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Ein SPIEGEL-ARCHIV-Dokument

Hinrichtung der Seele:
Die Mütze oder Der Preis des Lebens

Mit seiner hemmungslosen KZ-Beichte schockiert der jüdische Autor Roman Frister die Israelis - weil sie die dunkle Seite der Opfer aufdeckt.

Telefonisch meldete sich bei dem Schriftsteller Roman Frister in Tel Aviv ein Leser aus Deutschland: Ihn lasse das Buch nicht los, deswegen habe er es jetzt zum zweitenmal verschlungen. "Um Gottes willen", antwortete Frister spontan, "warum haben Sie sich das zugemutet?"

Er hat recht, sein Buch "Die Mütze oder Der Preis des Lebens", in Deutschland ein Bestseller, ist eine Zumutung für jedes zivilisierte Empfinden, ein erbarmungsloses Stück Dokumentation, nicht nur wegen der detailreichen Auschwitz-Geschichten - da kennt der sachkundige Leser schon vieles*. Erschreckend an diesem Blick ins Grauen ist vor allem die ungewohnte Perspektive: Der Jude Frister schreibt über die Schuld der Nazi-Opfer.

Das fällt, verständlicherweise, in der neuen Heimat der Opfer nicht immer leicht. Im lesewütigen Israel hat Frister vom hebräischen Original unter dem Titel "Selbstporträt mit Narbe" nur 4100 Exemplare verkauft, seit es 1993 auf den Markt kam. Dabei hält nicht nur der israelische Verleger Ohad Smora Fristers grausige Erinnerungen für "eines der wichtigsten Holocaust-Bücher der vergangenen zehn Jahre".

"Unsere Leute wollen das nicht wissen", klagt Smora, erste Rezensionen in Zeitungen hätten bei den Israelis "einen inneren Widerstand gegen das Buch" hochkommen lassen.

Frister weiß, warum. "Die Alten wollen meine Misere nicht als Lektüre mit ins Bett nehmen, und für die Jungen paßt ein schwacher Großvater, der den Nazis nicht heldenmütig entgegentrat, nicht ins Weltbild."

Das Buch ist autobiographisch, sein Untertitel lautet "Ein Lebensbericht", und Frister legt darin zum wachsenden Entsetzen des Lesers die Bilanz seiner eigenen Untaten vor. Er erzählt Geschichten, die ihn als Verräter, Betrüger und Erpresser erscheinen lassen. Er entlarvt sich sogar, beklemmender Höhepunkt der Selbstbezichtigung, als scheinbar skrupelloser Mittäter: Wohlkalkuliert schickt Frister einen jüdischen Mithäftling in den sicheren Tod, um das eigene Leben zu retten.

Ein homosexueller Häftling, ein Jude aus Budapest, hatte den halbwüchsigen Frister nachts in einer Baracke des Lagers "Eintrachthütte" vergewaltigt und danach seine Häftlingsmütze mitgenommen. So wollte sich der Täter seines Opfers entledigen; denn wer beim Morgenappell im Lager ohne Mütze antrat, wurde von der SS an Ort und Stelle erschossen. Frister durchkreuzte den perfiden Plan, indem er seinerseits einem Mitgefangenen die Mütze stahl.

Die Exekution am nächsten Morgen mochte Frister weder sehen noch fühlen: "Ich blickte mich nicht um. Ich wollte nicht wissen, wer erschossen worden war." Doch ihn befiel ein Hochgefühl: "Ich war froh zu leben."

Warum wagt ein Jude, der mit 75 Jahren in Israel als Leiter einer Journalistenschule lebt, rund 50 Jahre nach dem Ende des Nazi-Terrors solche Selbstentblößungen? Er mußte doch ahnen, was ihm danach widerfuhr: Ein Bekannter aus Tel Aviv beschied ihm nach der Lektüre, er wolle ihn nie wiedersehen. Sein Vater sei aus Auschwitz nicht zurückgekommen: "Vielleicht war er es, der deinetwegen starb."

Warum die furchtbaren Geständnisse - das Buch ist voll davon -, warum fügt Frister dem Wissen von der Schuld der Nazis nun noch Neues über (durchweg nachvollziehbare) Missetaten ihrer Opfer hinzu? "Ich will die Wahrheit erzählen", sagt Frister, "die ganze Wahrheit, alles andere hat doch keinen Sinn." Die meisten Berichte über den Völkermord hätten das physische Leiden geschildert, so Frister, "ich wollte etwas über das Töten der Seele schreiben, das ist kein geringeres Verbrechen".

Das Buch endet nicht 1945, als die Deutschen geschlagen waren, denn damit war das Schreckliche für Frister keinesfalls vorbei. Er zieht die Lebenslinie bis in die Gegenwart: Auf dem Wege des Schreibens wollte er herausfinden, "was denn gesiegt hat in meinem Leben: die gutbürgerliche Erziehung durch meine Eltern oder das Wolfsgesetz aus den Nazilagern".

Frister, Jahrgang 1928, wuchs als Sohn eines Rechtsanwalts im schlesischen Bielitz auf, wo die polnische und die deutsche Kultur aufeinandertrafen. Das behütete Idyll mit Rosenthal-Porzellanballerinen hinter Glas und einem Büfett aus Mahagoni im Wohnzimmer hätte das junge Talent aus gutbürgerlichem Haus wohl geradewegs in ein englisches Eliteinternat geführt, wären die Nazis nicht dazwischengefahren.

Die Herrschaft der Wehrmacht über seine Heimat trieb den Knaben Frister bald in bizarre Situationen. Um seine jüdische Identität zu verschleiern, schlüpfte er in eine Hitlerjugend-Uniform. Er hatte sie von einer frustrierten deutschen Offiziersgattin geschenkt bekommen, die ihm zum Genuß von reichlich Likör laszive Geständnisse machte. Er war erst 13, als er erstmals in einen Abgrund von Verrat und enthemmter Amoralität blicken mußte: Der Vater seines Vetters Mischka, ein Jude, lieferte Flüchtlinge aus dem Ghetto an die Polizei aus, um sich zu bereichern - und zum Schluß gar seine eigene Frau, um sich seiner Mätresse zuwenden zu können.

Bald stellt der Junge seltsame Empfindungen an sich fest: Er schleicht, noch frei, um das Ghetto von Krakau, angefüllt mit dem "heimlichen Bedürfnis nach der krankhaften Genugtuung, mich beim Anblick dieses Ortes frei zu fühlen, während Zehntausende meines Volkes leidend dem Schicksal entgegengingen, das die Nazis für sie bestimmt hatten".

Doch mit der Freiheit war es bald vorbei, damals war "der ausgestreckte Zeigefinger des Denunzianten gefährlicher als jede herkömmliche Waffe". Ein Glaubensbruder verrät Frister - sein beschnittenes Glied liefert der Polizei den Beweis, und anschließend führt der 13jährige die Gestapo in die Wohnung, in der sich seine Eltern versteckten. Diese Tat, schrecklich und zugleich unvermeidbar, bringt Frister den ersten tiefen Riß in seiner Seele bei.

"Das Gemüt war erfroren", stellte Frister wenig später fest, "es hatte aufgehört, aufregende Ereignisse aufzunehmen. Irgend etwas stimmte mit dem chemischen Stoffwechsel nicht mehr", der normalerweise für Haß, Wut und Trauer sorgt. Sein Herz hatte sich "mit einer dicken Schicht Gefühllosigkeit umgeben".

Welche Maßstäbe vorher auch gegolten haben mochten - die Angst vor den tödlichen Nachstellungen der Nazis trieb ihn zu einem neuen Glauben: "Ich begann, den Gott des Überlebens anzubeten."

Nicht nur Frister verrohte, er beobachtete ringsum moralischen Verfall. Die grausame Realität in den Lagern tötete nicht nur die guten Reflexe, sie setzte alle niederen Instinkte bei den Gefangenen frei: "Wer nicht brutal auf die Welt gekommen war, der wurde es hier, gleichsam als eine Art Lebensversicherung."

Unter seinen jüdischen Mitgefangenen entdeckte er auch solche mit "einer teuflischen Seele", die wie "Raubtiere" übereinander herfielen "in diesem Dschungel, in dem Menschen zueinander wie Wölfe waren". Dem Überleben in der Hölle war alles andere unterworfen.

Frister kam mit seinem Vater ins Zwangsarbeitslager Starachowice. Als der Vater an Typhus B und Tuberkulose starb, galt die größte Sorge des Sohnes dem versteckten halben Laib Brot unter dem Leichnam. Mitleid konnte er schon damals nicht mehr empfinden, auch nicht mit sich selbst. Er folgte lieber "dem kleinen Dämon, der immer schlafend in mir weilte" und sich bemerkbar machte, wenn aus einer "Sache ein Vorteil zu schlagen war".

So hatte Frister die Wolldecke seines Vaters, als der noch am Leben war, gegen Runkelrübenmarmelade eingetauscht, so kam es zum Mützenklau, so sah er am Ende hilflos zu, wie Mitgefangene anfingen, ihre Leidensgenossen aufzuessen.

Das Buch paßt nicht in die lange Reihe von Auschwitz-Literatur, welche die Erinnerungsindustrie mittlerweile vorrätig hält - oft zur Erbauung der "betroffenen" Leser. Dazu fehlt ihm das weihevolle Pathos des Leidens. Es fehlt die klare Trennungslinie zwischen Gut und Böse. Keine verbindliche moralische Ordnung grenzt dieses Chaos ein. Die gequälte Kreatur wird zum Täter, der Märtyrer zum Monster.

Frister entzaubert den Leidensmythos und lenkt den Blick auf unbelichtete Seiten des Nazi-Dramas, auf die komplexe Beziehung zwischen Opfern und Tätern, die Dynamik charakterlicher Verwerfungen unter unmenschlichen Bedingungen.

"Was nützen Heldenmut und endlose Opferbereitschaft, wenn sie zu nichts führen", fragt er seine Leser, "was hilft ein reines Gewissen, wenn man tot ist?" Mit scheinbarer Nüchternheit und der emotionalen Distanz eines professionellen Journalisten führt Frister den KZ-Staat als gigantischen Laborversuch vor: die zynische Marter durch die Nazis als Prüfstein für die Moral der Opfer.

Ganz ähnlich hat sich auch schon der Ungar Imre Kertész in seinem "Roman eines Schicksallosen" dem Sujet genähert. Kertész, fernab jeden Versuchs, eine Moral des Grauens herauszuarbeiten, entblößt sich ebenfalls selbst, entdeckt im Opfer den Täter und spürt der Interaktion des Terrors in einer totalitären Gesellschaft nach.

Schon glauben manche, einen "neuen Trend der Auschwitz-Literatur" zu erkennen, doch so neu ist das unverstellte Hinschauen auf die ganze Realität nicht.

Benedikt Kautsky berichtete, wie die Anerziehung der Hinterlist auch den Friedfertigsten unter den Häftlingen zwang, sich durch Aggression zu behaupten. André Lettich schilderte das Verlangen deutscher Juden nach einer bevorzugten Behandlung gegenüber Nichtdeutschen - beim Warten auf die Gaskammer.

Früh hatte Rudolf Küstermeier beschrieben, wie tief Menschen unter Horrorbedingungen sinken können: "Es scheint, daß es einen gewissen Punkt der Erniedrigung gibt, der nicht ohne den Verlust jeglicher Selbstachtung und Moral überschritten werden kann". Küstermeier, der als Sozialist im KZ Bergen-Belsen saß und später Büroleiter der Deutschen Presse-Agentur in Tel Aviv wurde: "Die Entwicklung beginnt langsam, schreitet aber schnell fort, bis man plötzlich den Mann nicht mehr wiedererkennt, den man als gewinnend, intelligent und gebildet gekannt hat und der nun unmenschlich geworden ist."

Fristers Buch fand in Deutschland bislang fast 50 000 Käufer, seit Monaten steht es auf der Spiegel-Bestsellerliste. Auf einer Lesereise, die ihn im Frühjahr durch neun deutsche Städte geführt hat, suchte Frister bang auch nach Anzeichen dafür, ob das dramatische Outing des schuldig gewordenen Nazi-Opfers womöglich das falsche Publikum findet. Einen Brief von einem Nazi hat er sich aufgehoben: Er solle nun gefälligst bekennen, forderte der infame Absender, daß die SS nicht jeden Juden hätte umbringen wollen. Frister selbst sei das beste Beispiel dafür: Der SS-Mann, der seine Mutter mit dem Pistolenknauf erschlug, habe ihn, den Sohn, am Leben gelassen. Antwort gefälligst in deutsch, das habe er ja im KZ gelernt.

Doch beim anscheinend überwiegend jungen Publikum habe er "nichts als blanke Neugier" vorgefunden, berichtet Frister erleichtert. Seine Leser, "an der ungeschminkten Wahrheit interessiert", suchten offenbar nach einem kompletten Bild, das über die einschlägige Betroffenheitsliteratur hinausreicht.

Man muß schon die volle Wahrheit wissen wollen, um den Blick auf das ganze Ausmaß des Schreckens ertragen zu können. Auch in Israel neigen Überlebende dazu, den Schmerz der Wahrheit zu verdrängen, um den Heroismus rein zu halten. Die Israelis taten sich schwer, den Völkermord der Nazis offiziell zum geschichtlichen Erbe des Judenstaates zu erklären. Die Einrichtung der Gedenkstätte Jad Waschem in Jerusalem war nur möglich, weil dort nicht nur der Opfer, sondern auch der Helden des Widerstands gedacht wird. Die Beschränkung auf die Rolle willenloser Lämmer, die zur Schlachtbank geführt wurden, schien unerträglich.

Für die meisten Israelis muß Fristers Buch deshalb skandalös wirken. Er erinnert sich noch gut daran, daß viele der frühzeitig nach Palästina ausgewanderten Juden, die gerade dabei waren, ihren neuen Staat aufzubauen, die Überlebenden des Hitler-Terrors nicht eben gern ins Heilige Land kommen sahen.

Die Überlebenden der Schoah waren auch deshalb nicht immer willkommen, weil "die Juden in Palästina von der fixen Idee besessen waren, daß nur die ,schlechtesten Elemente des jüdischen Volkes' im Lager überleben konnten, also jene, die anderen das Brot gestohlen hatten und anderes mehr", so der Jerusalemer Historiker Tom Segev, "die Guten dagegen seien alle ermordet worden".

Roman Frister kennt den Vorhalt nur zu gut. "Und jetzt komme ich daher und erzähle ihnen auch noch, daß das stimmt."

Jürgen Hogrefe

Roman Frister: "Die Mütze oder Der Preis des Lebens". Aus dem Hebräischen von Eva und Georges Basnizki. btb 1998, Euro 12,50


DER SPIEGEL 28/1997 - Vervielfältigung nur mit Genehmigung des SPIEGEL-Verlags

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