
|

Avi Primor
»...mit
Ausnahme Deutschlands«
Als Botschafter Israels in Bonn
|
VII.Teil
Wer Wind sät
Schon kurz nach meiner Ankunft in Deutschland habe ich verstanden, daß die
Vergangenheit mich erheblich mehr beschäftigen wird, als ich es mir
ursprünglich vorgestellt habe.
Ich habe Filme gesehen, Unterlagen studiert,
Zeugen gehört und alles mögliche über den Holocaust gelesen. Und doch
übersteigt die Realität, die mich erwartet, in den allermeisten Fällen mein
Fassungsvermögen. Sie drängt sämtliche Bilder und Berichte von Nazi-Greueln
zurück, die sich mir bisher einprägten. Wenn es tatsächlich eine Hölle gibt,
dann tut sich ihre monströse Tiefe in Begebenheiten auf, mit denen ich
direkt, doch ohne es eigentlich zu wollen, immer wieder in Berührung komme.
Anfang 1995 erreichte mich eine seltsame
Einladung. Der Absender, Günther Schwarberg, war mir unbekannt. Er schickte
mir Unterlagen und bat mich zur Teilnahme an einer Straßentaufe: Jede der
zwanzig Straßen in einem Hamburger Neubauviertel sollte nach einem
ermordeten Kind benannt werden. Die Papiere erklärten den Hintergrund jenes
furchtbaren Ereignisses um die »Kinder vom Bullenhuser Damm«. Es handelte
sich um verschleppte jüdische Kinder im Alter zwischen fünf und zwölf
Jahren, zwanzig an der Zahl. Ein SS-Arzt benutzte sie als lebende
medizinische Versuchsobjekte, indem er ihnen aktive Tuberkelbazillen
injizierte. Kurz vor Kriegsende, am Geburtstag des »Führers«, wurden alle
Kinder erhängt. Da ihre Körper zu klein und zu ausgezehrt waren, als daß die
Qual am Galgen schnell hätte enden können, beschleunigten SS-Männer mit der
Schwere ihres eigenen Gewichts das Sterben: Sie hielten, bis die Schlinge
sich zuzog, ihre kleinen Opfer im Klammergriff.
Ich konnte, als ich auf diese Weise von der
Geschichte erfuhr, nicht vermeiden, an meinen fünfjährigen Sohn zu denken.
Doch das unfaßliche Verbrechen beendete nicht nur das Leben von zwanzig
Kindern: Mit ihnen starben, zehn Tage vor der Eroberung Hamburgs durch die
Alliierten, auch ihre Zwangsbetreuer, zwei niederländische Krankenpfleger
und zwei französische Mediziner. Auch vierundzwanzig sowjetische Gefangene
wurden umgebracht.
Wieder fragte ich mich: In was für einem Land
lebe ich eigentlich, was soll, was will ich hier? Deutschland kam mir wie
ein Ungeheuer vor. Ich las, daß sich der SS-Obersturmbannführer, der in
Hamburg den Tötungsbefehl gegeben hat, rund zwanzig Jahre lang der
Bestrafung entziehen konnte. Das endlich verkündete Urteil – auch wegen
Grausamkeiten, die er in Konzentrationslagern begangen hatte – sah eine
lebenslängliche Haftstrafe vor, die man später auf sechs Jahre herabsetzte.
Die Entschädigung für die über dieses Strafmaß hinausgehende Haft betrug
121500 Mark.
Andererseits waren es Deutsche, Hamburger
Bürger, welche die Erinnerung an die Toten wachhielten, auch an den Schmerz
ihrer Familien, von denen viele jahrzehntelang nicht wußten, was mit den
Verschollenen geschehen war. Daß die Nazis sie ermordet hatten, bezweifelte
nach dem Krieg kaum jemand mehr. Nur Art, Zeit und Ort ihres Todes blieben
so lange unbekannt, bis sich Menschen fanden, die das Verbrechen genau
aufklärten und in aller Welt die Angehörigen ausfindig machten, um ihnen
letzte Gewißheit über den grauenvollen Mord und darüber zu verschaffen, was
nach dem Krieg mit den Tätern geschehen war.
Ich nahm die Einladung nach Hamburg an. So
stand ich dort eines Morgens inmitten einer großen Menschenmenge, die der
Ermordeten gedachte. Regen weichte den Boden auf, die Straßen, von denen
jede den Namen eines der kleinen Toten tragen sollte, waren noch
unbefestigt. In jeder wiederholte sich die gleiche Zeremonie: Teils waren es
Familienangehörige, teils Leute aus dem Veranstalterkreis, die – soweit
bekannt – aus der Lebensgeschichte der Opfer berichteten. Der Vormittag
endete mit einer Gedenkfeier in der Kirche des betreffenden Stadtteils, und
auch eine Veranstaltung am Abend mit dem Senatspräsidenten und Bürgermeister
Henning Voscherau war den Kindern vom Bullenhuser Damm gewidmet.
Das schönste Denkmal für sie aber ist ein
Garten. Von Schülerinnen und Schülern, später dann auch von Erwachsenen und
von Angehörigen der toten Kinder bei ihren Besuchen in Hamburg angelegt und
bepflanzt, entstand er wie von selbst, ohne Anstoß von irgendeiner
offiziellen Seite. Wer heute durch das triste, fast menschenleer wirkende
Viertel kommt, trifft unvermittelt hinter einer Schule im Sommer und Herbst
auf die leuchtende Blütenpracht zahlloser Rosen. Diese natürliche Wiederkehr
des Blühens hat, glaube ich, mehr Symbolkraft, als Erinnerungstafeln oder
Monumente aus Stein sie ausdrücken könnten. Und für all dies sorgen
freiwillig Deutsche, einfache Deutsche wie Günther Schwarberg und seine
Freunde.
Richtig begonnen hat alles in Berlin. Bald
nachdem ich in Bonn das Beglaubigungsschreiben überreicht hatte, mußte ich
in die alte, neue Hauptstadt, um im Zusammenhang mit dem geplanten Umzug der
Botschaft die Eignung eines dafür in Aussicht stehenden Hauses zu prüfen.
Es ging um ein ehemals vornehmes,
hochelegantes Gebäude in Pankow. Mehrstöckig und mit einer Innenfläche von
6500 Quadratmetern hat es im 19. Jahrhundert der jüdischen Gemeinde in
Berlin als Waisenhaus gedient, hauptsächlich zur Unterbringung jüdischer
Kinder, die durch Pogrome im russischen Zarenreich ihre Eltern verloren
hatten. Als die Nazis an die Macht kamen, beschlagnahmten sie das Haus und
funktionierten es zu einer SS-Schule um. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren es
die Russen, die sich dort mit irgendeiner Institution einrichteten, bis es
in den Besitz der DDR-Regierung überging und von ihr als Botschaftsgebäude
an die Polen verpachtet wurde. Schließlich, in den letzten Jahren des
ostdeutschen Staates, war darin die diplomatische Vertretung Kubas
untergebracht.
Nach der Wiedervereinigung übernahm die
Bundesregierung den ehemaligen Prachtbau mit der wechselvollen Geschichte.
Sie bot ihn der Berliner jüdischen Gemeinde, dem rechtmäßigen Besitzer, zur
Rücknahme an. Der aber erschien es, gemessen an der Zahl ihrer Mitglieder,
als bei weitem zu groß – den 175000, die sie Anfang der dreißiger Jahre
umfaßte, standen nach dem Zusammenschluß der Stadt in ganz Berlin nurmehr
rund sechstausend Juden gegenüber. Andererseits verpflichtete allein schon
die traditionsreiche und ehrwürdige Geschichte dieser Gemeinde dazu, das
ehemalige Waisenhaus in jüdischem Besitz zu halten. Der Plan, den Bau als
künftigen Sitz der Botschaft Israels zu nutzen, schien von allen der
nächstliegende.
Als ich das Haus besichtigte, überkam mich
ein zwiespältiges Gefühl. Seine Größe und die – wenn auch äußerlich
verkommen wirkende – Pracht kamen mir für den vorgesehenen Zweck zu
aufwendig vor, im Innern aber bot es einen geradezu erschreckenden, total
verwahrlosten Anblick. Die Kubaner hatten offensichtlich nicht nur kein Geld
gehabt, um das Gebäude zu unterhalten, es fehlten ihnen wahrscheinlich sogar
an Mitteln, im Winter die Heizung zu bedienen. Die Rohrsysteme waren
geplatzt, die Wasserleitungen verrostet, die Wände zerkratzt, und die
Parkettböden in allen Räumen sahen aus, als hätte man dort Panzersperren
errichten wollen. Im vierten Stock, ich traute meinen Augen kaum, traf ich
auf ein regelrechtes Gefängnis mit Zellen und Gittern. Auch gab es einen
dunklen, fensterlosen Raum, der irgendwie an eine Folterkammer erinnerte.
Vielleicht aber hatte er den Kubanern im Sommer, wenn es allzu heiß wurde in
Berlin, als kühle Zuflucht gedient. Wer immer in den vergitterten Zellen
gesessen haben mochte, als ich sie entdeckte, sah ich durch die kleinen
Fenster zahllose Tauben ein- und ausfliegen – man konnte meinen, diese
Höhlen, finster und verdreckt, seien der größte Taubennistplatz in Berlin.
Das Gutachten, das ich bestellte, um mir eine
ungefähre Vorstellung von der Höhe der Renovierungskosten zu verschaffen,
enthielt als Voranschlag die Summe von mindestens zwanzig Millionen Mark,
nicht gerechnet die Kosten, die für den zweckgerechten Innenausbau zur
Botschaftskanzlei entstehen würden. Für den Umzug in ein geeignetes Gebäude
in Berlin hat sich seither keine befriedigende Lösung ergeben – das Problem
ist unverändert das gleiche.
Mit diesem ersten Besuch in Berlin verbindet
sich die Erinnerung an ein nicht weniger eindrucksvolles Erlebnis.
Eigentlich besteht es aus einer Kette von Begebenheiten, die sich, auch im
Gedächtnis, zur Erfahrung summieren. In einer fremden Stadt als Fremder, der
hier einmal für geraume Zeit leben sollte, entdeckte ich bei einer
Stadtbesichtigung, ohne vorher von ihr gewußt zu haben, die Dauerausstellung
»Fragen an die deutsche Geschichte« im Reichstag. Meine Frau und ich haben
darin fast einen vollen Tag zugebracht. Wir sahen in ihr die willkommene
Gelegenheit, am Anfang unseres Aufenthalts im Gastland, im rechten Moment,
umfassend über die deutsche Geschichte informiert zu werden, und das anhand
eines ungewöhnlich reichen und interessanten Anschauungsmaterials. Nur an
der Schwelle des Saals, dessen Exponate sich thematisch mit der Zeit des
Nationalsozialismus beschäftigten, zögerten wir: Wie würden die Deutschen
diesen Abschnitt ihrer Geschichte behandeln? Würde ihre Sicht nicht ähnlich
unobjektiv sein, wie es unsere notgedrungen war?
Am Ende der Besichtigung wußten wir, daß es
zu der Art der Darstellung keine Alternative gab, sie konnte weder besser
noch anders sein. Danach, wir wollten eigentlich zum Essen gehen, wurden wir
Ohren- und Augenzeugen eines Gesprächs zwischen einer Schülergruppe mit
Lehrern und einem Ausstellungsführer, der den jungen Besuchern erklärte, was
sie in der Ausstellung erwarten würde: »Wir haben mehrere Schwerpunkte – die
napoleonische Zeit, die Entstehung des Kaiserreichs, der Erste Weltkrieg,
die Weimarer Republik, die NS-Zeit und der Wiederaufbau des zerstörten
Deutschlands.« Zu besichtigen sei natürlich jede Abteilung, sagte er, die
Schüler sollten aber nach eigenem Interesse entscheiden, mit welchem Teil
der Ausstellung sie sich besonders intensiv beschäftigen wollten; er würde
sie dann, je nach Wunsch, begleiten. Alle stimmten für den Saal mit dem
Material zur Nazi-Zeit.
Wir folgten der Gruppe so diskret wie
möglich. Aufmerksam hörten wir mit an, was der Ausstellungsführer an Fakten
und Zusammenhängen erklärte, alles Dinge, die mit unserem Wissen
übereinstimmten und den Eindruck bestärkten, den wir selbst beim Gang durch
diesen Raum gewonnen hatten. Als wir hinterher den etwa fünfzigjährigen Mann
um einige Fragen baten, erkannte er wohl, daß wir Ausländer waren, nicht
aber, woher wir kamen. Ob das, was wir soeben erlebt hatten, typisch sei für
die Neugier und das Informationsbedürfnis junger Leute bezüglich der Zeit
des Dritten Reichs, wollten wir wissen. Er nickte, gerade das Interesse von
Schülern an jener Zeit sei auffallend stark. »Und wenn sie in dieser
Ausstellung schwerpunktmäßig über andere Perioden der deutschen Geschichte
informiert werden wollen, dann heißt das nicht, daß ihnen Hitler und seine
Verbrechen gleichgültig sind.«
Uns überraschte die Auskunft, zumal wir
natürlich von dem gerade unter Jugendlichen grassierenden Neonazismus
wußten. Wir fragten weiter: »Wie erklären Sie sich dieses Interesse an der
Nazi-Zeit?« »Das rührt daher«, sagte er, »daß sie in unserem Land
jahrzehntelang verdrängt worden ist. Meine Generation konnte weder von den
Eltern noch von den Lehrern viel darüber erfahren. Wir mußten später selber
auf Suche nach Informationen gehen, um uns eine Meinung über die Zeit zu
bilden, die so kurz hinter uns lag, die Zeit unserer Eltern. Jetzt ist die
dritte Generation da, und die hat nun jemanden, der Auskunft geben kann,
nämlich uns. Diese Jüngeren fragen viel, immer und immer wieder.«
»Ist das typisch für Deutschland oder eher
nur für Berlin?«, versuchten wir am Ende zu erfahren. »Das weiß ich nicht«,
sagte er, »ich kenne ja nur Berlin.«
Ein Jahr später saß ich im Berliner
Grips-Theater. Das Stück, das an diesem Abend aufgeführt wurde, lief seit
Jahren vor einem überwiegend jungen Publikum. Unter dem Titel »Ab heute
heißt du Sara« geht es auf Erlebnisse der Autorin Inge Deutschkron und ihrer
Mutter zurück, die als Jüdinnen während des Kriegs in Berlin untertauchten
und in der Illegalität überlebten. Auch diesmal waren viele Schüler und
Studenten da. Als ich Inge Deutschkron nach der Vorstellung traf, berichtete
sie von dem Einführungsunterricht, der Schulklassen vor dem Besuch des
Stücks über dessen wahren Geschehenshintergrund informiert. Seit Jahren wird
sie, auch wenn es sie anstrengt, als Zeitzeugin von Berliner Gymnasien
eingeladen.
»Ist das typisch für Deutschland«, fragte ich
wieder, »oder mehr nur für Berlin?« »Das wissen wir nicht«, wurde mir im
Theater erklärt. »Wir kennen ja nur Berlin.«
Der zweite Städtebesuch außerhalb Bonns galt
München. Auch hier gab es eine Ausstellung – ich sah sie auf ausdrückliche
Empfehlung meiner bayerischen Gastgeber –, die mir in mancher Hinsicht die
Augen öffnete, auch wenn sie, anders als die Schau im Berliner Reichstag,
allein der süddeutschen Landeshauptstadt und ihrer Rolle während der NS-Zeit
als »Hauptstadt der Bewegung« galt. Ich wußte bis dahin nicht, wie stark
Bayern in die Anfänge des Nationalsozialismus verstrickt und wie hoch der
Anteil bayerischer Nazis an der Gesamtzahl derer war, die sich hier und
anderswo unter Hitler der schlimmsten Verbrechen schuldig gemacht hatten.
Bayern sind es gewesen, die mich darüber aufklärten.
Es war also nicht nur das weltstädtisch
aufgeschlossene Berlin, das sich nach meinen Eindrücken kritisch mit der
NS-Zeit auseinandersetzte und damit gerade junge Bevölkerungsgruppen
ansprach. Die vielbesuchte Wanderausstellung des Hamburger Instituts für
Sozialforschung, die ich 1995 in Essen sah, behandelte sogar ein bis dahin
weitgehend unbeachtetes, vielleicht auch mehr oder minder bewußt
verschwiegenes Thema, nämlich die Beteiligung der Wehrmacht an
Nazi-Verbrechen. Darüber hinaus gibt es in jeder größeren deutschen Stadt
Mahnmale, die, meist würdevoll gestaltet, an die Judenverfolgung im Dritten
Reich und die Ausrottungspolitik der Nazis erinnern. Schrifttafeln und
Gedenksteine weisen auf die Ermordung jüdischer Bürger hin oder bezeichnen
den Platz zerstörter Synagogen und Gemeindehäuser. Und überall gibt es die
freiwilligen und ehrenamtlichen Mitarbeiter der Deutsch-Israelischen
Gesellschaft oder der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit.
Der Wille, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen und Brücken zu uns
zu schlagen, ist spürbar, wohin ich auch komme, nicht nur in Berlin.
Dort allerdings, in Deutschlands größter
Stadt, stärkster Anziehungspunkt für in- und ausländische Besucher,
konzentrieren sich Gedenkstätten, Mahnmale und Ausstellungen, die an den
Holocaust erinnern, wie sonst nirgendwo. Noch ist kein Ende der Diskussion
um die endgültige Gestaltung des Platzes in Sicht, den die Bundesregierung
in der Nähe des Reichstags für die Errichtung eines zentralen Gedächtnisorts
für die ermordeten Juden Europas zur Verfügung stellte. Das von dem Kreis um
Lea Rosh initiierte Projekt, an dem sich öffentliche wie private Gremien und
Institutionen beteiligen, wird, was Einzelheiten der Ausführung und die
Größe angeht, vielleicht noch jahrelang umstritten sein. Bemerkenswert ist
aber, daß es hier nicht um Meinungsverschiedenheiten zwischen Juden und
Nichtjuden geht. Offizielle Stellungnahmen von israelischer Seite verbieten
sich von selbst. Das bedeutet nicht, daß uns die äußere Form der
Gedenkstätte gleichgültig läßt, im Gegenteil. Wir schätzen nur das Vorhaben,
ein solches Mahnmal in der Mitte der deutschen Hauptstadt zu errichten,
grundsätzlich höher ein als einzelne formale Probleme bei der Ausführung der
Idee.
Das trifft in gewissem Maße auch auf die
schon bestehenden Gedenkstätten in den Berliner Bezirken zu. Von ihnen sind
die im ehemaligen West-Bezirk Schöneberg vielleicht die eindrucksvollsten,
wohl weil sie am schlichtesten sind. Auf offener Straße an Laternenpfählen
angebracht, erinnern fahnenartige metallene Schilder mit Daten und kurzen
Inschriften an antijüdische Gesetze, die während der Nazi-Zeit erlassen
wurden. Sie lesen sich, in chronologischer Abfolge, wie Markierungen von
Stationen eines ununterbrochenen Leidenswegs, beginnend mit dem Jahr 1933.
Das Register reicht von der Entlassung jüdischer Lehrkräfte und Beamter aus
dem Staatsdienst über das Verbot, das »arischen« Kindern das Spielen mit
»nichtarischen« untersagt (1938), bis zur Verordnung, die alle Juden im
Alter von über sechs Jahren zum Tragen des gelben »Judensterns« verpflichtet
(1941). Selbst das Halten von Haustieren war – ab 15. Mai 1942 – den Juden
untersagt. Am Bayerischen Platz durften Juden nur gelb markierte Sitzbänke
benutzen. Schon Jahre vorher, im Sommer 1938, erging ein Verbot, das
jüdische Kinder vom Besuch öffentlicher Schulen ausschloß. 1941, im Krieg,
als Seife und Rasierseife rationiert waren, war Juden der Kauf solcher
Artikel nicht mehr erlaubt. Und geradezu grotesk, wenn das entsprechende
Gesetz für die Betroffenen nicht bittere Konsequenzen gehabt hätte, mutet
eine Inschrift an, die daran erinnert, daß vom 22. März 1938 an »nur ehrbare
Volksgenossen deutschen oder artverwandten Blutes« Kleingärtner sein
durften.
Ich erkundigte mich, als ich die Schilder
gesehen hatte, ob gegen ihre Anbringung keine Proteste laut geworden seien.
Doch, es hatte Einwände gegeben, aber nicht aus Gründen, die man vielleicht
unterstellen könnte. Bemängelt wurde von den Schönebergern nur, daß auf der
ersten Serie der Schilder die Daten fehlten, wann die jeweiligen
Verordnungen erlassen worden waren – für auswärtige Besucher und Fremde ein
Anlaß zu möglichen Mißverständnissen und Irritationen, denen man auf jeden
Fall vorbeugen wollte. Diese einfachen, an Straßenlaternen geschraubten
Schilder mit Hinweisen auf Verordnungen, die zu den gleichfalls angegebenen
Daten Gesetzeskraft erlangten und damit in Menschenschicksale eingriffen,
und dann die erwähnte Inschrift am Turm der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche
– gab es einen noch stärkeren Gegensatz zwischen allen Formen des Gedenkens,
zu denen Menschen fähig sind?
Otto von der Gablentz, der deutsche
Botschafter in Israel, hatte mich in Jerusalem nach meiner Berufung auf den
Posten in Bonn auf meine künftigen Aufgaben vorbereitet, indem er auf den
Sonderstatus eines israelischen Botschafters in Deutschland verwies – der
sei, sagte er, unter anderem stets auch eine »moralische Institution« im
Lande. Ich habe mir darauf zunächst keinen Reim machen können und reagierte,
wenn ich mich recht erinnere, ein wenig verständnislos. Dann aber, nach
meiner Ankunft, brauchte es nicht viel Zeit, um zu verstehen, was mir der
deutsche Kollege mit auf den Weg geben wollte.
Mit schöner Regelmäßigkeit spricht man mich
auf Themen an, mit denen mit Sicherheit kein israelischer Botschafter in
einem anderen Land konfrontiert wird. Niemand auch käme auf den Gedanken,
damit einen anderen ausländischen Diplomaten in Deutschland zu behelligen.
Und immer wieder erhalte ich Einladungen zu Veranstaltungen, die weder mit
Israel noch allgemein mit jüdischen Belangen zu tun haben. Statt dort, wie
erwartet, anderen in Bonn akkreditierten Botschaftern zu begegnen, sehe ich
mich in dieser Eigenschaft allein, dafür aber häufig umgeben von allerlei
Prominenz, vor allem, wenn es sich um Veranstaltungen handelt, die sich mit
der deutschen Geschichte oder mit ethischen, humanistischen und kulturellen
Themen befassen. War es dies, was Botschafter von der Gablentz meinte?
Tatsache ist, daß ich mich immer wieder mit
Dingen beschäftigen muß, die außerhalb meines eigentlichen Aufgabenbereichs
liegen. Und immer wieder geht es um die Nazi-Zeit und die Last ihres Erbes.
Der Geschäftsführer der Kempinski-Hotelkette beispielsweise, der mich
wiederholt um ein Treffen bat, hatte alles andere im Sinn als die Absicht,
mich für seine Häuser als künftigen Stammgast zu gewinnen. Während eines
Aufenthalts in Berlin habe ich ihn schließlich zwar in einem Hotel
empfangen, es war aber nicht das bekannte Bristol-Kempinski. Genau damit
jedoch, dem Haus am Kurfürstendamm, gab es, wie ich erfuhr, einige bereits
an die Öffentlichkeit gelangte Probleme, verursacht durch einen gewissen
Herrn Teppich. Dieser Mann, schon recht bejahrt, demonstrierte regelmäßig
vor dem Hotel mit einem Schild, das auf das Schicksal der Gründerfamilie
Kempinski aufmerksam machte. Es waren Berliner Juden, die von den Nazis
enteignet worden waren und die Teppich noch persönlich kannte. Daß sich
hinter der neuen Prachtfassade des Hotels eine zu Unrecht vergessene
Tragödie verbarg, trieb den alten Mann mit seinem Schild immer wieder vor
den Eingang des renommierten, traditionsreichen Hauses und machte den
Geschäftsführer ratlos – was sollte, was konnte er gegen das lebende Mahnmal
tun, das da aus eigenem Antrieb Hotelgäste und Passanten an längst verjährte
Dinge erinnerte, und das über viele Wochen? Aber was hatte ich damit zu tun?
Es stellte sich heraus, daß die jetzigen
Besitzer des Hotels, eine Aktiengesellschaft, mit dem der Familie Kempinski
im Dritten Reich geschehenen Unrecht absolut nichts zu tun haben, auch nicht
mit den Leuten, die das alte Hotel nach der Enteignung übernahmen. Das
Ergebnis des Gesprächs, das der Berliner Geschäftsführer und ein Mitarbeiter
der Botschaft gemeinsam mit Herrn Teppich führten, ist eine Gedenktafel. An
der Wand neben dem Hoteleingang angebracht, erinnert sie unübersehbar an die
Kempinskis, an die Wegnahme ihres Besitzes und ihre schließliche Ermordung
durch die Nazis. Als alles sich zum Guten gewendet hatte, fielen mir wieder
die Worte meines Kollegen von der Gablentz ein.
Ein Brief, den ich etwa zur selben Zeit vom
Oberbürgermeister der Stadt Dachau erhielt, konfrontierte mich mit einem
ganz ähnlichen Problem. Nur fühlte ich mich in diesem Fall noch weniger zur
Vermittlung aufgerufen, weil es, wie aus dem Schreiben deutlich wurde, um
einen schon länger andauernden Streit zwischen Dachau und der in München
ansässigen Zentralverwaltung der deutschen Goethe-Institute ging. Die
Verwaltung weigert sich beharrlich, den nach Lage des Gebäudegrundstücks und
postalisch korrekten Namen »Dachauer Straße« zu akzeptieren. Statt dessen
verwendet sie auf den Briefköpfen den Namen der Straße, an der der kaum
benutzte Hintereingang des Hauses liegt. Die Gründe dafür liegen auf der
Hand. Sie wurden im Brief des Oberbürgermeisters auch ohne Umschweife
angesprochen, der Mann wollte nur nicht hinnehmen, daß, wie er schrieb,
»offensichtlich eine überwiegend öffentliche Meinung besteht, die Verbrechen
in der KZ-Gedenkstätte Dachau hätten die Dachauer zu vertreten und nicht das
ganze deutsche Volk einschließlich des Goethe-Instituts«. Zur Vorgeschichte
gehörte, daß die Mitgliederversammlung des Instituts bereits im Sommer 1988
die Auffassung vertrat, das Goethe-Institut habe keinen Anlaß, »die deutsche
Vergangenheit, die auch mit dem KZ Dachau verbunden ist, zu verdrängen«.
Trotzdem waren auf kommunaler und Bundesebene alle Versuche, den damaligen
Leiter der Einrichtung zur Änderung der offiziellen Anschrift zu
veranlassen, erfolglos geblieben. »In meiner Not wende ich mich an Sie«,
hieß es in dem Schreiben, das ich, um es richtig zu begreifen, mehrmals
lesen mußte: »Ich bitte um Ihre Unterstützung bei unseren Bestrebungen, das
Goethe-Institut zu bewegen, daß es sich durch die Adressenführung zur
gemeinsamen deutschen Vergangenheit bekennt ...«
Mit Israel oder mit jüdischen Gemeinden hatte
die Bitte des Oberbürgermeisters nicht im geringsten zu tun. Was sollte ich
erwidern? Ich fühlte mich nicht zuständig und schrieb einen entsprechend
höflichen Brief nach Dachau. Ein erhellender Eindruck blieb dennoch zurück:
Ich begann zu verstehen, wie schwierig und schmerzhaft es für Deutsche ist,
wenn sie der Vergangenheit gegenüber nicht gleichgültig bleiben wollen – und
dies trifft immerhin auf die meisten zu.
Wenn es noch eines Zeichens oder Ereignisses
bedurft hätte, um zu erklären, was von der Gablentz meinte, als er von
meinem Posten in Deutschland als einer moralischen Istanz sprach, dann war
es der Brief eines anderen Oberbürgermeisters, nämlich desjenigen der Stadt
Hagen. Er lud mich, den Israeli, ein, in Hagen die Festrede auf der
Gedenkveranstaltung zum Volkstrauertag 1996 zu halten. Ich bin, nach einigem
Überlegen, der Einladung gefolgt. Aus gleichen Erwägungen sprach ich am
Karfreitag 1997 in der Gedenkstunde für die Opfer der Stadt in der
Dortmunder Bittermark.
Am 23. Juli 1994, einem Sonnabend, erfuhr ich
aus den Radionachrichten vom Überfall einer Gruppe von Neonazis auf die
Gedenkstätte des ehemaligen KZ Buchenwald. Es war nicht nur Sachschaden
entstanden, die Horde hatte auch einer Historikerin, die im Archiv der
Gedenkstätte arbeitete, mit der Verbrennung bei lebendigem Leibe gedroht.
Eine weitere Meldung vom folgenden Tag besagte, der Polizei sei die Gruppe
vor der Tat verdächtig vorgekommen, man habe sie eine Weile verfolgt, die
Beobachtung aber kurz vor Buchenwald, dem Ziel des Anschlags, aufgegeben.
Daß die Montagszeitung nur am Rande über den Vorfall berichteten, so, als
handele es sich um ein beiläufiges oder schon länger zurückliegendes
Ereignis, überraschte mich einigermaßen. Deshalb beschloß ich, mir selber
ein genaues Bild zu verschaffen. Ich flog noch am selben Tag nach
Buchenwald, wo es die zweite Überraschung gab: Außer Fotografen,
Journalisten und Leuten vom Fernsehen erwartete mich ein Minister der
thüringischen Landesregierung, der mich auf dem Gang durch die geschändete
Gedenkstätte begleitete und mich anschließend zu einem Gespräch mit dem
Ministerpräsidenten Bernhard Vogel in Erfurt brachte. Der Aufenthalt in
Thüringen ging mit einer Pressekonferenz und einer Interview-Einladung der
ARD-Tagesthemen zu Ende. Für den Rückflug nach Bonn nahm ich die Zusicherung
mit, die Aufklärung der neonazistischen Schandtat energisch voranzutreiben
und dafür zu sorgen, daß sich ähnliche Dinge nicht wiederholten.
Ich hätte in diesem Fall kein Recht gehabt,
mich direkt an Behörden zu wenden oder gar bewußt ein öffentliches Forum zu
suchen. Die Medienresonanz auf meinen Kurzbesuch in Buchenwald fiel desto
stärker aus, und daß die Reise auch im Kanzleramt registriert worden war,
erfuhr ich noch per Autotelefon auf dem Rückweg zwischen dem Flughafen und
Bonn. Der Regierungsbeamte, der mich anrief, beschwerte sich nicht etwa über
eine unerlaubte Einmischung in innere Angelegenheiten der Bundesrepublik, er
bedankte sich vielmehr für die Aufmerksamkeit, die ich dem Anschlag gewidmet
hatte. Und abermals mußte ich an meinen deutschen Kollegen in Israel denken.
Kaum ein anderer Spielfilm zum
Holocaust-Thema hat in den letzten Jahren in der Öffentlichkeit ein derart
starkes Echo gefunden wie »Schindlers Liste«. Bei der Uraufführung in
Frankfurt saß ich in einer Reihe mit dem Bundespräsidenten von Weizsäcker,
dem Vorsitzenden des Zentralrats der Juden, Ignatz Bubis, und seiner Frau,
dem damaligen US-Botschafter in Bonn, Richard Holbrooke, und Steven
Spielberg, dem Produzenten des Films. Nach der Vorstellung, beim Verlassen
des Saals, hing jeder eigenen Gedanken und Gefühlen nach, wir gingen
schweigend hinaus. Als sich die draußen wartenden Journalisten auf den
Bundespräsidenten stürzten, um ihn nach seinen Eindrücken zu befragen, trat
ich zur Seite, doch Richard von Weizsäcker nahm mich am Arm: »Bleiben Sie
bitte hier.« Er, der beherrschte, zur Selbstdisziplin erzogene Mann, war in
diesem Augenblick sichtlich so bewegt und betroffen, daß er – wahrscheinlich
zum ersten Mal in seiner Amtszeit – einige Zeit brauchte, um die Fassung
wiederzugewinnen. Meinen Arm, so schien es mir jedenfalls, ergriff er wie
eine Art Rettungsanker – ein mir unvergeßlicher Moment.
Beim anschließenden Abendessen, zu dem
Andreas von Schoeler geladen hatte, der damalige Frankfurter
Oberbürgermeister, saß ich neben Steven Spielberg. Befragt, ob er beim
Drehen von »Schindlers Liste« auch ein deutsches Zielpublikum vor Augen
gehabt und bei Aufnahmen zu besonders realistischen Szenen aus dem KZ-Alltag
Rücksicht auf die Gefühle deutscher und jüdischer Zuschauer genommen habe,
meinte er, die Greuel, die der Film darzustellen versuche, seien, da er in
erster Linie an das amerikanische Kinopublikum denken mußte, eine
Untertreibung der Wirklichkeit: »Wie es tatsächlich in einem KZ war, kann
man in einem Film kaum beschreiben. Hätte ich an Deutschland oder an Israel
gedacht, wären die Szenen wesentlich härter ausgefallen.«
Authentische Berichte über die Verfolgung und
Ausrottung der Juden im Dritten Reich, vor allem in den letzten
Kriegsjahren, waren mir stets nur von jüdischer, in fast jedem Fall
nichtdeutscher Seite zur Kenntnis gekommen. Insofern war es eine völlig
neue, aber nicht weniger erschütternde Erfahrung für mich, als ich in
Deutschland mit Fotos, Tagebüchern und anderen Dokumenten konfrontiert
wurde, die Einzelheiten des Holocaust nicht aus der Sicht der Überlebenden
darstellten, sondern aus unmittelbarer Anschauung deutscher Täter und
Tatzeugen.
Im Grunde hatte ich mich vor solchen Bildern
und Aufzeichnungen gefürchtet. 1995 aber, als sich der Tag der deutschen
Kapitulation und damit der Untergang des Nazi-Reiches zum fünfzigsten Mal
jährten, häuften sich Veröffentlichungen solcher Materialien in so großer
Zahl, daß es schwerfiel, sich ihrem Eindruck zu entziehen.
Fernsehdokumentationen, Presseberichte, Vorträge, Podiumsdiskussionen und
zahllose andere Veranstaltungen behandelten nicht nur seit langem bekannte
Entwicklungen und Tatsachen, sie lenkten vielfach auch den Blick auf bis
dahin wenig beachtete Fakten. Auch bislang unentdeckt gebliebene Dokumente
kamen ans Tageslicht.
Mir ist vor allem, interessant und gräßlich
zugleich, ein TV-Beitrag in Erinnerung geblieben, der sich mit dem Tagebuch
eines an sich unbedeutenden deutschen Beamten befaßte, der als Amtskommissar
während des Krieges in der Nähe der polnischen Stadt Lodz, von den Deutschen
umbenannt in Litzmannstadt, Dienst tat. In den Aufzeichnungen nennt er sich
Alexander Hohenstein, auch alle sonst vorkommenden Namen sind Pseudonyme.
Amateurfilme, von Hohenstein gedreht, und zahlreiche Fotos ergänzen die
schriftlichen Eintragungen, das Ganze mutet an wie ein Kompendium des
Grauens.
Von einem Urlaub zurückgekehrt nach
Poddembice, seinem Dienstort, notiert Hohenstein: »Das Unglaubliche ist
Tatsache geworden. Während meiner Ferien vollzog sich die Ausmerzung der
Juden von Poddembice. Ich und meine Familie danken unserem Herrgott von
ganzem Herzen, daß er es uns erspart hat, Zeugen dieses grauenvollen
Verbrechens zu sein oder gar aufgrund meines Amtes Henkerdienste leisten zu
müssen. Ich will versuchen, so sachlich wie möglich niederzulegen, was ich
erfuhr.«
Und dann folgt, was ihm sein Vertreter
Heinitzer berichtet, der Zeuge, der alles mit ansah: »Ich habe niemals
geglaubt, daß Menschen, deutsche Menschen so bestialisch, so sadistisch sein
können. Sie wissen ja, daß die Judengemeinde seit Februar täglich vollzählig
und geschlossen zur Kontrolle in den Schloßpark marschieren mußte. Eines
Tages, es war der 14. April, wurden die Juden von einem großen Aufgebot an
Gendarmerie in Empfang genommen. Scharf eskortiert trieb man die Juden in
die polnische Kirche. Zur gleichen Zeit wurden sämtliche jüdischen Arbeiter
von ihren Arbeitsplätzen weggeholt. Auch Hermann aus Ihrem Grundstück. Zehn
Tage wurden die Juden in dem Gotteshaus gefangengehalten, ohne Betten und
Decken, nichts von sanitären Anlagen, kein Klosett, fast dreitausend
Menschen. Kinder wurden geboren und Menschen starben in dieser qualvollen
Enge. Die Türen wurden von SS-Männern Tag und Nacht bewacht. Auf Kosten der
Stadtverwaltung wurden die Juden mit Brot und Margarine versehen. Zweimal
täglich durfte ein Trupp Männer Wasser vom Brunnen vor der Kirche holen. Das
Heulen und Wehklagen, das Jammern und Schreien der unglücklichen Juden
vernahm man Tag und Nacht, es war grauenhaft, gruslig. Am zehnten Tage, in
früher Morgenstunde, wurde die Pforte des Gotteshauses aufgerissen und die
Juden truppweise herausgelassen. Zerzaust, zerlumpt, dreckig, fast
verhungert, glichen sie eher unheimlichen Spukgestalten als lebendigen
Menschen. In diesem Zustand wurden sie wie Vieh auf Lastautos getrieben.
Dann fuhr die Kolonne mit ihrer Todesfracht zum ersten Mal ab.
SS-Motorradler zur Seite und hinterher. Nach Stunden kam die Autokolonne
wieder zurück, und der zweite Akt dieses Dramas begann. Frau Goldo kam mit
ihrer Tochter aus der Kirchentür. Sie sah Herrn Helferich, eilte auf ihn zu
und flehte ihn um Rettung an. Ihr Mann, der Judenälteste, bot ihm in
hastigen Worten ein Vermögen in solcher Höhe, daß Helferich nie wieder zu
arbeiten brauchte. Inzwischen waren SS-Männer
auf diese Szene aufmerksam geworden. Sie schlugen auf die Unglücklichen ein,
ergriffen den Judenältesten und mißhandelten ihn so schwer, daß er über und
über blutend zu Boden sank.«
»Das Schreckliche ereignete sich bei der
dritten und letzten Verladung. Da brachte man die Kranken aus der Kirche.
Sie wurden den Menschen auf den Wagen einfach über die Köpfe geschoben, wie
Krautsäcke, immer hinauf und hinein, ungeachtet des Geschreies der Gesunden
und Kranken. Als die letzten Wagen vollgepfropft waren, da brachte man die
Toten hin, 28 sind während der Gefangenschaft in der Kirche verstorben. Und
statt sie nun zurückzulassen, nahmen die SS-Scheusale die Leichen und warfen
sie den lebenden Insassen der Autos buchstäblich auf die Köpfe. Sogar die
deutschen Zuschauer schrien vor Entsetzen auf. Und noch etwas: Ihr
Hausbursche Hermann und ein anderer junger Jude hatten sich im
Dachreitertürmchen der Kirche versteckt. SS-Leute fanden die beiden Burschen
und haben sie unmenschlich zerschlagen. Sie wurden auf den letzten Wagen
geworfen. – Herr Bürgermeister, das kann unmöglich gut gehen. Daß ich als
alter Mann so etwas noch erleben mußte. Ich habe das Leben hier so satt. Ich
möchte heim, heim, heim. Erschüttert sah ich, daß Heinitzer weinte.«
Daß es deutsche Medien waren, die, wenn auch
oft unter allergrößten Schwierigkeiten, solche Dokumente zutage förderten
und der Öffentlichkeit vorstellten, berührte mich fast ebenso wie die
Dokumente selbst. Zugleich versuchte ich mir das Fortleben der
Nazi-Ideologie in den Köpfen junger Menschen zu erklären, auch und gerade in
der ehemaligen DDR. Hatten vierzig Jahre sogenannter sozialistischer
Umerziehung nicht genügt, um den Ungeist der NS-Zeit und die Gefahr seines
Wiederauflebens endgültig zu bannen?
Als ich die Meinung der Ausländerbeauftragten
in Dresden zu den möglichen Ursachen des Rechtsradikalismus erfahren wollte,
gab sie, wie erwartet, gleich mehrere Antworten. Einmal, wußte Marita
Schieferdecker-Adolph, gab es Jungen, die nur aus Opposition gegen den
doktrinären Marxismus der DDR dem anderen Extrem verfallen waren. Wieder
andere ließen sich aus persönlicher Frustration auf Nazi-Parolen ein oder
taten es einfach, weil sie sich interessant machen wollten. Sie alle seien
letztlich belehrbar, meinte die Frau, die bald nach der Wende mit einer
Gruppe junger Neonazis nach Israel gereist war, um sie von ihrem Irrglauben
zu befreien. Doch gebe es auch Jugendliche, die familiär fest im
Nationalsozialismus verwurzelt seien. Die Unterdrückung freier
Meinungsäußerungen in der DDR habe zu Entwicklungen geführt, die sich
innerhalb der Familien oder in kleinen Zirkeln abspielten, von außen nicht
ohne weiteres kontrollierbar und nicht selten von Nazis bestimmt, die ihren
Nachkommen die alten Propagandaformeln einprägten.
So erzählte Frau Schieferdecker-Adolph von
einem jungen Neonazi, der mehr von seinem Großvater als von den Eltern
erzogen worden war. Der alte Herr war im Zweiten Weltkrieg als SS-Mann in
Polen stationiert und schwärmte dem Enkel von dieser Zeit vor – herrlich sei
sie gewesen, beeinträchtigt nur durch die Schwierigkeiten, welche die Juden
den Deutschen bereiteten. Und dann folgte eine Reihe schlimmer Vergehen aus
der jüdischen Bevölkerung gegen die Deutschen. Ich fragte erstaunt, ob der
Junge die Geschichten denn ehrlich geglaubt habe. »Doch, völlig, und er ist
leider kein Einzelfall.«
Auf die immer wieder gestellte Frage, warum
der Holocaust gerade vom hochzivilisierten Deutschland ausging und von
Deutschen vollstreckt wurde, gibt es offenbar keine abschließende Antwort.
Wohl aber sind es das Organisationstalent und die allgemeine Neigung der
Deutschen zum Perfektionismus, die Systematik und Ausmaß des Verbrechens an
den Juden erklären. In »Shoah«, dem bis heute umfassendsten Filmwerk über
den Holocaust – er dauert neun Stunden –, gibt es keine einzige grausame
Szene. Der Film wirkt jedoch um so erschütternder, als er Tatsachen für sich
sprechen läßt und Dialoge festhält, Gespräche mit Tätern und Augenzeugen,
mit
SS-Männern, aber auch mit Opfern, die überlebten. Charakteristisch scheint
mir die Aussage eines ehemaligen SS-Mannes zu sein, zu dessen Alltag im KZ
das Töten gehörte. Er erklärt Claude Lanzmann, dem Schöpfer und Produzenten
dieses Films, ganz sachlich und allen Ernstes, wie er und seine
»Mitarbeiter« Menschen in Massen vernichteten und wie sehr sie sich
abmühten, ihre »Arbeit« ständig zu »verbessern«. »Wir wollten«, sagt er,
»die Produktion erhöhen und haben tatsächlich dank unserer Tüchtigkeit und
dank der Verbesserung unserer Arbeitsmethoden die Produktion ständig
erhöht.« Produktion war gleichbedeutend mit Massenmord.
Daniel Jonah Goldhagen behauptet in seinem
heftig diskutierten Buch »Hitlers willige Vollstrecker«, die eliminatorische
Form des Antisemitismus sei bereits im Deutschland des 19. Jahrhunderts
außerordentlich weit verbreitet gewesen. Als Hitler an die Macht kam, sei
das sich auf die Juden beziehende allgemeine Denkmuster, das auch die Basis
für Hitlers persönlichen Judenhaß bildete, von der Mehrheit der Deutschen
akzeptiert worden. Nur deshalb habe Hitler sein Vorhaben so erschreckend
leicht verwirklichen können.
Ein Teil der deutschen Medien entnahm
Goldhagens Buch die These, der auf Entfernung und Beseitigung gerichtete
Antisemitismus sei als entscheidende Triebkraft der späteren Judenausrottung
tief in der deutschen politischen Kultur verwurzelt, ja ein im
Nationalcharakter angesiedeltes Spezifikum. Die Diskussion um das Buch
begann, noch bevor es in Deutschland erschienen war. Sie sei, wurde mir
berichtet, um nichts geringer als die öffentlichen Auseinandersetzungen
anläßlich des Historikerstreits Mitte der achtziger Jahre. Ohne mich
einzumischen, war ich beeindruckt vom allgemeinen Aufruhr um das Buch des
jungen Harvard-Dozenten, verriet sich darin doch das genaue Gegenteil von
der Gleichgültigkeit gegenüber der NS-Zeit, wie sie für die Nachkriegszeit
typisch war.
Als das Buch schließlich in deutscher Sprache
herauskam, erreichte die Diskussion ihren Höhepunkt. Zahlreiche Talkshows,
eine kaum überschaubare Menge an Rezensionen in Zeitungen und Zeitschriften,
öffentliche Diskussionen und ein ebenso interessiertes wie kritisches
Publikum, dem sich Goldhagen mehrmals selber stellte, ließen fast
schlagartig die Bereitschaft gerade junger Leute erkennen, sich des Unheils
der Nazi-Zeit mit seinen Ursachen und Vorboten neu bewußt zu werden. »Zum
letzten Auftritt Daniel Jonah Goldhagens in Deutschland kamen über
zweitausend Besucher«, schrieb Frank Schirrmacher am 13. September 1996 in
der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«. »Man hätte, sagen die Veranstalter,
auch leicht die Münchener Olympiahalle füllen können.« Und weiter: »Die
Leidenschaft ..., mit der Goldhagens Thesen in Deutschland aufgenommen oder
zurückgewiesen, kritisiert oder gefeiert wurden, übersteigt das bislang
Gewohnte ... Daß die Deutschen ihrer eigenen Geschichte entkommen wollen,
wie eine bekannte These lautet, ist durch das Goldhagen-Phänomen widerlegt.«
Auch wenn ich es gewollt hätte, es war so gut
wie unmöglich, Gesprächen über »Hitlers willige Vollstrecker« zu entgehen.
Jede Gelegenheit schien günstig, mir zu Goldhagens Buch und zum
Meinungsstreit, den es in der Öffentlichkeit ausgelöst hatte, Fragen zu
stellen und mich in Diskussionen einzubeziehen.
Das begann, als ich bei einem privaten Essen
neben einer Dame saß, keiner Unbekannten im öffentlichen Leben. Sie hatte,
wie ich erfuhr, eine jüdische Großmutter gehabt, die Eltern waren deshalb
während der Nazi-Zeit emigriert. Natürlich kamen wir bald auf Goldhagen und
sein Buch zu sprechen. Auf die Frage, was ich davon halte, gab ich ihr zu
verstehen, ich könne Goldhagens Ansichten nicht rundweg und nicht in allen
Punkten widersprechen. Allein das genügte meiner Tischnachbarin, um mir
aufgeregt und langatmig ihre Auffassung zu erklären, wonach das Buch
verurteilenswert und entschieden abzulehnen sei. Sie begründete ihre Ansicht
so detailliert, daß ich mich zu der Äußerung hinreißen ließ, statt es zu
ignorieren, wie ich es eigentlich von den Deutschen erwartet hätte, habe sie
das Buch wohl von der ersten bis zur letzten Seite akribisch studiert, meine
Einstellung jedenfalls sei, im Unterschied zu ihrer, etwas differenzierter.
Die Gespräche um uns verstummten, die Dame rührte keinen Bissen mehr an,
nicht mehr viel, und sie wäre in Tränen ausgebrochen. Gottlob rettete der
Hausherr die Situation.
Ich bin kein Historiker, weiß aber, daß die
Mehrheit der Deutschen in den zwanziger Jahren für Parteien stimmten, deren
Programme sich gegen den Antisemitismus wandten. Auch noch nach der
Machtergreifung Hitlers hatten diese Parteien die meisten wahlberechtigten
Deutschen hinter sich. So geht denn auch ein Großteil der Historiker davon
aus, daß der Machtantritt selbst nicht durch einen in der deutschen
Bevölkerung vorhandenen Antisemitismus erklärt werden kann. Ob die 55
Prozent, die damals gegen Hitler stimmten, auch Gegner des Antisemitismus
waren, weiß ich nicht, offensichtlich aber gehörten sie nicht zu denen, die
Juden gehaßt und ihnen Verfolgung angedroht haben. Das aber widerspricht
Goldhagens historischen Analysen. Würde der Widerspruch anerkannt, bliebe
nach wie vor erst recht die Frage unbeantwortet, weshalb die Judenverfolgung
ausgerechnet von Deutschland ausgehen konnte. Ein Gedanke dazu hilft
vielleicht, den Widerspruch zu erklären.
Sicherlich trifft es zu, daß in Deutschland,
noch bevor Hitler an die Macht kam, viele Formen des Antisemitismus
existierten, seine Ideen zur Judenverfolgung hätten sonst nicht auf so
fruchtbaren Boden fallen können. Richtig ist aber auch, daß der
Antisemitismus auch in anderen Ländern verbreitet war, vor allem in
Osteuropa. In Polen, in der Ukraine, in den baltischen Ländern, in der
Slowakei, Ungarn und Kroatien – überall fanden sich während des Krieges
massenweise Kollaborateure, die willig, teilweise begeistert bereit waren,
an der Judenvernichtung teilzunehmen. Ein für Massenmorde in Treblinka
verantwortlicher SS-Offizier, den Claude Lanzmann heimlich für »Shoah«
filmte, beschreibt im Gespräch mit dem Regisseur seine Helfer, Leute aus der
Ukraine und dem Baltikum, als »Bluthunde«, gegen die auch SS-Männer nicht
konkurrenzfähig waren.
Darauf spielt eine traurige Geschichte aus
Osteuropa an. Sie erzählt von einem Mann, der nach seinem – normalen – Tod
die Wahl hat zwischen einer von Schweizern bedienten Höllenkammer und einer
anderen, in der Leute aus dem Osten die Oberaufsicht führen. Er entscheidet
sich für die letztere. »Warum«, wird er gefragt, »die Schweizer sind doch
viel humaner.« »Ich weiß, ich weiß«, sagt der Mann, der in seinem Leben nur
wenig gesündigt hat, »aber von der Schweiz weiß ich, daß alles funktioniert:
Wenn ich im Feuer schmoren soll, dann wird es pünktlich brennen, und Holz
und Kohlen dafür wird es immer geben. In der Ost-Hölle aber wird der Heizer
kommen, wann er will, der Ofen wird meist kaputt und Brennholz Mangelware
sein. Ich werde also weniger leiden müssen.«
Kein Zweifel, die Hölle, welche die Nazis in
Betrieb setzten, war perfekt organisiert. Wie sie entstand, wer an ihrem Bau
beteiligt war und wer und was alles ihr Feuer geschürt hat, wird immer noch
von Historikern und anderen Experten erforscht, Leuten, die fortwährend über
die Ergebnisse ihrer Arbeit berichten. Kein Jahr, in dem nicht gleich
mehrere Dokumentationen in Buchform erscheinen, von Zeitschriftenaufsätzen
und ähnlichem ganz abgesehen. Sind, trotz vieler gegenteiliger Beweise,
diese Veröffentlichungen aber repräsentativ für die Ernsthaftigkeit des
Bemühens der Deutschen – oder doch ihrer Mehrzahl –, sich sozusagen mit sich
selbst auseinanderzusetzen? Diejenigen, die ich in jeder Gedenkstätte
antreffe, an Universitäten, unter Juristen, in der Wannsee-Villa und in
vielen politischen Organisationen – lassen sie sich wirklich gleichsetzen
mit einer imaginären Mehrheit, die sich ehrlich um Aufklärung der
Vergangenheit bemüht, statt sie, wie es so lange geschah, zu verdrängen oder
zu vergessen?
Wie haben die Deutschen die
Gedenkveranstaltungen von 1995 empfunden? Waren sie beeindruckt oder eher
gleichgültig? Wollten sie solche Veranstaltungen überhaupt? Ließen sie sie
nur aus Anstand und einer Art Pflichtgefühl über sich ergehen, womöglich gar
aus Resignation? Keine Fragen beschäftigten mich stärker als diese.
Den Auftakt zu den Gedenkfeiern anläßlich des
Kriegsendes 1945 bildete schon der Staatsakt, der im sogenannten
Bendlerblock in Berlin, dem ehemaligen Hauptquartier der Wehrmacht, zur
fünfzigsten Wiederkehr des 20. Juli stattfand, dem Tag des mißglückten
Attentats auf Hitler. Bundeskanzler Kohl erinnerte an das, wie er sagte,
noch uneingelöste Vermächtnis jener Männer des Widerstandes. Er sprach die
zurückliegenden Versuche an, angesichts der Verbrechen Hitler-Deutschlands,
als ihr Ausmaß erkennbar geworden war, in kollektive Ausreden und
Beschönigungen zu verfallen oder deutsche Verbrechen gegen andere
aufzurechnen. Unüberhörbar, gerade vor dem geschichtlichen Hintergrund und
Anlaß dieser Feier, klang die Warnung, mit Gleichmut das Erstarken radikaler
Kräfte hinzunehmen: »Wer politischen Extremismus als etwas Normales
verharmlost und dessen Intoleranz als falsch verstandenen Großmut toleriert,
der versündigt sich gewollt oder ungewollt an unserer Demokratie.« Man müsse
sich gemeinsam gegen die Anfänge wehren.
Im Januar 1995 dann die erschütternde
Zeremonie auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Auschwitz,
seit 1941 zum Schauplatz des größten Massenmords in der Geschichte der
Menschheit ausgebaut. Der Bundespräsident wohnte der Feier zum fünfzigsten
Jahrestag der Befreiung ebenso bei wie einige Monate später, im April, im
Beisein des Kanzlers und namhafter Öffentlichkeitsvertreter der
Gedenkveranstaltung in Bergen-Belsen. Die ehemaligen Lager Sachsenhausen,
Ravensbrück, Dachau und andere waren weitere Stationen, an denen führende
deutsche Politiker eine Bilanz jener furchtbaren Jahre zogen und dem
leichtfertigen Vergessen die Kraft des Gedächtnisses gegenüberstellten, mit
der Verpflichtung für jeden, diese Kraft zu nutzen und Lehren aus der
Vergangenheit zu ziehen.
Ähnlich äußerte sich Bischof Klaus Engelhardt
von der Evangelischen Kirche Deutschlands am 8. Mai jenes Gedenkjahrs im
Berliner Dom: »In die Rufe nach einem Schlußstrich unter die Vergangenheit
können Christen nicht einstimmen. Wer das Gedächtnis verliert, verliert die
Orientierung. Wer vergißt, was geschah, reißt den Wegweiser für einen Weg in
eine bessere Zukunft aus. Das gilt besonders im Verhalten zum jüdischen
Volk, das gilt auch für unsere Verpflichtung, Minderheiten zu schützen.«
Was die katholische Kirche angeht, so
erklärten ihre Bischöfe öffentlich, die Erinnerung an die
Auschwitz-Befreiung sei Anlaß für die deutschen Katholiken, erneut ihr
Verhältnis zu den Juden zu überprüfen. »Wir müssen alles tun, damit Juden
und Christen in unserem Land als gute Nachbarn miteinander leben können.« Wo
es möglich sei, heißt es im Bischofswort, sollten christliche und jüdische
Gemeinden Kontakt miteinander pflegen. Ungeachtet des großen Beitrags, den
Juden zur Entwicklung der deutschen Kultur und Wissenschaft leisteten, habe
die »antijüdische Einstellung auch im Kirchenbereich« mit dazu geführt, daß
Christen in den Jahren des Dritten Reiches »nicht den gebotenen Widerstand
gegen den rassistischen Antisemitismus geleistet haben«. Versagen und Schuld
unter Katholiken seien vielfach die Folge gewesen.
Es fehlte also von keiner Seite an
Eingeständnissen, Warnungen und Willensäußerungen, an öffentlichen
Bekenntnissen und Zeichen der Entschlossenheit, die Erinnerung an die
Vergangenheit nicht auf sich selbst beruhen zu lassen. Meine Frage, was der
Durchschnittsdeutsche dabei empfand, war damit noch nicht beantwortet. Vor
allem interessierte mich, wie junge Menschen darüber dachten.
Im Sommer 1995 folgte ich der Einladung zu
einer Begegnung mit etwa fünfzig Jugendlichen, die gerade ihr Abitur
abgelegt hatten. Das Thema des Gesprächs war der Friedensprozeß im Nahen
Osten, aber wie so oft wurde ich auch diesmal auf die Schreckenszeit unter
den Nazis angesprochen. Und wieder stand die Frage im Vordergrund, wie man,
fünfzig Jahre danach, mit dem nun einmal nicht auszulöschenden Stück
deutscher Vergangenheit umzugehen habe. Eine etwa Neunzehnjährige sprach es
direkt aus. »Sie haben natürlich bemerkt, wieviel in den letzten Monaten in
Deutschland über die Nazi-Zeit berichtet worden ist«, sagte sie. »Und dann
die vielen Veranstaltungen, die sich mit den Greueltaten der Nazis befassen
– meinen Sie nicht, daß man mit all dem übertreibt?«
Was sollte ich darauf antworten? Ich
versuchte, der jungen Frau zu erklären, daß niemand und nichts sie zwinge,
Radio- und Fernsehsendungen oder Zeitungsartikel über die NS-Zeit zu hören,
zu sehen oder zu lesen, einfaches Umschalten oder Weiterblättern genügten,
um solche Medienberichte, wie jeden anderen auch, zu ignorieren. Mit dieser
zugegeben lapidaren Antwort, die sie nicht erwartete, hatte ich die
Fragestellerin offenbar verletzt. Als ihr die Tränen kamen, meldete sich ein
Mitabiturient zu Wort. Aufgeregt und augenscheinlich selber betroffen, wies
er auf immer wiederkehrende Erfahrungen junger Deutscher bei Reisen ins
Ausland hin: »Sobald man da erfährt, daß wir Deutsche sind, hält man uns
unsere Vergangenheit vor. Wir werden als Nazis beschimpft und auch so
behandelt. Warum? Was haben wir oder unsere Eltern denn Schlechtes getan?
Ich glaube nicht mal, daß meine Großeltern sich unter den Nazis schuldig
machten. Und wenn doch – was kann ich dafür?«
Plötzlich fiel mir eine an sich belanglose
Geschichte ein, die meine Frau – wir waren damals erst kurz in Bonn –
erzählt hatte. Mit unserem Wagen, der ein deutsches Kennzeichen trägt, war
sie ohne Chauffeur auf der Rückfahrt von Brüssel. Noch vor der Grenze nach
Deutschland zwang eine Panne sie zum Halt am Rand der Autobahn und zur Suche
nach Hilfe – kein leichtes Unterfangen mitten in der Nacht, dazu in einem
fremden Land und mit unserem kleinen Sohn auf dem Rücksitz. Endlich, nach
vielen erfolglosen Versuchen, eines der vorbeikommenden Autos zu stoppen,
hielt jemand. Es war ein Deutscher. Er konnte die Panne wenigstens
notdürftig beheben und tröstete meine Frau mit dem Hinweis auf die Nähe der
deutschen Grenze: »Bis dahin sind es nur noch zwanzig Minuten.« Danach würde
sie, sollte es mit dem Wagen erneut Schwierigkeiten geben, immer und überall
problemlos Hilfe finden.
War das der Schlüssel zum besseren
Verständnis dessen, was dem Abiturienten so zentnerschwer auf der Seele lag?
Wir, meine Frau und ich, haben lange nicht begreifen können, weshalb man mit
Deutschen, auch mit deutschen Autofahrern, in den Nachbarländern
grundsätzlich anders umgehen sollte, als sie es, gerade in Notsituationen,
von daheim gewohnt sind. War Hilfsbereitschaft abhängig von der Nationalität
desjenigen, der Hilfe benötigte?
In Israel, berichtete der junge Mann aus der
Abiturientengruppe, habe er ganz andere Erfahrungen gemacht. Dreimal sei er
dort gewesen, stets höflich und korrekt behandelt. »Erst wenn man sich näher
kennengelernt hat, wird über die deutsche Vergangenheit gesprochen, aber
sachlich, ohne Beschimpfungen oder Beleidigungen. Man will wissen, was wir
wissen, wie unsere Meinung ist. Kurz, man versucht, sich vernünftig mit uns
zu unterhalten.«
Ähnliches berichtet Inge Deutschkron in ihrem
Buch »Israel und die Deutschen – das schwierige Verhältnis« aus länger
zurückliegenden Jahren, aus der Zeit des Eichmann-Prozesses. Als Kronzeugen
nennt sie einen Journalisten der »Süddeutschen Zeitung«, der als
Korrespondent nach Jerusalem gereist war. Er war sich der Schwere seiner
Mission bewußt. Statt aber, wie erwartet, auf kühle oder gar feindselige
Distanz zu stoßen, begegnete er betonter Freundlichkeit und ständiger
Hilfsbereitschaft. Dabei war ihm allerdings bewußt, daß, wie er in seiner
Zeitung schrieb, »die Noblesse der Gastfreundschaft kein Unterpfand dafür
sein konnte, daß die Probleme zwischen Juden und Deutschen gelöst wären«. So
hätten denn auch die meisten Israelis, die sich hilfsbereit und freundlich
zeigten, später eingeräumt, daß sie sich sehr vor der Begegnung mit den
Deutschen gefürchtet hatten. Und immer wieder sei es in den Unterhaltungen
um diese eine Frage gegangen: »Wie konnte es geschehen, daß ein Volk, das
Musik liebt, das ein so inniges Verhältnis zu Tieren hat, ein so fleißiges,
tüchtiges und strebsames, ein so korrektes Volk, das größte Verbrechen der
Menschheitsgeschichte möglich machte oder es zumindest zugelassen hat.«
Die Beobachtungen dieses Mannes, der über den
Eichmann-Prozeß berichtete, liegen mehr als drei Jahrzehnte zurück.
Inzwischen sind neue Generationen herangewachsen, in Israel wie in
Deutschland. Nicht nur auf politischer Ebene haben sich die Beziehungen
zwischen beiden Ländern entscheidend verbessert, auch die Jugendlichen auf
beiden Seiten haben zueinander ein entspannteres Verhältnis gewonnen, und
das, ohne auch nur den geringsten Abstrich an den Verbrechen der NS-Zeit
vorzunehmen. Hierin zeigt sich, glaube ich, der Erfolg der zahllosen
deutsch-israelischen Jugendtreffen, aber auch der Einzel- und Gruppenreisen
junger Leute von einem Land ins andere.
Natürlich muß man sich, auf beiden Seiten,
vor Verallgemeinerungen hüten. Jenem Abiturienten aber, dessen
Israel-Eindrücke sich nach eigenen Worten so auffallend von den Erfahrungen
in anderen Ländern unterscheiden, konnte ich wenigstens einen, vielleicht
den wichtigsten Grund dafür nennen. Es ist das Wissen um den Ernst der
Probleme, der es jungen Israelis, aber auch vielen älteren nicht gestattet,
oberflächlich darauf zu reagieren, etwa mit Beschimpfungen. Außerdem weiß
man genau, daß das heutige Deutschland nichts mit dem Dritten Reich
gemeinsam hat, trotz der laufend wiederkehrenden Ausschreitungen von
Neonazis und der Berichte darüber in den israelischen Medien. Lichterketten
und ähnliche Protestaktionen in Deutschland verfehlen auch in Israel nicht
ihre Wirkung.
Auf eine Frage habe ich seit meiner Ankunft
in Deutschland keine klare und erschöpfende Antwort erhalten. Mich
interessiert schlicht, welche Rolle die NS-Zeit in den Lehrplänen, vor allem
aber im täglichen Unterricht der Schulen spielt. Nachdem Themen aus der
jüngeren deutschen Geschichte möglichst umgangen oder allenfalls beiläufig
und am Rande behandelt wurden, setzte in den siebziger Jahren in den
öffentlichen Schulen eine Neubesinnung ein. In den Jahren von 1980 bis 1985
war ein deutsch-israelischer Ausschuß tätig, der Fragen der Stoff- und
Wissensvermittlung, soweit sie die Zeit nach 1933 betrafen, nachging und
entsprechende Empfehlungen ausarbeitete.
Mangels ausreichender Informationen, wie
Kinder an deutschen Schulen an die Jahre der Hitler-Diktatur herangeführt
und mit deren Verbrechen bekanntgemacht werden – wahrscheinlich gibt es
Unterschiede zwischen den einzelnen Bundesländern, Unterschiede womöglich
sogar von Stadt zu Stadt und von Schule zu Schule –, versuche ich selber,
mir wenigstens ein ungefähres Bild zu verschaffen: Was wissen jüngere Leute,
die am Anfang ihrer Ausbildung stehen oder sie gerade beendet haben, über
die Nazi-Zeit? Woher haben sie ihr Wissen, hatten sie überhaupt Gelegenheit,
ein politisches Bewußtsein zu entwickeln?
Solche mehr privaten Erkundungen, so zufällig
und subjektiv sie sind, geben über den eigentlichen Anlaß hinaus oft
interessante Aufschlüsse über die Denkweise und Mentalität der Deutschen
oder doch wenigstens eines großen Teils von ihnen. Dabei kommen mir wieder
die Sicherheitsbeamten zu Hilfe, die jungen Männer, die mich nun schon seit
Jahren begleiten, zuverlässig, aufmerksam und gewissenhaft, nicht nur als
Deutschlehrer.
Auf einer Fahrt durch Deutschland mit
wechselnden Übernachtungsorten entdeckte ich im Fernsehprogramm einer
Zeitung einen französischen Film aus den sechziger Jahren, »Die Überquerung
des Rheins« mit Charles Aznavour in der Hauptrolle. Obwohl ich ihn schon
kannte, beschloß ich, ihn mir abends im Hotel anzusehen. Da er im Zweiten
Weltkrieg spielt und vom Schicksal zweier französischer Kriegsgefangener in
Deutschland handelt, empfahl ich ihn auch meinen Begleitern, in der Annahme,
sie würden darin ein Stück Vergangenheit ihres eigenen Landes
wiedererkennen.
Es ist eine anrührende, nachdenkenswerte
Geschichte, die der Film erzählt. Beide Gefangene, der eine ein
Intellektueller, der andere aus einfachen Verhältnissen, sind in einem
kleinen Dorf als Zwangsarbeiter in der Landwirtschaft eingesetzt. Der eine,
der Intellektuelle, hängt Fluchtgedanken nach und erfüllt sich eines Tages
den Traum, in die Befreiungsarmee de Gaulles einzutreten. Der andere geht so
pflichtbewußt der Arbeit nach, daß sich allmählich eine Art
Vertrauensverhältnis zwischen ihm und der deutschen Dorfgemeinschaft
entwickelt, deren männlicher Teil sich, weil für den Kriegsdienst gebraucht,
immer mehr reduziert. Mit gemischten Gefühlen tritt der im Dorf allgemein
beliebte Mann nach der Befreiung durch seine Landsleute die Rückreise nach
Frankreich an. Die Verhältnisse, die ihn dort erwarten, sind mehr als
bescheiden. Immer öfter, immer sehnsüchtiger denkt er zurück an »sein« Dorf
in Deutschland. Schließlich überquert er den Rhein, verzichtet freiwillig
auf die Heimat und tauscht sie ein gegen den Ort seiner Gefangenschaft.
Als ich am nächsten Tag einen meiner
Begleiter nach seiner Meinung zu dem Film fragte, den auch er in seinem
Hotelzimmer gesehen hatte, zögerte der Dreißigjährige mit der Antwort. »So
toll« habe er ihn nicht gefunden, ältere Leute würden ihm wahrscheinlich
mehr Interesse abgewinnen. Die Art der Reaktion überraschte mich. Immerhin
erschienen in diesem französischen Kriegsfilm die Deutschen in einem betont
freundlichen Licht. Mußte ihnen das nicht gefallen? Bald darauf kamen wir
auf den Film und seine Handlung zurück, und nun erfuhr ich Einzelheiten, die
mich der Antwort auf meine Frage näherbrachten.
Er stamme selbst aus einem Dorf, sagte der
junge Mann, aus einer ähnlich ländlichen Umgebung, wie sie der Film zeige.
»Ich kenne Geschichten aus dem Krieg von meinen Eltern, die sie wiederum von
ihren Eltern hörten. Deshalb weiß ich, daß der Film nicht die Wahrheit
darstellt. Wie es bei den Franzosen aussah, kann ich nicht beurteilen, bei
uns jedenfalls ging es anders zu, als der Film behauptet. Fremden, Franzosen
gegenüber verhielt man sich nicht so entgegenkommend, schon gar nicht, wenn
sie Kriegsgefangene waren.« Das gab zu denken, und so schloß ich die Frage
an, die ich oft stelle: »Was haben Sie in der eigenen Schulzeit von den
Nazis mitbekommen?«
»Wenig«, sagte er, »viel zu wenig.« »Und was
heißt das: wenig?« »Na ja, man hat uns schon aufgeklärt, hat uns auch ein KZ
besichtigen lassen und uns dort einen Tag mit dem Nazi-Terror konfrontiert.
Aber das alles reichte bei weitem nicht, hätte ich nicht alleine
weitergelesen und mich informiert, ich glaube, ich hätte das alles nicht
verstehen können.« Ich fand die Antwort deshalb so erfreulich, weil sie die
Richtigkeit einer Grundregel für den Umgang mit Schulkindern bestätigte: Es
genügt, wenn man Ansatzpunkte schafft und Interessen weckt, den Antrieb, von
selbst weiterzulernen. Mehr kann man als Lehrer, überhaupt als Erwachsener
nicht tun.
Kinder werden für Erlebnisberichte aus der
Nazi-Zeit um so aufgeschlossener, wenn sie erfahren, daß jüdische Mädchen
und Jungen in ihrem Alter damals keineswegs weniger zu leiden hatten als
ihre Eltern oder Großeltern. Oft war es gerade ihre Hilf- und
Schutzlosigkeit, die das Leid verdoppelte.
Mit Wolfgang Thierse, dem stellvertretenden
SPD-Vorsitzenden, besichtigte ich eines Tages ohne besonderen Anlaß im
Ostteil Berlins Thierses Heimatbezirk Prenzlauer Berg. Auf dem alten
Jüdischen Friedhof an der Schönhauser Allee, bekannt als Begräbnisplatz
namhafter Kaufleute und Künstler, standen wir vor dem monumentalen
Grabstein, der den Namen des Malers Max Liebermann trägt. Liebermann, 1933
von den Nazis als Präsident der Akademie der Künste abgesetzt, starb zwei
Jahre später eines natürlichen Todes, allseits beliebt, geachtet und geehrt,
und Thierse erzählte, mit welch bedrohlichem Argwohn die Nazis die
Beisetzung verfolgten und genau registrierten, wer alles, Jude oder
Nichtjude, dem berühmten Künstler die Ehre des letzten Geleits erwies. Etwa
vierzig Freunde und Kollegen waren es, darunter Käthe Kollwitz und Ferdinand
Sauerbruch, die sich nicht abschrecken ließen – jeder schon damals, 1935,
Beispiel eines nicht ganz alltäglichen, risikobereiten Muts.
Thierse deutete auf einen anderen Grabstein,
auffallend hell, fast weiß, verhältnismäßig klein und mit Blumen geschmückt.
Vera Frankenberg, die hier ruht, ist nur vierzehn geworden – geboren 1931,
gestorben im April 1945, kurz vor Kriegsende. Sie war, wie ich erfuhr,
Halbjüdin, ihre Mutter haben die Nazis umgebracht. Der Vater durfte sie, da
er Nichtjude war, behalten, bei Fliegeralarm aber mußte sie allein in der
Wohnung bleiben, Halbjuden war der Zutritt zum Luftschutzkeller untersagt.
So war bei den zahllosen Bombenangriffen auf Berlin der Tod des Mädchens
fast programmiert. Als der Vater nach einem der letzten Angriffe den Keller
verließ, war Vera Frankenberg, schutzlos und allein, von Trümmern
erschlagen. Der Vater soll, sagte Wolfgang Thierse, noch am Leben sein. Noch
immer von Schuldgefühlen und Selbstvorwürfen heimgesucht, pflegt er
regelmäßig das Grab und den Stein.
Die Erinnerung an Bombennächte während der
Kriegsjahre und die Spuren, die es davon in deutschen Städten noch heute
gibt, haben nach meinem Eindruck nirgendwo eine so stark bewußtseinsprägende
Kraft erlangt wie in Dresden. Als ich die Stadt zum erstenmal sah, wunderte
ich mich zunächst über die Inschrift am Eingangstor des Zwingers. Sie
spricht von anglo-amerikanischen Bomberverbänden, die am 13. Februar 1945
die Innenstadt und fast völlig auch den Zwinger zerstörten. Aber waren nicht
auch andere deutsche Städte im Zweiten Weltkrieg, manche noch später als
Dresden, mehr oder weniger dem Boden gleichgemacht worden? Dunkel vermutete
ich auch, daß für den Mythos der fast totalen Vernichtung, der sich mit dem
Namen Dresdens verbindet, die DDR-Propaganda verantwortlich sei, teilweise
zumindest. Der permanent wiederholte Hinweis auf die »Anglo-Amerikaner« und
ihren »Bombenterror« sollte, dachte ich, nur vom Zerstörungswerk russischer
Truppen gegen Kriegsende ablenken.
Dann aber erfuhr ich Näheres vom
Oberbürgermeister der Stadt, Herbert Wagner. Er berichtete, 1945 habe kaum
jemand noch mit Luftangriffen gerechnet, weil der Krieg fast zu Ende und
Dresden ohne jeden militärischen Wert, dafür aber eine alte,
traditionsreiche Kulturstadt war, voller Kunstschätze und weltberühmter
Bauten. Die Frage blieb, warum die Alliierten trotzdem so überraschend und
gründlich zuschlugen – auch die Memoiren von Churchill, Eisenhower und
anderen gaben keine Antwort. Nur ein Bundeswehrgeneral gab mir eine
einleuchtende Erklärung: Der Angriff sei eine Art Verzweiflungsschlag
gewesen, ausgeführt zu einer Zeit, da der Krieg nach Vorstellung der
Alliierten längst hätte beendet sein müssen. Die Hoffnungen und Pläne, die
man an die Invasion in der Normandie im Juni 1944 knüpfte, hätten sich nur
langsam, viel zu langsam erfüllt, und der Abwehrwille der deutschen
Bevölkerung sei unterschätzt worden.
Wie auch immer, Dresdens Tragödie ist als
solche nicht von allen Einwohnern erlebt worden. Sogenannte Halbjuden sowie
Juden, die in Mischehen lebten, die letzten Verfolgten, derer man habhaft
werden konnte, sollten, wie der Romanist Victor Klemperer berichtet, am 16.
Februar zu einem »auswärtigen Arbeitseinsatz« transportiert werden, doch da
gab es keine Gestapo-Dienststellen mehr, keine Karteikarten, keine Akten.
Die Deportation, aus der es sonst wohl kein Entkommen gegeben hätte, war am
Bombenhagel gescheitert.
Keinem der öffentlichen Gedenktage, die 1995
in Deutschland begangen wurden, habe ich mit so zwiespältigen Erwartungen
entgegengesehen wie dem zum Untergang von Dresden. Nicht, daß ich um einen
würdigen Verlauf fürchtete. Im Unterschied zu allen anderen Anlässen aber
sollte hier noch einmal eines Ereignisses gedacht werden, das über allen
noch sichtbaren Spuren ein Symbol ist für das Leid, das den Deutschen selber
angetan wurde. Die Emotionen, die sich mit der Erinnerung an diesem Tag
einstellen mußten – würden sie nicht eine zu große Belastung für den noch
gefährlich dünnen Boden sein, auf dem sich bisher die Auseinandersetzung mit
der Vergangenheit vollzog? Doch die Sorge erwies sich als unbegründet.
»Wer Wind sät, wird Sturm ernten.« Das
Bibelwort zitierte der Kommentator der ARD-Tagesthemen am Vorabend der
Feier, mit der die sächsische Landeshauptstadt ihrer Zerstörung vor fünfzig
Jahren gedachte. Er nahm damit gleichsam den Tenor vorweg, der am nächsten
Tag die offiziellen Gedenkreden bestimmte. »Wir wollen nicht vergessen, daß
Dresden im Rahmen eines Krieges zerstört wurde, den eine deutsche Regierung
vom Zaun gebrochen hatte«, sagte Bundespräsident Herzog. Er nutzte die
Gedenkstunde für die Opfer der Dresdener Tragödie, um auch an die zu
erinnern, »die verfolgt und getötet wurden, weil sie einem anderen Volke
angehörten, einer anderen Rasse zugerechnet wurden oder deren Leben wegen
einer Krankheit oder Behinderung als lebensunwert bezeichnet wurde«.
Damit war unüberhörbar ein Thema
angesprochen, das in diesem Augenblick, aus diesem Anlaß und an diesem Ort
vielleicht manchem mißfiel. Doch die Zusammenhänge, auf die Herzog verwies,
blieben: Der Wind, den das Hitler-Regime gesät hatte, endete buchstäblich in
den Feuerstürmen, die noch Tage nach dem Luftangriff durch das zerstörte
Dresden tobten, ein Inferno, das mehr als den Untergang einer Stadt zu
besiegeln schien.
Andererseits hätte es nicht überrascht, wenn
sich im Gedenkjahr 1995, angesichts der Vielzahl von Veranstaltungen im
Zeichen der Trauer um Millionen Kriegsopfer und Holocaust-Tote, in der
Bevölkerung eine gewisse Ermüdung gezeigt hätte, Überdruß oder auch Kritik,
ähnlich vielleicht der Stimmung, welche die junge Abiturientin meinte, als
sie, bezogen auf die Feierstunden, von Übertreibung sprach. War der
Rückblick der Deutschen auf den Krieg, den sie entfesselt und vor fünfzig
Jahren verloren hatten, wirklich so ungeteilt, wie es den Anschein hatte?
Eine Unterhaltung mit »Spiegel«-Redakteuren
in Hamburg überzeugte mich. Man habe die Reaktion der Deutschen auf
Medienveröffentlichungen zum Zweiten Weltkrieg vorher nicht ohne weiteres
einschätzen können, hieß es. Trotzdem beschloß die Redaktion, im Januar 1995
eine Ausgabe des Magazins dem Jahrestag der Befreiung von Auschwitz zu
widmen, mit dem berüchtigten Lagertor als Titelbild. Es wurde zur
Überraschung vieler im Haus und entgegen aller skeptischen Erwartungen das
meistverkaufte Heft. Der Erfolg war deshalb so bemerkenswert, weil nur etwa
zehn Prozent jeder Ausgabe an Abonnenten gelangen, neunzig Prozent werden in
Geschäften und Kiosken verkauft.
Ähnlich äußerten sich, wenn ich mit ihnen
zusammenkam, Vertreter anderer Medien. Alle versicherten, jenseits
moralischer Verpflichtungen und losgelöst von kommerziellen Interessen der
Sender und Verlage habe in der deutschen Öffentlichkeit ein ungewöhnlich
starkes Bedürfnis nach gründlicher und umfassender Information über den
Krieg und das Ende des Nazi-Reichs vorgelegen. Solche Auskünfte, so
erfreulich sie mit anderen übereinstimmen, sind für einen erst seit wenigen
Jahren hier lebenden ausländischen Beobachter natürlich zu allgemein, um von
der Einstellung der Deutschen zu ihrer Vergangenheit ein genaueres Bild zu
erhalten. Die öffentliche Meinung ändert sich, Erkenntnisse, die vor Monaten
oder Wochen als gesichert galten, altern rasch, sind bald überholt.
Regelmäßige, in Abständen durchgeführte Umfragen gehen solchen Entwicklungen
nach, halten ihren jeweiligen Stand wie mit einer Stoppuhr fest und lassen
meist auch Rückschlüsse auf ihre Ursachen zu.
Interessant waren schon die Ergebnisse von
Umfragen, die 1994 vor dem Hintergrund der Ein- beziehungsweise Ausladung
Deutschlands zu den Feierlichkeiten anläßlich des fünfzigsten Jahrestags der
Invasion in der Normandie veröffentlicht wurden. Sie decken sich im
wesentlichen mit Resultaten, die im darauffolgenden Jahr die Reaktion der
Deutschen auf die Kriegsschuldfrage und die Niederlage ihres Landes 1945
festhielten: 56 Prozent aller Befragten sahen die Schuld am Ausbruch des
Zweiten Weltkriegs ausschließlich bei Deutschland, das den Krieg gewollt
habe; 64 Prozent hielten die Niederlage für gut und gerecht. Nur dreizehn
Prozent waren gegenteiliger Auffassung. Auffallend war, daß die Niederlage
von der jüngeren Generation noch von einem weit höheren Prozentsatz als
positiv empfunden wird, nämlich von 72 Prozent. Und 67 Prozent beantworteten
die Frage, ob sie in Deutschland leben wollten, wenn Hitler den Krieg
gewonnen hätte, klar mit »nein«.
Nicht weniger aufschlußreich sind die
Meinungen zur Gefahr des heutigen Rechtsradikalismus. Die Mehrheit, 53
Prozent, bejahte die Frage, ob die Neonazis das gleiche beabsichtigten wie
einmal Hitlers Nationalsozialisten, nur sechzehn Prozent verneinten sie.
Damit in Zusammenhang steht, ob sich der Nationalsozialismus in Deutschland
wiederholen könne. Mehr als die Hälfte, 54 Prozent, verneinte die Frage,
während es immerhin 42 Prozent sind, die ein Wiederaufleben der
Nazi-Ideologie in Deutschland für nicht ausgeschlossen halten.
1945 – für die Deutschen das Jahr der
Niederlage oder der Befreiung? Als vierzig Jahre danach der damalige
Bundespräsident das Schicksalsjahr klar als Jahr der Befreiung definierte,
war diese Formel noch ziemlich umstritten. Auch in den Jahren darauf hielt
die Diskussion an. Vielleicht war man sich dessen in Deutschland nicht so
bewußt, die Weltöffentlichkeit aber, auch Israel, hat aufmerksam den Verlauf
des Meinungsstreits, soweit er öffentlich ausgetragen wurde und sich in
Umfrageergebnissen spiegelte, verfolgt. Von Anfang an wich in den Antworten
auch zu dieser Frage die Meinung der jungen Generation deutlich von der
Einstellung des älteren Bevölkerungsteils ab. Heute sind es 69 Prozent aller
Ost- und Westdeutschen, die 1945 als Jahr der Befreiung ansehen, nur
dreizehn Prozent begreifen es als Jahr der Niederlage. Von den nach 1940
Geborenen ist es nur jeder zehnte, während 74 Prozent das Jahr des
Kriegsendes ohne Vorbehalt als Befreiungsjahr empfinden.
Zwei Punkte in den Ergebnissen dieser Umfrage
scheinen besonders interessant. So fällt zunächst auf, daß in den neuen
Bundesländern, im Unterschied zu den alten, mehr Bürger zu der Auffassung
neigen, Deutschland habe 1945 keine Befreiung, sondern eine Niederlage
erlebt. Dabei hat gerade die DDR-Propaganda, mit dem Blick auf die
Sowjetunion, mit großem Nachdruck stets die Befreiungstheorie verbreitet;
der Jahrestag der deutschen Kapitulation galt offiziell als »Tag der
Befreiung« und wurde entsprechend gefeiert. Zum anderen geht aus der Umfrage
hervor, daß sich die Anhänger der Republikaner überraschenderweise zu etwa
gleichen Teilen ebenso zum Jahr 1945 als Jahr der Niederlage wie als Jahr
der Befreiung bekennen. An die zweite Hälfte wäre die Frage zu richten,
weshalb sie dann ausgerechnet mit dieser Partei sympathisiert.
Natürlich sieht man nicht überall im Ausland
in Umfrageergebnissen, die sich auf die Haltung der Deutschen gegenüber
ihrer Vergangenheit beziehen, Beweise eines tatsächlichen Wandels. So wird
den Deutschen nachgesagt, sie würden nur aus zynischem Interesse ihre
Niederlage als Befreiung definieren, um sich von Schuldgefühlen zu befreien.
Das aber würde auf eine Opferrolle der Deutschen hinauslaufen und auf eine
unzulässige Gleichstellung mit anderen europäischen Völkern, die wirkliche
Opfer waren. Ich sehe das, auch nach Gesprächen, die ich hatte, nicht so.
Ein älterer Herr versicherte mir – es klang glaubhaft –, für ihn sei das
Jahr 1945 lange eine »Tragödie« gewesen; erst spät habe er begriffen, daß
das Kriegsende nicht nur den besetzten europäischen Ländern, sondern auch
Deutschland und den Deutschen Befreiung und Erlösung brachte. Welche Gründe
es auch dafür geben mag, daß die Mehrheit der Deutschen den Zusammenbruch
des Dritten Reiches als Befreiung wertet, es bedeutet auf jeden Fall, daß
sie, um es eher untertrieben zu formulieren, die NS-Zeit negativ
einschätzen, und dies allein scheint wichtig für die Zukunft.
Während meiner Pariser Zeit lernte ich über
Claus von Amsberg, der mit ihm seit den Nachkriegsjahren befreundet ist,
einen deutschen Auslandskorrespondenten kennen, August Graf von Kageneck.
»Gusti«, wie er genannt wird, ist mit einer Französin verheiratet, die ihren
ersten Mann im Algerienkrieg verlor; Kageneck hat ihre Kinder adoptiert.
Ganz bewußt versuchte er, den ihm in der Jugend eingeprägten
Nationalsozialismus zu überwinden und sich, vor allem auf persönlicher
Ebene, mit dem einstigen »Erzfeind« Frankreich zu befreunden. Als ich ihn
das erste Mal sah, deutete nichts auf irgendwelche Nazi-Sympathien hin. Wir
sprachen auch nicht über solche Dinge, weil ich mich dazu noch nicht in der
Lage fühlte.
Eines Tages schickte er mir ein gerade von
ihm veröffentlichtes Buch. Unter dem Titel »Lieutenant sous la Tète de Mort«
– 1994 unter einem anderen Titel neu verlegt – schildert es seine
Kriegserlebnisse als Panzeroffizier – eine Hymne auf glorreiche Zeiten eines
jungen, stolzen und tapferen Soldaten, der den Krieg – frisch, fröhlich,
frei – wie ein harmloses Räuber- und Gendarmspiel mitmacht. Versuche, den
Nationalsozialismus zu rechtfertigen, waren aber nicht zu entdecken. Ich sah
das Buch nur oberflächlich durch, allerdings mit unguten Gefühlen, und hatte
hinterher meine Schwierigkeiten, die Freundschaft zu einem Mann
fortzusetzen, einem ehemaligen Hitler-Offizier, der nach so langer Zeit
seinem Kriegsdienst noch positive Seiten abgewann.
Kageneck war mit seiner Frau von Paris nach
Bonn übergesiedelt, als ich ihn dort wiedertraf, mehr als zwanzig Jahre nach
unserer ersten Begegnung. Diesmal hatten weder er noch ich Schwierigkeiten,
über die Vergangenheit zu reden. Er betätigte sich noch als Journalist,
lebte ansonsten aber im Ruhestand. Offensichtlich hatte er Zeit gehabt, sich
mit den Verbrechen des Dritten Reiches eingehender zu beschäftigen. So
erklärte er, er könne die Revisionisten, die den Holocaust leugnen und die
»Auschwitzlüge« verbreiten, schon lange nicht mehr unterstützen, bereits in
den siebziger Jahren habe er von einem Historiker, welcher der Waffen-SS
angehört hatte, also von authentischer Seite, die Tatsache der Vergasung von
Juden bestätigt bekommen. Es war etwas peinlich zu hören, daß er so lange
gebraucht, daß es erst eines Zeugen, der den Tätern nahestand, bedurft hat,
um ein geschichtliches Faktum zu akzeptieren.
Inzwischen sind die Kagenecks zurück in ihrem
geliebten Paris. 1996 sandte mir »Gusti« sein neuestes Buch, wieder
in Französisch, »Examen de Conscience« (Gewissenserforschung), dessen
Untertitel sinngemäß etwa lautet: »Wir waren besiegt, hielten uns aber für
schuldlos.« Anders als das erste las ich es sorgfältig und nicht ohne
Anteilnahme. Noch immer ist darin etwas vom Stolz des jungen Offiziers zu
spüren, zugleich aber werden dessen innere Konflikte deutlich. Augenzeugen
berichten ihm über die Ermordung von Juden, von der Ausrottung ganzer
Bevölkerungsteile einer Stadt, die er zwei Tage vorher erobern half. Er
befaßt sich mit der Rolle der Aristokratie, der er entstammt, der Rolle des
Offizierskorps und des Großbürgertums bei der Machtergreifung Hitlers, und
er geht auch der Frage nach, welchen Anteil die Wehrmacht an den furchtbaren
Verbrechen im Zuge des »Vernichtungskriegs«
hat.
Nicht jeder wird die letztlich auf Versöhnung
gerichtete Suche nach einer Auseinandersetzung mit den Opfern nachvollziehen
können, die aus dem Buch spricht. Nur zu gut läßt sich vorstellen, daß vor
allem Nazi-Verfolgte Kagenecks »Gewissenserforschung« als blauäugig oder
unglaubwürdig, wenn nicht als Heuchelei abtun. Andererseits: Wer oder welche
Umstände zwangen den Autor zu dieser öffentlichen Abrechnung mit sich
selbst? Gegenüber den Gleichgültigen und Reuelosen ist mir jedenfalls ein
Mann lieber, der, nachdem er es in jungen Jahren noch nicht vermochte oder
wollte, die Auseinandersetzung mit der problematischen Vergangenheit erst im
späteren Leben vornimmt. Insofern läßt mich auch die neue, einsichtige
Sensibilität des Grafen von Kageneck leichter begreifen, weshalb auch die
ältere Generation der Deutschen das Jahr 1945 erst heute mehr als Jahr der
Befreiung versteht.
Es ist, ohne jeden Zweifel, ein Verständnis,
das auch auf die Nachkommenden wirkt. 
Nächster Teil

Inhaltsverzeichnis
Erschienen 1997 beim Ullstein-Verlag, Berlin
|