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Bücher / Morascha
Koscher leben...
Jüdische Weisheit
 
 

Avi Primor
»...mit Ausnahme Deutschlands«
Als Botschafter Israels in Bonn

VIII.Teil

Vermächtnisse und Perspektiven

Vieles spricht dafür, daß der öffentliche Meinungswandel zur Nazi-Vergangenheit, wie er sich in den Antworten auf die Alternativfrage »Niederlage oder Befreiung« spiegelt, auch mit einer neuen Einstellung zur Geschichte des deutschen Widerstands zusammenhängt.

Die Erinnerung an das mißlungene Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 ist von der Bundesregierung zwar seit langem institutionalisiert, die Bevölkerung aber tat sich schwer damit. Nur zögernd hat man begreifen wollen, daß es Deutsche gab, die mit der Beseitigung Hitlers ein rasches Ende des Krieges und die Einsetzung einer neuen Regierung anstrebten. Wie viele waren es, die damals, aber auch noch lange danach, die Verschwörer als Verräter betrachteten? Wie groß mag die Anzahl derer gewesen sein, die auch in Mitbürgern, die Nazi-Verfolgten das Leben retteten, Gegner des »Volkswillens«, also ebenfalls Verräter sahen? Und wie viele Retter mochten nach dem Krieg ihre Geschichte nicht offenbaren, aus begründeter Scheu, als »Nestbeschmutzer« verachtet zu werden?

Die Beschäftigung mit der Geschichte des Widerstands im Dritten Reich sollte nicht nur Deutschen eine selbstverständliche Pflicht sein. Auch Israel und die Juden können daraus Lehren ziehen. Nicht, daß man keine Kenntnis vom Ablauf der Verschwörung hätte, die an unglücklichen Zufällen gescheitert ist, doch der Respekt vor den Verschwörern selbst ist meist gering, relativiert durch die Tatsache, daß es sich vorwiegend um Männer handelte, die in gehorsamer Treue dem »Führer« gedient und in der Nazi-Hierarchie wichtige Posten bekleidet hatten. Natürlich, so wird argumentiert, begriffen diese Leute 1944, daß der Krieg verloren war und damit auch jedes Privileg, mit dem das Regime sie ausgestattet hatte. Der Widerstand war kein Widerstand als solcher, sondern der verzweifelte Versuch, zu retten, was noch zu retten war. Bedauerlich zwar, daß ihr Wagnis so schlimme Folgen zeitigte, daß zwischen dem
20. Juli 1944 und dem Mai 1945 noch Millionen Menschen umkamen, darunter auch unzählige Juden in den Todeslagern. Alles Leid, alle Opfer der letzten zehn Kriegsmonate wären der Welt erspart geblieben. »Große Gerechte« aber oder gar moralische Vorbilder waren die Männer, die den Umsturz versuchten, nicht.

Der Widerstand ging jedoch, wie man weiß, nicht nur von hohen Berufsoffizieren und Zivilbeamten im Staatsdienst aus. Und was die Männer vom 20. Juli betrifft, so kann man zwar nicht leugnen, daß viele von ihnen über lange Jahre »echte« Gefolgsleute Hitlers gewesen sind, Nazis also, Antisemiten, Anhänger der nationalsozialistischen Rassenlehre, auch überzeugte, wenn nicht begeisterte Teilnehmer an den Eroberungsfeldzügen im Krieg. Doch das traf eben nicht für alle zu, und es waren auch nicht alle, die erst 1944 zu der Erkenntnis kamen, das Hitler-Regime müsse beseitigt werden. Wie weit der Widerstand verbreitet war und wie hoch der Preis gewesen ist, den die Beteiligten für ihren Einsatz entrichteten, belegt Marion Gräfin Dönhoff in ihrem Buch »Um der Ehre willen« mit den Zahlen der Opfer: »Nach dem seit Jahren geplanten und dann fehlgeschlagenen Attentat wurden hingerichtet: 21 Generale, 33 Obersten, 2 Botschafter, 7 Diplomaten, ein Minister, 3 Staatssekretäre und der Chef der Reichskriminalpolizei, ferner mehrere Oberpräsidenten, Polizeipräsidenten und Regierungspräsidenten. Seit 1940/41 haben sich die Todesurteile der Militärgerichte jedes Jahr verdoppelt. 1944/45 waren es 8200. Der Volksgerichtshof verhängte im selben Jahr 2140.«

Unter den Verschwörern gab es nicht wenige, die spätestens schon 1933 die mit Hitler drohenden Gefahren abzuwenden suchten: Idealisten und Demokraten, gläubige Menschen, Gewerkschafter, Sozialisten und Kommunisten. Die Offiziere wiederum, die dem Widerstand angehörten, hatten vielfach Probleme mit dem Eid, den sie auf Hitler ablegen mußten. Er verpflichtete sie zu absolutem Gehorsam, während ihr Gewissen sie aufrief, alles zu tun, um das Unheil abzukürzen, das Hitler über die Welt gebracht hatte. Ob er selbst zu töten sei und auf welche Weise, war in den Kreisen des Widerstands eine der umstrittensten Fragen.

1979 verbrachte ich ein Wochenende bei Claus von Amsberg und seiner soeben zur Königin der Niederlande gekrönten Gattin Beatrix im Schloß Drakenstejn. Es war das letzte Wochenende vor dem Umzug des Paares in die Residenz Huis ten Bosch in Den Haag. Ebenfalls zu Gast war ein imponierend großer, mir unbekannter Deutscher. Er war beinamputiert und hatte überdies zwei Finger verloren. Da er mit Prinz Claus und mit Beatrix offensichtlich gut befreundet war, ließ sich mit Sicherheit darauf schließen, daß er weder Nazi gewesen noch einer ihrer Sympathisanten war. Trotzdem hatte ich Vorbehalte gegen diesen Mann, der mir ohne Titel und Prädikate als Axel Bussche vorgestellt worden war. Mich beschäftigte, ob er seine Verletzungen im Krieg erlitten hatte.

Meine zwiespältigen Gefühle gegenüber dem Gast ließen mich im Gespräch alle Themen vermeiden, die irgendwie mit der Nazi-Zeit zu tun hatten. Wir unterhielten uns über den Nahen Osten, sprachen über Fragen der Weltpolitik und kamen schließlich auf ein Thema, das uns beiläufig auch auf Hitler brachte. Es ging zunächst um Friedrich den Großen, dann auch um das Leben und Wirken Napoleons. Bussche war ein wenig überrascht, als er in mir, einem Juden, einen Bewunderer Napoleons entdeckte. Doch bald merkte er, daß die Hochachtung nicht unbedingt der militärischen Begabung des Feldherrn galt, sondern der genialen Vielseitigkeit dieses ungewöhnlichen Mannes, seiner Kompetenz auf fast jedem Gebiet.

So erzählte ich, was Napoleon für die französischen Juden getan hat. Um bis dahin nicht eingelöste Ideen aus der Zeit der Französischen Revolution zu verwirklichen, suchte er nach Wegen, den Juden Gleichberechtigung und Emanzipation zu verschaffen – kein leichtes Vorhaben, denn die Bevölkerung war traditionell in Vorurteilen befangen, und die Juden selbst in ihrer Isolation verharrten verkrampft in dem Gefühl, sich gegen alles wehren zu müssen, was sie betraf. Napoleon begriff, daß sich nach Jahrhunderten voller Vorbehalte auf beiden Seiten eine Wende nicht willkürlich herbeiführen ließ. Eine Annäherung würde nur nach sorgfältiger Prüfung aller Umstände, aber auch der Mentalität der jeweils Betroffenen möglich sein. So verfaßte der Kaiser unmittelbar vor der Schlacht von Jena, in der Nacht vom 13. zum 14. Oktober 1806, in seinem Zelt bei Landgrafenberg den Grundsatz zur Wiedereinführung des »Sanhedrin«, des Hohen Rats, der obersten jüdischen Gerichtsbehörde in Jerusalem, die bis zum Jahr 70 nach unserer Zeitrechnung bestand. Der neue Hohe Rat sollte nach den Vorstellungen Napoleons Wege finden, die Juden aus freien Stücken und mit ihrem Einverständnis in die französische Gesellschaft zu integrieren. Sie konnten Napoleons »Sanhedrin« nur deshalb akzeptieren, weil er auf dem Geist und den Traditionen des alten basierte. Allein Napoleons Einfühlungsvermögen, seiner Kenntnis des altjüdischen Rechts und seiner Beharrlichkeit ist es zu danken, daß aus seinem Vorhaben ein dauerhafter Erfolg wurde.

Der Deutsche hörte aufmerksam zu. Dieser Teil unserer Gespräche endete damit, daß er sinngemäß erklärte, seit den Erfahrungen der Welt mit Hitler hätte das Ansehen Napoleons zwar beträchtlich gelitten, zwischen beiden gebe es dennoch einen abgrundtiefen Unterschied.

Erst Tage später, am Telefon, erfuhr ich von Claus von Amsberg, wer Axel von dem Bussche – sein richtiger Name – war. Er, der sich nach dem Krieg unter anderem der Entwicklungshilfe für die Dritte Welt zugewandt hat, diente bis 1945 als Wehrmachtsoffizier, begeistert zunächst von den militärischen Erfolgen der Deutschen an allen Fronten, bis er 1942 Augenzeuge eines Massakers an Juden wurde. Von da an, nachdem er mit seinen Vorstößen bei Vorgesetzten, solchen Verbrechen entgegenzutreten, wenig ausrichtete, trug er sich mit dem Plan, Hitler zu töten. Er scheute nicht die Gefahr für das eigene Leben, war sich vielmehr bewußt, daß er sich, sollte das Attentat gelingen, selber opfern mußte. Eine geeignete Gelegenheit dazu schien 1943 gekommen, als man Hitler die Modelle neu entworfener Uniformen vorführen wollte, auf einer Art Modenschau mit dem »Führer« als oberstem Inspizienten und Gutachter. Bussche war darauf vorbereitet, unter dem Vorführmodell einer der Uniformen eine Bombe am Körper zu tragen, die Zündung zu betätigen, sobald Hitler in seine Nähe kam, und sich mit ihm in die Luft zu sprengen. Einen Tag vor der schon mehrfach verschobenen Veranstaltung machte ein Bombenangriff alle Vorkehrungen zunichte, das Gebäude wurde zerstört, die Uniformen verbrannten. Bussche kam an die Front zurück und wurde bald danach schwer verwundet.

Er sei von mir sehr angetan gewesen, sagte Claus von Amsberg, ich wußte jedoch nicht so recht, wieso. Abgesehen von der Napoleon-Geschichte, der er interessiert zuhörte, hatte ich nichts gesagt, was ihn in irgendeiner Weise hätte fesseln oder nachdenklich machen können, die Gespräche drehten sich eher um alltägliche, belanglose Dinge. Den Grund erfuhr ich erst Jahre später, als Claus und ich wieder auf die Begegnung mit dem Mann zurückkamen, der unter Aufopferung seiner selbst die Menschheit von Hitler erlösen wollte. »Bussche war deshalb so beeindruckt von dir«, sagte Amsberg, »weil du als Isreali überhaupt bereit warst, mit ihm zu sprechen.« Eigentlich unglaublich, dachte ich – der Held, der Widerstandskämpfer, der er war, er soll sich mir gegenüber gehemmt gefühlt haben? Ihn in Deutschland wiederzusehen, war leider nicht mehr möglich, Axel von dem Bussche ist seit längerem tot.

Sein Name steht exemplarisch für alle, die sich aus Verantwortungsgefühl, Glaubens- und Gewissensgründen und im Bewußtsein des schrecklichen Unrechts, dessen Zeugen sie wurden, dem Widerstand verschrieben haben, oft schon lange vor der Kriegswende. Widerstandskämpfer aber lassen sich auch jene Frauen und Männer nennen, die verfolgte Juden retteten. Nicht jeder Widerstandskämpfer half Juden retten, aber jeder Judenretter leistete Widerstand. Sein Leben und das seiner Angehörigen setzte er dabei ebenso entschlossen aufs Spiel wie die Verschwörer.

Bisher sind es nahezu dreihundertfünfzig Deutsche, die nach sorgfältiger Prüfung ihrer Geschichte durch Yad Vashem, die israelische Forschungs- und Gedenkstätte in Jerusalem, als Retter jüdischer Verfolgter anerkannt sind. Hin und wieder begegne ich solchen Menschen, und in Abständen darf ich dem einen oder anderen von ihnen im Namen von Yad Vashem den Ehrentitel »Gerechte/r unter den Völkern« verleihen und die Würdigung mit der Überreichung der Yad-Vashem-Medaille und -Urkunde verbinden. Jede Rettungsgeschichte ist ein Drama für sich, spannend und erschütternd zugleich, erstaunlich, voller Rätsel und mitunter fast unglaublich, wäre sie nicht durch Zeugen belegt wie die Geschichte Hans Calmeyers, eines Rechtsanwalts aus Osnabrück.

Der Jurist gehörte während der Kriegsjahre zum Verwaltungsstab der deutschen Besatzungsmacht in Holland. Im Reichskommissariat für die Niederlande stand er an der Spitze des Referats für Verwaltung und Rechtsangelegenheiten (Referat Innere Verwaltung) in Den Haag. In Calmeyers Zuständigkeit fiel unter anderem, den Status von Juden festzustellen, die nachweisen konnten, daß sie nach den Rassegesetzen der Nazis »nur« Halb- beziehungsweise weniger als Halbjuden waren.

Calmeyer ließ bei seinen Kontakten mit holländischen Anwälten an seiner ablehnenden Haltung gegenüber dem Nazi-Regime keinen Zweifel. Indem er falsche Abstammungsnachweise bewußt akzeptierte und wiederholt Listen mit den Namen jüdischer Bürger ausfertigte, die aus den verschiedensten Gründen von der Deportation freigestellt wurden, gelang es ihm, an die dreitausend holländische Juden zu retten, trotz des Argwohns, den seine Tätigkeit bei den SS- und SD-Dienststellen erregte. Bereits im Herbst 1942 wurde er angewiesen, keine Listen mehr zu erstellen, doch Calmeyer hielt sich nicht daran.

Kein Zweifel, die Deportationen niederländischer Juden wären rascher und im Sinne der Nazis reibungsloser verlaufen, hätte an Calmeyers Stelle ein gewöhnlicher deutscher Beamter gesessen. Calmeyer sorgte dafür, daß bedrohte Juden, deren Freistellungsanträge ihm vorlagen, eine Karenzzeit bekamen, die sie zu ihrem Vorteil nutzen konnten, etwa zur Suche von Verstecken. Andere wurden rechtzeitig vor der Gestapo gewarnt. Ohne die ebenso tatkräftige wie verschwiegene Hilfe von Mitarbeitern seines Büros hätte Hans Calmeyer die Rettungsaktionen nicht durchführen können. Einer der Helfer, schon vor längerer Zeit als »Gerechter unter den Völkern« anerkannt, wurde zur Wehrmacht versetzt, desertierte und schloß sich der holländischen Untergrundbewegung an. Die Hauptlast der Verantwortung aber lag bei Calmeyer selbst, der zunehmend Schwierigkeiten mit dem Reichssicherheitshauptamt bekam. Dessen Mittel reichten, dank der schwer durchschaubaren Tricks des Judenretters, nicht aus, handfeste Beweise gegen ihn zu sammeln. Keine Idee schien ihm zu ausgefallen, um Juden vor der Vernichtung zu bewahren.

So berichtet ein holländischer Anwalt, Benno J. Stockvis, vom Fall eines sechzehnjährigen Mädchens, Ruth F., dem die Deportation drohte. Bei der Durchsicht ihrer Papiere sei ihm plötzlich eingefallen, daß die biblische Ruth, die Moabitin, vom jüdischen Volk aufgenommen wurde, obwohl sie fremd war. So wurde aus der jungen niederländischen Jüdin Ruth eine Adoptivtochter, die ihren Namen nur symbolisch trug, zur Erinnerung an die Frau aus dem Alten Testament und als Zeichen dafür, daß sie keine Jüdin von Geburt war. Calmeyer war einverstanden mit dieser »Regelung« und gab sein Plazet.

Calmeyers Entschlossenheit, Juden dem Zugriff der Gestapo zu entziehen, ging so weit, daß sein Amt auch Zeugenaussagen anerkannte, die nach »normalem« Rechtsverständnis Verdacht erregen mußten, weil sie wenig stichhaltig oder absolut unglaubhaft erschienen. Auf diese Weise erhielten etwa die Angaben eines alten Mannes Gewicht: Er behauptete, es seien in seinem Dorf Gerüchte in Umlauf, wonach die Großmutter eines Antragstellers von einem Arier geschwängert worden war. Bei dem Antragsteller konnte es sich also nur um einen »Vierteljuden« handeln. »Ich wußte nicht«, kommentierte ein Mitarbeiter Calmeyers die Geschichte, »daß jüdische Frauen derart unmoralisch sind.«

Jede der Fälschungen von Geburts- und Heiratsurkunden, Taufscheinen und ähnlichen Dokumenten, auf die Calmeyer sich wissentlich einließ, die er mit seinen Mitarbeitern sogar förderte und selber bewerkstelligte, kam der Rettung eines Menschenlebens gleich. »Seinen privaten Kampf zur Rettung von Juden führte er mit Verstand, Mut und Kühnheit, in ständiger Gefahr für Leib und Leben schwebend«, berichtet Stockvis. »Und wie viele, die Mut und Geistesgegenwart unter anhaltendem Druck bewiesen haben, brach er nach dem Krieg zusammen und verfiel in eine schwere Depression und in ein Gefühl von absoluter Frustration und Reue, gleich so, als säße er mit den Mördern, seinen Volksgenossen, die er so haßte, zusammen auf der Anklagebank. Sein Schicksal beweist, wie schwierig das Los eines einzigen Gerechten in ganz Sodom ist.«

In Osnabrück wurde erst nach mehr als anderthalb Jahrzehnten nach seinem Tod bekannt, wer Hans Calmeyer gewesen ist und was er vollbrachte – ein Mann des intakten Gewissens und der Zivilcourage, ein Retter von Tausenden Verfolgter, für seine Heimatstadt ganz sicher das überragende Beispiel des Wiedererstehens jenes »anderen« Deutschland, das nur langsam Wirklichkeit werden konnte. 1994 nahm ich im Osnabrücker Rathaus an einer Veranstaltung zu Ehren Calmeyers teil. Aus den Ansprachen des Oberbürgermeisters und anderer Redner war das Bedauern über die lange Zeit herauszuhören, die man warten mußte, um Calmeyer zu ehren. Weder er selbst noch diejenigen, die ihm nahestanden, hatten von seinen Taten sprechen wollen, aus Furcht, damit noch nachträglich Anstoß zu erregen.

In den ehemals von den Deutschen besetzten Ländern sind Berichte über den Widerstand gegen Hitler, aber auch Geschichten wie die von Hans Calmeyer lange mit skeptischer Zurückhaltung aufgenommen, teilweise auch als Legenden abgetan worden. Manches von dem, was an Taten einzelner Widerstandskämpfer oder organisierter Gruppen aus den Kriegsjahren überliefert ist, hält tatsächlich einer genaueren Nachprüfung nicht stand, stellt sich als nur zur Hälfte wahr oder erfunden heraus.

Umgekehrt hat sich gezeigt, daß es in den Ländern, die mit Stolz auf ihren erfolgreichen Widerstand gegen die deutsche Besatzungsmacht verweisen, nicht wenige Helfer und Mittäter gab, Kollaborateure, die den Nazis willig bei Verhaftungen und Deportationen zur Hand gingen. Holland, das jahrzehntelang wegen seines Widerstands, vor allem auch aufgrund vieler geglückter Rettungsaktionen für Juden weithin in hohem Ansehen stand, muß sich heute mit der Schattenseite dieser Realität auseinandersetzen. Fest steht, daß es hier nicht weniger Kollaborateure als Widerstandskämpfer gegeben hat, nämlich vier Prozent, und daß die Mehrheit der Bevölkerung den Anordnungen der Nazis gehorsam gefolgt ist. Das gleiche gilt für die öffentliche Verwaltung. Gemessen daran waren es nur wenige Verfolgte, die gerettet werden konnten, und dies auch nicht immer von Helfern aus dem eigenen Land, wie die Calmeyer-Geschichte zeigt. Anders in Belgien: Zu Léon Degrelle und seiner »Wallonischen Legion«, die auf der Seite der Deutschen kämpfte, gab es das Gegenbild eines im Untergrund gut organisierten Widerstands. Besonders erfolgreich verliefen seine Aktionen zur Rettung bedrohter Juden.

Auch die Franzosen kamen in den letzten Jahren nicht umhin, sich selbstkritisch mit ihrem Verhalten während der Besatzungszeit zu befassen. Die Rolle der Résistance, die de Gaulle stets beharrlich unterstrich, blieb überschattet vom berüchtigten Vichy-Regime. Tatsache ist, daß die französische Bevölkerung weit aktiver und erfolgreicher, als es anderswo im besetzten Europa geschah, verfolgten Juden geholfen hat – fünfundsiebzig Prozent der Juden Frankreichs konnten gerettet werden. Ernsthaft und akribisch ist man heute bemüht, gewisse Legenden aufzulösen und der Bildung neuer entgegenzuwirken.

Großbritannien dagegen, auf dessen Hauptinsel kein einziger bewaffneter deutscher Soldat seinen Fuß gesetzt hat, konnte sich nach dem Krieg als europäische Zentrale des organisierten Widerstands gegen Nazi-Deutschland rühmen. Inzwischen weiß man, daß Bewohner der britischen Kanalinseln Jersey und Guernsey eng mit den deutschen Besetzern paktierten – ihnen erschienen sie geradezu als Musterbeispiele der Kollaboration. In unrühmlicher Erinnerung ist auch die »British Union of Fascists«. Ihr Anführer Mosley, der sich Hitler zum Vorbild erkor, bereitete sich auf eine Zusammenarbeit mit den Deutschen vor und war auch noch nach dem Krieg politisch tätig. Im übrigen fand sich in England vor 1939 kaum jemand, der mit Nachdruck vor Hitler warnte. Männer wie Lloyd George, der Luftfahrtminister Londonderry und der Herzog von Windsor sprachen sich eher für eine Annäherung an das nationalsozialistische Deutschland aus. Den Herzog, den abgedankten Edward VIII., mußte Churchill sogar vor dem Vorhaben warnen, im Falle einer Eroberung Englands durch die Deutschen doch noch den Königsthron zu besteigen, auf den er wegen seiner nicht gebilligten Ehe mit Wallis Warfield-Simpson verzichtet hatte. Doch solche oder noch größere Versuchungen blieben den Engländern erspart – dank Gottes Hilfe, die ihre Insel vor der deutschen Invasion bewahrt hat.

Widerstand setzte alle, die ihn im Untergrund betrieben, ständig den größten Gefahren aus. Überall im besetzten Europa wurden Nazi-Gegner verraten, verhaftet, gefoltert, deportiert, oft mitsamt ihren Angehörigen. Doch nur in Deutschland, von Einzelfällen abgesehen, hatten Widerstandskämpfer nicht nur Gestapo und SS, Spitzel und Denunzianten zu fürchten, sondern auch die allgemeine Gefolgstreue zu Hitler und die tief in allen Bevölkerungsschichten verwurzelte Überzeugung, nach der Widerstand als Landesverrat und somit als Schwerstverbrechen galt. Wer entdeckt zu werden drohte, zur Fahndung ausgeschrieben oder in ähnlichen Gefahrensituationen war, der hatte, anders als seine Gefährten in den besetzten Ländern, kaum mit Unterstützung durch seine Landsleute zu rechnen. Das traf in besonderem Maße auf Deutsche zu, die es wagten, Juden zu verstecken, ihnen zur Flucht zu verhelfen oder ihnen auch nur durch kleine Zuwendungen das Leben zu erleichtern. Um so höher muß man deshalb ihren Mut bewerten, nicht nur in Gedenkreden.

Einen Tag nach dem Attentat vom 20. Juli verabschiedete sich Henning von Tresckow, einer der Verschwörer, von einem Freund, bevor er sich das Leben nahm: »Wenn einst Gott Abraham verheißen hat, er werde Sodom nicht sogleich verderben, wenn es darin auch nur zehn Gerechte gäbe, so hoffe ich, daß Gott Deutschland um unseretwillen nicht vernichten wird.« Bundeskanzler Kohl zitierte diese Worte während der zentralen Gedenkfeier 1994 in Berlin. Gott hat Deutschland nicht vernichtet, und desto notwendiger scheint es, auch für Israelis und für Juden in aller Welt, den Kampf des deutschen Widerstands zur Kenntnis zu nehmen. Er verdient Bewunderung.

Die Geschichte wiederholt sich nicht, doch sie gibt Fragen auf an spätere Generationen. Einem meiner Sicherheitsleute kam, nachdem er mit mir Ausstellungen besichtigt, zahlreiche Veranstaltungen besucht und eine noch größere Anzahl von Reden gehört hatte, eine solche Frage. Nach langem Überlegen mußte er sich eingestehen, daß er, gäbe es heute plötzlich wieder ein Nazi-Regime, genau das tun würde, was, wie er sagte, »alle jungen Deutschen damals taten, trotz allem, was ich heute weiß und gelernt habe«. Er würde nicht genügend Entschlossenheit und Kraft aufbringen, sich dem Regime zu widersetzen oder Befehle zu verweigern.

Wenn ein mit demokratischen Idealen aufgewachsener junger Deutscher, gewiß alles andere als ein Nazi-Sympathisant, fünfzig Jahre nach dem Ende des Dritten Reiches ohne zwingenden Grund zu einer solchen Schlußfolgerung kommt, dann kann die Hochachtung vor dem deutschen Widerstand nur um so größer sein. Auch Israel wird sich dieses Respekts nicht länger versagen können.

Anfang der siebziger Jahre begleitete ich eine Gruppe prominenter Gäste aus dem Ausland durch Israel. Der Sechstagekrieg war etwa vier Jahre vorbei. Nach dem gewonnenen »Blitzkrieg« gegen die arabischen Nachbarstaaten hatte sich mit der allenthalben spürbaren Siegesstimmung Hochmut breitgemacht. Allen Israelis ging es gut, die Wirtschaft florierte, Hochtechnologie war eine ihrer Haupterrungenschaften geworden. Die Zukunft sah strahlend aus.

Auf ausländische Besucher wirkte diese Stimmung keineswegs immer sympathisch. Als ich der Gästegruppe erklärte, sie werde einem bekannten Schriftsteller begegnen, fügte ich wohlweislich hinzu, er sei ein Mann des ausgewogenen Urteils, gemäßigt, ein Philosoph mit großen Visionen, Amos Oz, dessen Bücher inzwischen alle ins Deutsche übersetzt sind und der den Friedenspreis des deutschen Buchhandels erhielt. Damals freilich beeindruckte er die Gäste eher mit sarkastischen Provokationen. Kaum, daß sie das Haus betreten hatten, fragte er sie, wie lange sie schon im Lande seien. »Seit gestern? Na, dann hatten Sie ja schon Zeit, festzustellen, was für ein herrliches Land Israel ist und was für ein großartiges Volk wir sind!« Jeder blickte peinlich berührt zu Boden.

»Doch, doch«, fuhr Amos Oz fort, »schauen Sie sich uns nur gut an. Wir sind alle wie Samson aus der Bibel, wir alle sind Samsons. Nur, wenn Sie uns genau betrachten, werden Sie entdecken, daß wir Samsons in der Nacht Angst haben und vor der Finsternis zittern. Der Hochmut, der Stolz, den Sie heute an den Israelis beobachten und der Ihnen unangenehm vorkommen muß – er ist rein oberflächlich, gewissermaßen eine künstliche Übertreibung, um dahinter die Angst zu verstecken. Angst ist die große Motivation unseres Volkes, stärker als jede andere.« Und dann folgte ein Abriß der jüdischen Geschichte, die geprägt ist von jahrtausendelanger Verfolgung, bis heute hin.

Die Angst als Grund- und Leitmotiv der gegenwärtigen Politik Israels angesichts der fortdauernden Bedrohung habe ich Abdallah Frangi zu erklären versucht, dem Vertreter der PLO in Deutschland. Es gab mehrere Gelegenheiten, mit ihm lange Gespräche zu führen. Auch auf einer gemeinsamen Fahrt zu einem von der Konrad-Adenauer-Stiftung initiierten Seminar in Italien ging es um diese Angst. Doch Frangi verstand mich offenbar nicht und widersprach aufs heftigste. »Ihr habt Angst?« fragte er, »ihr, die ihr alle Kriege gewonnen habt, eine blühende Wirtschaftsentwicklung erlebt und seht, wie eure Bevölkerung ständig wächst – ihr als Besetzer unseres Landes, ihr habt Angst? Wir, die nicht einmal in Würde leben können, die unter eurer Besatzung leben müssen, wir haben Angst!«

Es war nicht leicht, Frangi verständlich zu machen, daß unsere Angst sich nicht nur auf Kriege, auf Grenzverletzungen und Terroranschläge bezieht. Ich gab die Erklärung an ihn weiter, mit der Amos Oz seinerzeit die ausländischen Gäste zunächst verwirrt und in Verlegenheit gebracht hat, bis sie allmählich begriffen, was er meinte. Unsere Angst ist psychologisch bedingt, und man muß sie in Betracht ziehen, wenn man die Israelis verstehen und mit ihnen verhandeln will. Wir, wie auch andere Völker, doch in anderem Sinn, müssen uns mit unserer Vergangenheit und ihren Gespenstern auseinandersetzen. Der Gedanke, in der Welt isoliert zu sein, ist zweifellos eines dieser Gespenster und hatte gewisse Verhärtungen und Verkrampfungen zur Folge. »Die Welt ist gegen uns« heißt die Parole der Verkrampften.

Daß wir dennoch und trotz allem nicht völlig allein waren, beweist die Vielzahl der Fälle, allein in Berlin, in denen während des Kriegs Nichtjuden jüdischen Mitbürgern zum Überleben verhalfen. Am Anfang der Verfolgung waren es angeblich fünf- bis zehntausend Juden, die in Berlin untertauchten, nur tausendfünfhundert haben den Krieg überlebt. Wie viele Deutsche waren es, die ihnen geholfen, wie viele, die damit selber Gefahren auf sich nahmen, die Opfer von Denunzianten wurden, verhaftet und am Ende hingerichtet? Groß scheint auch die Zahl der Helfer und Retter zu sein, die im Bombenkrieg umkamen, ebenso wie zahllose »Illegale«, die heimlich Versteckten, bei Luftangriffen meist schutzlos. Die Tagebücher Victor Klemperers, der mit einer »arischen« Frau verheiratet und nicht untergetaucht war, vermitteln ein Bild von der verzweifelten Lage der Verfolgten gerade in den letzten Phasen des Kriegs.

Wenn man in Betracht zieht, daß es zweieinhalb Jahre waren, die zwei verfolgte deutsche Jüdinnen wie Inge Deutschkron und ihre Mutter in der Illegalität lebten, nicht wie Anne Frank und ihre Familie in Holland in einem Versteck, sondern in ständig wechselnden, und bedenkt man weiter, daß sie, um zu überleben, arbeiten, das heißt sich fortwährend um neue Arbeitsplätze bemühen mußten, in permanenter Angst vor der Entdeckung durch Nachbarn, dann gewinnt man in etwa eine Vorstellung von der Zahl derer, die an ihrer Rettung beteiligt waren. Ihr letztes Buch »Sie blieben im Schatten« hat Inge Deutschkron ihren Helfern gewidmet. Es ist, wie der Untertitel sagt, »ein Denkmal für stille Helden«.

Es gab also außer den von Yad Vashem anerkannten »Gerechten unter den Völkern« Tausende, die ihr eigenes Leben und das ihrer Familien riskierten, um Verfolgten zu helfen. Sind wir uns dessen hinreichend bewußt?

Als ich den Deutschlandbesuch von Staatspräsident Ezer Weizman im Januar 1996 vorbereitete, schlug ich einen Gedenkaufenthalt in Plötzensee vor, der Hinrichtungsstätte vieler deutscher Widerstandskämpfer. Der Präsident und seine Frau Re’uma zeigten sich nicht nur von diesem Ort beeindruckt, fast mehr noch bewegte sie das Gespräch mit einer Gruppe ehemaliger Angehöriger des deutschen Widerstands, die am Morgen jenes Tages zur Gedenkstätte gekommen war, um die israelischen Staatsgäste zu treffen. Natürlich wußten der Präsident und seine Frau von der Existenz und Stärke der Verschwörergruppen, die auf unterschiedliche Weise das Nazi-Regime bekämpft haben, die Eindrücke vom unmittelbaren Kontakt mit einigen Überlebenden aber waren so nachhaltig, daß sie später, nach der Rückkehr, in allen Gesprächen mit der israelischen Presse deutlich anklangen. Nie zuvor haben Zeitungen in Israel so ausführlich über den Widerstand in Deutschland berichtet wie – erfreulicherweise – anläßlich des Weizman-Besuchs Anfang 1996.

Das Wissen, daß wir trotz allem nicht völlig isoliert sind, daß es selbst in schwierigsten, furchtbarsten Zeiten jene gab, die unerschrocken zu uns standen, könnte helfen, uns ein wenig aus der Verkrampfung zu lösen und damit auch befreiend zu wirken bei der Bewältigung der Schwierigkeiten in dem komplizierten und schicksalhaften Friedensprozeß, in dem Israel sich gegenwärtig befindet.

Schlußstrich? Nachdem das Gedenkjahr 1995 so würdig begangen wurde – darf man nun, wie es manche wünschen, einen Schlußstrich unter die deutsche Vergangenheit ziehen? Meinungsumfragen zufolge sind es sogar die meisten Deutschen, die sich dies wünschen oder die zumindest glauben, daß ein solcher Schlußstrich möglich sei. Immerhin stimmen 53 Prozent aller Deutschen in Ost und West einer entsprechenden Frage zu, 41 Prozent verneinen sie. Interessant ist, daß es unter den Vierzehn- bis Achtzehnjährigen nur 41 Prozent sind, die den Schlußstrich wünschen, 59 Prozent sind gegenteiliger Meinung. Ein unentschiedenes »ich weiß nicht« gibt es hier nicht, jeder Jugendliche vertritt eine dezidierte Ansicht, im Unterschied zu den älteren Befragten, von denen sich elf Prozent unentschieden äußern.

Abgesehen von Leuten, die sich aus persönlichen, ideologischen Gründen oder aus reinem Wunschdenken so verhalten, meine ich, daß sich die Deutschen, die an die Möglichkeit des Schlußstrichs glauben, einfach täuschen. Man hat im Rahmen einer geschichtlichen Beurteilung noch nie einen Strich unter irgendeine Epoche ziehen können. Historiker legen Schlußstriche innerhalb der Geschichte immer erst zu einem weit späteren Zeitpunkt fest, manchmal erst, nachdem Hunderte von Jahren vergangen sind. Das Jahr 1492, lernten wir in der Schule, war das Ende des Mittelalters. Daß dies wirklich zutraf, wußte niemand von den damals Lebenden, wußten auch jene nicht, die hundert Jahre später existierten. Erst aus weiter Retrospektive ließ sich die Zeit vor der Wende zum 16. Jahrhundert als eine solche verstehen. Dem Verlangen nach kurzfristig zu setzenden Zeitzäsuren widerspricht auch das Fortleben großer historischer Persönlichkeiten im Gedächtnis der Nachwelt. So erschienen seit seinem Todesjahr 1821 bis heute über Napoleon weltweit mehr Veröffentlichungen als Tage vergangen sind.

Wir haben also weder die Macht noch die historische Kompetenz, für unsere Zeit ein abschließendes geschichtliches Urteil festzulegen, das bleibt kommenden Generationen überlassen. Darüber hinaus lehrt die Geschichte, daß Daten oder symbolträchtige Ereignisse sehr oft nur einen oberflächlichen und vorübergehenden Eindruck hinterlassen. Heute weiß man um den Rang des Jahres 1995 als Gedenkjahr, doch werden davon weder unsere Gedanken noch unsere Gefühle begrenzt. Am 9.Mai 1995, wie auch zwei Tage davor, am 7. Mai – und Jahre davor und danach – setzte sich unser Leben mit allem Denken und Handeln fort, kein willkürliches Datum konnte und kann es aufhalten. Wie wenig die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit an fixe Daten gebunden ist, zeigt nicht zuletzt auch das gewaltige Echo, das Goldhagens Buch im Herbst 1996 in Deutschland fand.

Sollten wir uns wirklich einen Schlußstrich wünschen, und läßt er sich tatsächlich ziehen? Vor den Deutschen wie auch vor den Israelis liegen, in bezug auf die Vergangenheit, noch viele Aufgaben. Noch immer macht in Deutschland der Neonazismus von sich reden; Sehnsüchte nach dem Dritten Reich und dessen wahnwitzigen Ideen werden laut, und zwar keineswegs nur von denen, die Nazi-Uniformen tragen oder sich mit Nazi-Symbolen schmücken, nicht einmal von den Gewalttätern, die Anschläge verüben, Friedhöfe schänden und Ausländer bedrohen. Umfrageergebnisse zeigen, daß Extremisten in der deutschen Bevölkerung mehr Sympathien finden, als man annehmen möchte. So bekannten sich 1995 von allen Deutschen 24 Prozent zu der Ansicht: »Die Ideen des Nationalsozialismus waren gar nicht so schlecht«. Diese bedenkliche Auffassung findet sich nicht etwa nur bei Anhängern der Republikaner, sie wird durchgehend, und zwar zu gleichen Teilen und in der Höhe des Gesamtergebnisses der Umfrage, auch von Wählern der CDU/CSU, der FDP und – überraschenderweise – der SPD vertreten. Lediglich bei den Grünen (fünfzehn Prozent) und bei Wählern der PDS (zwölf Prozent) ist der Anteil geringer.

Es ist klar, die Umfrage, bei der es um eine qualitative Bewertung der Nazi-Ideologie ging, ergab keine Mehrheit. Auch läßt das Ergebnis keine Schlüsse auf die Situation zur Zeit der Weimarer Republik zu. Andererseits gibt es Leute, die extrem radikale Gruppierungen, welche von einem Viertel der deutschen Gesamtbevölkerung positiv eingeschätzt, zumindest aber geduldet werden, für gefährlich halten. Schließlich begann Hitler auch nur mit einer kleinen Minderheit, die nach zehn Jahren dann an die Macht gelangte. Der Unterschied zwischen der Weimarer Republik und der Bundesrepublik besteht jedoch darin, daß – obwohl es sich damals wie heute um echte Demokratien mit einem parlamentarischen System handelt – die Bevölkerung der Weimarer Republik nicht von demokratischen Ideen durchdrungen war. Franz von Papen sagte bei seiner Vernehmung im Nürnberger Prozeß: »Die Weimarer Verfassung hatte dem Volke eine Fülle von Rechten gegeben, die nicht seiner politischen Reife entsprachen.« Damals war das Wort im Schwange: »Vox populi – vox Rindvieh.«

Die Mehrheit der heutigen Bundesbürger ist demokratisch erzogen, von demokratischem und humanistischem Ideengut geprägt worden. Sie beweist, wie wenig gleichgültig ihr rechtsradikale Umtriebe sind, die Medien befassen sich kritisch damit, und Politiker aller Parteien sind sich einig im Vorgehen gegen antidemokratische Strömungen. Schwer zu erklären und mit dem Blick auf die Zukunft beunruhigend ist trotz allem, daß heute noch – oder wieder – 24 Prozent aller Deutschen die Ideen der Nazis als »gar nicht so schlecht« empfinden. Der Weg zur endgültigen Beseitigung des Spuks der Vergangenheit, des Rassismus und der Gewalt als politisches Mittel ist also noch lange nicht gesichert. Wir werden wachsam sein müssen – »wir«, weil die Verantwortung für die Zukunft gleichermaßen bei den Deutschen wie den Israelis liegt.

Wer das öffentliche Leben in Deutschland mit einiger Aufmerksamkeit beobachtet, der weiß, daß der Rechtsextremismus eine gewisse Salonfähigkeit erlangt hat. Die Entwicklung setzte mit dem relativierenden Revisionismus konservativer Hochschullehrer im Historikerstreit der achtziger Jahre ein. Man würde es sich aber zu leicht machen, ihren Wortführern und Schülern einfach die Billigung strafwürdiger Verbrechen wie Gewalttaten gegen Ausländer oder die Schändung von Friedhöfen und Gedenkstätten zu unterstellen. Den Verdacht, mit den von ihnen verbreiteten Ideen das Umfeld geschaffen zu haben, das derartige Ausschreitungen erst möglich macht, würden sie selbstverständlich energisch zurückweisen. An ihrer Selbsteinschätzung als Wissenschaftler und Publizisten, ja schon an der vorgeblichen Logik ihrer Argumente prallt der Vorwurf ab, wenn nicht Anstifter, so doch mitverantwortlich zu sein für willkürliche Überfälle und gezielte Anschläge der Art, wie sie fast regelmäßig auf den Nachrichtenseiten der Tagespresse erscheinen. Kein Revisionist wird einräumen, der Verbreitung von rechtsradikalem Gedankengut Vorschub zu leisten.

Es wäre in der Tat auch jedem noch so um Aufklärung bemühten Richter unmöglich, etwa zwischen der Zerstörung jüdischer Grabmäler und den Theoretikern des neuen Revisionismus eine kausale Verbindungslinie herzustellen. Andererseits gibt es eine Vielzahl von Druckschriften, die mit Parolen und in schlagwortartig primitiver Form die Gedanken der Intellektuellen unter den Revisionisten verarbeiten und damit gerade bei jugendlichen Lesern Verwirrung stiften und potentielles Unheil anrichten können. Das Gebot der Wachsamkeit versagt oft gerade an den Quellen, aus denen die rechtsradikale Szene in Deutschland ihre Ideen bezieht, mehr mittelbar, wie gesagt, als direkt. Häufig sind es respektable Leute, Universitätsprofessoren und Schriftsteller wie Viktor Suworow, Joachim Hoffmann oder Walter Post, die da meinen, von der Nazi-Zeit ein anderes Bild zeichnen zu müssen als das, welches sie tatsächlich besaß.

Ich beobachte Holocaust-Leugner seit Jahren, und zwar nicht nur in Deutschland. Am Anfang hat mich das Rätsel ihres Leugnens fasziniert: Wie kommt es, fragte ich mich, daß jemand so beharrlich eine Tatsache in Abrede stellt, die hunderttausendmal von unzähligen Zeitzeugen – Opfern wie Tätern – festgestellt und in allen Details beschrieben wurde, ein Faktum, das mehr als hinreichend dokumentiert und von allen Historikern der Welt, den Revisionisten eingeschlossen, einhellig anerkannt ist? Den einzigen Hinweis, der das Phänomen erklären könnte, finde ich im fanatischen Antisemitismus, im grenzenlosen Judenhaß, den die Leugner verbreiten und schüren. Leugnen sie womöglich deshalb, weil sie im Grunde meinen, der Holocaust habe sich in der Geschichte letztendlich so nicht ereignet, nicht so, wie er nach ihrer Auffassung hätte verlaufen müssen, daß er Stückwerk blieb und leider unvollendet?

Die Frage nach der Kollektivschuld, mit der ich öfters konfrontiert werde, hat in der deutschen Öffentlichkeit lange die Diskussion um die Ursachen, das Ausmaß und die Folgen der Verbrechen Hitler-Deutschlands beherrscht. Das Wort Kollektivschuld bezog sich vor allem auf das dem jüdischen Volk zugefügte Leid. Ohne Ausnahmen zuzulassen, stellte es für alle Nicht-Opfer in Deutschland eine gemeinsame Verantwortung und Haftung her, ursprünglich sogar – so wollten es 1945 die Siegermächte – für sämtliche politischen Handlungen der Nazi-Regierung und ihrer Organisationen. Im Lauf der Zeit ist diese Auffassung mehr und mehr revidiert und durch eine den historischen Tatsachen gemäßere ersetzt worden. Schuldig kann nur sein, wer sich persönlich vergangen hat, nicht die an einem Verbrechen Unbeteiligten und erst recht nicht die Nachkommen. Doch wo sich die Frage nach der Verantwortung nicht oder nicht mehr stellt, bleibt das Problem der Verantwortlichkeit – zwei unterschiedliche Begriffe, die man nicht verwechseln sollte.

Dem Thema der Gesamtschuld und Gesamtverantwortung der Deutschen widmete sich Michael Wolffsohn in seiner Rede anläßlich des Volkstrauertags im Herbst 1995 im Berliner Dom. Als ich vom Volksbund deutscher Kriegsgräberfürsorge eine Einladung zu dieser Veranstaltung erhielt, fühlte ich mich zunächst in keiner Weise angesprochen. Was hatte ich auf dieser Feierstunde verloren, was sollte ich in einem wilhelminischen Gotteshaus, in dem man der Opfer der Deutschen beziehungsweise der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg gedachte? Erst als ich die Einladung genauer las, stellte ich fest, daß es sich beim Hauptredner um Professor Wolffsohn von der Bundeswehrakademie in München handelte, einen Juden, von dem ich wußte, daß seine Familie nur mit Mühe und Not den Nazis entkommen war. So fuhr ich doch. Nachdem Bundespräsident Herzog gesprochen hatte, stellte Wolffsohn die im Augenblick wohl jeden der Zuhörer bewegende Frage, ob er, ein deutscher Jude, »mit Ihnen allen über dieselben Opfer trauern kann«. Er ließ da keinen Zweifel – Mitgefühl und Trauer schließen auch den einzelnen deutschen Soldaten ein, Menschen, die, wie er sagte, »kaum einer kennt«.

Statt an der Verdammung zur kollektiven Schuld und Verantwortung festzuhalten, die durch den Antritt neuer Generationen nach dem Krieg ohnehin bald brüchig geworden ist, befürwortet Michael Wolffsohn eine »Haftungsgesellschaft«. Er sieht in deren Existenz auch eine Garantie dafür, daß sich Geschehenes unter ähnlichem Vorzeichen nicht wiederholt. Verantwortlichkeit also statt Verantwortung. Kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte statt, wie früher, Verdrängung, verharmlosende Beschönigung, Versuche, Schuld im nachhinein gegen andere aufzurechnen, sie damit möglichst zu verringern und aus Tätern Opfer zu machen, sie zumindest aber auf die gleiche Stufe zu stellen. »Wer sein geistiges und geistliches Erbe vernachlässigt und lässig verspielt«, sagte Wolffsohn, »schafft sich selbst die eigene Leere und hat keine Wurzeln. Wie ein wurzelloser Baum fällt auch jeder wurzellose Mensch und eine wurzellose Gesellschaft. Es bedarf keines Sturmes. Ein Windstoß genügt.«

Auch um dieser Gefahr zu begegnen, beschloß der Bundestag Anfang 1996 die Einführung eines offiziellen Gedenktags für die Opfer des Nationalsozialismus. Bewußt wählte man dafür den Tag, an dem die Überlebenden des Konzentrationslagers Auschwitz befreit wurden, den 27. Januar 1945. Viele mögen fragen, ob es fünfzig Jahre nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches eines solchen Gedenktags bedarf, sagte die Bundestagspräsidentin in ihrer Ankündigung: »Hat es in den zurückliegenden Jahrzehnten an Aufklärung, Erinnerung und Gedenken gefehlt?« Rita Süßmuth ging dann auf die Überlegungen ein, die dem Beschluß zugrunde liegen. Ein nationaler Gedenktag sei deshalb unabdingbar, »weil es in der Geschichte der Völker Ereignisse von fundamentaler Auswirkung für deren Existenz in Gegenwart und Zukunft gibt, die gegen das Vergessen in herausgehobener Form gesichert werden müssen.« Mit einer parlamentarischen Feierstunde aber sei es nicht getan. »Dieser Tag muß Anlaß sein, das Gedenken im ganzen Lande auf unterschiedliche Weise wachzuhalten und zu gestalten.«

Ähnliche Erwartungen äußerte Bundespräsident Herzog, der die Hauptrede hielt. Er wünsche sich, daß der 27. Januar künftig »zu einem wirklichen Tag des Gedenkens, ja des Nachdenkens wird.« Herzog wies eindringlich darauf hin, daß das Datum nicht zufällig gewählt wurde: »Auschwitz steht symbolisch für millionenfachen Mord, vor allem an Juden, aber auch anderen Volksgruppen. Es steht für Brutalität und Unmenschlichkeit, für Verfolgung und Unterdrückung, für die perfektionierte, organisierte ›Vernichtung‹ von Menschen. Die Bilder von Leichenbergen, von ermordeten Kindern, Frauen und Männern, von ausgemergelten Körpern, sind so eindringlich, daß sie sich nicht nur den Überlebenden und den Befreiern unauslöschlich eingemeißelt haben, sondern auch denjenigen, die heute deren Schilderungen nachlesen oder Bilddokumente betrachten.«

Wie alle Gäste dieser Veranstaltung des Bundestags saß ich auf der Zuhörertribüne, neben mir – zufällig in Deutschland zu Gast – Henry Kissinger, der ehemalige amerikanische Außenminister. Während wir auf die Eröffnung der Sitzung warteten, unterhielten wir uns angeregt über den Friedensprozeß im Nahen Osten. Wir haben das ohnehin unerschöpfliche Thema nicht beenden können, doch bevor die Bundestagspräsidentin ihre Ansprache begann, bedeutete Kissinger mir, das Gespräch hinterher fortsetzen zu wollen. Doch dazu kam es nicht. Kissinger war – und machte auch keinen Hehl daraus – zu angerührt von allem, zu betroffen, als daß er nach dieser Stunde noch über andere Dinge hätte reden können: »Ich weiß nicht, ob nach dem Krieg mich jemals etwas so bewegt hat.«

Bewegt war auch ich. Die Worte, die dieser Stunde ihren Inhalt gaben, und die Gewißheit, daß von nun an in diesem Land ein Tag im Jahr ausschließlich dem Gedenken der Nazi-Opfer gewidmet sein würde, riefen Erinnerungen und Hoffnungen wach, ließen aber auch Fragen aufkommen. Es waren eigentlich die gleichen, die mich 1995 bei der Teilnahme an ähnlichen Veranstaltungen beschäftigten:Wie reagieren die von Goldhagen beschriebenen »ganz gewöhnlichen Deutschen« darauf? Wie sprechen sie darüber im engsten Familienkreis?Wie reden sie in Kneipen, an Stammtischen, wenn es um Ereignisse geht, die nach dem Willen des Bundestags Gegenstand eines nationalen Gedenktags sein sollen – werden sie in der Bevölkerung überhaupt diskutiert?

Es ist leider schwierig für mich, solchen Fragen direkt nachzugehen. Von allen Sicherheitsauflagen abgesehen, kann ich mich nicht unerkannt als stummer Zuhörer in private Gesprächsrunden mogeln. Um die Volksmeinung zum Sinn von Gedenktagen zu erfahren, die der Erinnerung an ohnehin Unvergeßliches dienen, kann ich mich nicht unsichtbar machen. Zwar treffe ich immer wieder mit Deutschen unterschiedlichster Herkunft zusammen, Menschen aus allen Landesteilen, Alters- und Berufsgruppen – meine Kontakte beschränken sich keineswegs nur auf »offizielle« Kreise –, mir ist jedoch klar, daß die Partner dieser Begegnungen sich mir gegenüber, einem Vertreter des Judenstaates Israel, über die deutsche Vergangenheit nicht immer so äußern, wie ihr privates Umfeld es vielleicht von ihnen gewohnt ist. Um so mehr bin ich, auch wenn sie den unmittelbaren menschlichen Kontakt nicht ersetzen können, auf die Resultate von Umfragen als halbwegs verläßliche Antwortgeber angewiesen.

Und die offiziellen, die staatstragend-feierlichen Erklärungen selbst? Natürlich geben sie nicht immer die öffentliche Meinung wieder; die Vox popoli bedient sich, weil ihr andere Denkmuster zugrunde liegen, ohnehin einer davon abweichenden Sprache. Gelegentlich auch reicht die Wirkung solcher Erklärungen nicht über die einer rein rhetorischen Leistung hinaus, der es an Aussagekraft mangelt, nicht aber an Kunstgriffen, andere Gedankengänge als die geäußerten zu verbergen.

Trotzdem sind öffentliche Verlautbarungen zum Umgang mit der NS-Zeit für mich von erheblich grundlegender Bedeutung, in zweierlei Hinsicht. Zum einen gehe ich davon aus, daß Politiker sich nur selten Äußerungen leisten können, für die die Mehrheit der Bevölkerung nicht – oder noch nicht – aufnahmefähig ist. Erst 1985 haben auch breitere Schichten Richard von Weizsäckers und Helmut Kohls Erklärungen zum Jahr des Kriegsendes als der eigenen Überzeugung entsprechend akzeptieren können. Nach meinem Eindruck spiegeln die Aussagen deutscher Politiker in den letzten Jahren überhaupt mehr den jeweiligen Stand des öffentlichen Bewußtseins, als daß sie Botschaften von allzu hoher, abgehobener Warte sind. Zum anderen bin ich überzeugt davon, daß nicht nur von Mahn- und Gedenkreden, sondern von jedem Wort, wenn es von berufener Seite kommt, eine verwandelnde, vielfach zukunftsweisende Kraft ausgehen kann. Sie ist es, die langfristig zum Umdenken erzieht.

Die Schlußfrage im erwähnten »Fragebogen« des FAZ-Magazins, die sich für mein Motto interessierte, habe ich 1995 lapidar mit dem Satz beantwortet, mein Motto sei, an keinem bestimmten zu hängen. Heute, nach meinen bisherigen Erfahrungen in Deutschland, würde ich ein französisches Wort wählen: »Rien n’est jamais acquis« – nichts ist sicher, was man für endgültig erworben hält.

Deutschland zur Kenntnis nehmen heißt für einen Israeli natürlich auch, sich mit den hier neu entstandenen jüdischen Gemeinden zu befassen. Das ist nicht immer leicht und auch nicht immer selbstverständlich. Auch in anderen Ländern machen es sich manche Israelis schwer, Beziehungen zu Juden aufzubauen, die dort als Bürger leben. Das Leben in den Gemeinden, die sich nach dem Untergang des Hitler-Reiches aus oft mehr als bescheidenen Anfängen in Deutschland entwickelt haben, wirft heute einige grundsätzliche Fragen auf, die sich aus dem Verhältnis zwischen dem Staat Israel und den Juden in aller Welt ergeben.

Im Anschluß an die Erklärung seiner Unabhängigkeit gab sich der Staat Israel ein Grundgesetz, das Gesetz der Rückkehr der Juden nach Israel. Damit verpflichtet sich der Staat auf ewige Zeiten, jedem Juden bedingungslos Asyl zu gewähren und ihm die israelische Staatsbürgerschaft zu verleihen, sobald er die Rechte, die sich aus dem Gesetz ergeben, in Anspruch nimmt.

Historisch geht das Gesetz auf den Zionismus zurück. Die wichtigste Säule des Staats, der Zionismus, garantiert die Rückkehr der Juden in ihre historische Heimat mit der Möglichkeit für jeden, sich dort ein neues Leben in Würde aufzubauen, nämlich eine Existenz in politischer Unabhängigkeit. Das aber kommt einer Ablehnung der jüdischen Existenz im Ausland gleich, die so gesehen eigentlich nie würdig sein konnte – eine Schlußfolgerung aus dem Scheitern der Emanzipation der Juden im 19. Jahrhundert in Europa, nachdrücklich verstärkt noch durch den Holocaust.

Darüber hinaus wuchs in Israel nach dem Zweiten Weltkrieg in bezug auf die sich in Deutschland neu bildenden jüdischen Gemeinden eine grundsätzliche Verstimmung darüber, daß Juden nach ihrer schrittweisen Entwürdigung bis hin zum Holocaust bereit waren, wieder im Land ihrer Henker zu leben. Man empfand dies als Schmach für das gesamte jüdische Volk. Dabei waren es – und sind es vereinzelt auch heute noch – keineswegs nur Israelis, sondern auch Juden anderswo in der Welt, die dieses Gefühl der Demütigung belastet.

Mittlerweile jedoch haben sich die Zeiten gewandelt. Israelis sehen heute das jüdische Dasein in der Diaspora mit mehr Gelassenheit als in den ersten Jahren der Existenz ihres Staats. Nach wie vor ist die Idee von Israel als ewige Asylstätte für alle Juden lebendig, man weiß aber ebenso, daß es für das Judentum mehr als nur eine Daseinsform gibt. Zweitausend Jahre des Exils haben eine Realität geschaffen, die sich nicht einfach auflösen läßt. Wichtig für unsere Zukunft ist allein, unsere Kultur, unsere Tradition zu bewahren. Wir haben die Vielfalt des jüdischen Lebens hingenommen, haben sie akzeptiert und kommen damit meist gut zurecht.

Was die jüdischen Gemeinschaften in Deutschland angeht, so liegen die Dinge freilich etwas komplizierter. Mit einem Problem wurde ich schon konfrontiert, als ich mich auf meinen Posten in Deutschland vorbereitete. Es ging um die Juden, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion endlich die Erlaubnis zur Auswanderung erhielten. Israel nahm von ihnen bereits etwa 700000 auf, nicht alle Emigranten aber gaben Israel den Vorzug, manche wollten sich anderswo im Westen niederlassen, so auch in Deutschland. In den letzten sieben Jahren konnten sich hier die jüdischen Gemeinden in etwa verdoppeln. Heute zählen sie rund 70000 Mitglieder – immer noch weniger als ein Promille der Gesamtbevölkerung.

Die israelische Regierung sah diese Entwicklung von Anfang an mit großer Besorgnis. Man konnte nicht verstehen, daß Juden, denen sich Israel als Heimat anbot, die mithin kein anderes Asylland nötig hatten, dennoch anderswo leben wollten, sogar in Deutschland. Das Verlangen, keine jüdischen Emigranten aus der Sowjetunion und anderen Ländern aufzunehmen, brachte die deutsche Regierung in einen doppelten Konflikt. Einmal gab es die nur langsam erstarkenden jüdischen Gemeinden, die auf Zuwachs von außen hofften. Zum anderen ließen sich moralische Verpflichtungen gegenüber Israel schwer in Einklang bringen mit dessen Forderung, jüdische Zuwanderer abzuweisen. War es nicht ganz und gar unmöglich, daß der Judenstaat von deutschen Behörden verlangte, sie dürften jeden Asylsuchenden aufnehmen, nur keinen Juden? Durfte sich überhaupt ein anderer Staat, Israel eingeschlossen, in innenpolitische Angelegenheiten Deutschlands einmischen?

Die israelische Regierung unter Ministerpräsident Shamir ließ indessen keine vernünftigen Argumente gelten. Hartnäckig bestand sie darauf, Deutschland solle keine Juden aufnehmen und solche, die sich um die Einwanderung bemühten, an Israel verweisen. Dem neuen Ministerpräsidenten Rabin wie auch dem neuen Außenminister, meinem Vorgesetzten Shimon Peres, war die Frage peinlich, die ich vor dem Antritt meines Amts in Bonn an sie richtete: Sollten wir immer noch auf die deutschen Behörden Druck ausüben und darauf bestehen, Juden aus der ehemaligen Sowjetunion die Aufnahme zu verweigern? Ich erhielt keine eindeutige Antwort, die Wahl der richtigen Politik in dieser Angelegenheit wurde mir überlassen.

Juden sollten, wie alle Menschen der Welt, das Recht haben, dort zu leben, wo sie wollen. Auch der Staat Israel hat nicht das Recht, ihnen in dieser Hinsicht Vorschriften zu machen. Das Gesetz der Rückkehr verpflichtet zwar Israel zur Aufnahme jedes Juden, der sie begehrt, zwingt aber niemanden gegen seinen Willen, diesem Gesetz zu folgen – die Verpflichtung liegt allein auf der Seite Israels. In diesem Sinne habe ich denn auch meine Aufgaben wahrzunehmen versucht, sowohl den deutschen Behörden wie den jüdischen Gemeinden gegenüber.

Insofern stellten die öffentlichen Äußerungen Präsident Ezer Weizmans während seines Staatsbesuchs im Januar 1996 einen gewissen Rückschlag dar. Er vertrat unumwunden die Auffassung, Juden hätten in Deutschland nichts verloren, es gebe überhaupt für Juden, nicht nur solchen aus der ehemaligen Sowjetunion, keinen Grund, in Deutschland zu leben. Weizmans Worte ließen außer acht, daß es mittlerweile sehr viele Deutsche gibt, die stolz sind auf das neu erstehende jüdische Leben in ihrem Land – sie sehen darin einen späten Sieg über Hitler, der ein »judenreines« Deutschland wollte. Noch während Weizmans Aufenthalt in Deutschland gestand ich in einer Fernsehsendung dem Präsidenten das Recht zu, seine ganz persönliche Meinung zu äußern. Damit war zugleich meine eigene, reservierte Haltung zu Weizmans Ansicht klargestellt.

Eine Woche später war ich Gast bei einem Essen, das der ägyptische Botschafter in Bonn gab. Seine Tischrede galt dem Ehrengast des Abends, er unterließ es jedoch nicht, auch an meine Adresse ein paar Worte zu richten. »Man hat mir mehrfach erzählt, Israel sei eine echte Demokratie«, sagte er. »Doch wie demokratisch Israel ist, wußte ich bis zur vorigen Woche nicht, als ich im Fernsehen meinen hier anwesenden israelischen Kollegen sah, der sein Staatsoberhaupt öffentlich fast gerügt hat. Ich bin davon ausgegangen, er würde meiner Einladung zum heutigen Abend nicht folgen können, weil er den Weg zurück in seine Heimat antreten mußte ... Aber er ist, wie ich sehe, immer noch da ...«

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Erschienen 1997 beim Ullstein-Verlag, Berlin

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