in der bürgerlichen Gesellschaft. Ein Entwurf, in: Ders.: Schriften 3. Zur politischen Psychologie des Autoritarismus, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1982 (1934), S. 269.

  • [77] Gerhard Scheit: Die Meister der Krise. Über den Zusammenhang von Vernichtung und Volkswohlstand, Freiburg (ça ira) 2001, S. 75.

  • [78] Adorno: Minima Moralia, a.a.O., S. 106.

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hagalil.com
18-03-2004


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