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Avi Primor
»...mit
Ausnahme Deutschlands«
Als Botschafter Israels in Bonn
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VIII.Teil
Vermächtnisse und Perspektiven
Vieles spricht dafür, daß der öffentliche
Meinungswandel zur Nazi-Vergangenheit, wie er sich in den Antworten auf die
Alternativfrage »Niederlage oder Befreiung« spiegelt, auch mit einer neuen
Einstellung zur Geschichte des deutschen Widerstands zusammenhängt.
Die Erinnerung an das mißlungene Attentat auf
Hitler am 20. Juli 1944 ist von der Bundesregierung zwar seit langem
institutionalisiert, die Bevölkerung aber tat sich schwer damit. Nur zögernd
hat man begreifen wollen, daß es Deutsche gab, die mit der Beseitigung
Hitlers ein rasches Ende des Krieges und die Einsetzung einer neuen
Regierung anstrebten. Wie viele waren es, die damals, aber auch noch lange
danach, die Verschwörer als Verräter betrachteten? Wie groß mag die Anzahl
derer gewesen sein, die auch in Mitbürgern, die Nazi-Verfolgten das Leben
retteten, Gegner des »Volkswillens«, also ebenfalls Verräter sahen? Und wie
viele Retter mochten nach dem Krieg ihre Geschichte nicht offenbaren, aus
begründeter Scheu, als »Nestbeschmutzer« verachtet zu werden?
Die Beschäftigung mit der Geschichte des
Widerstands im Dritten Reich sollte nicht nur Deutschen eine
selbstverständliche Pflicht sein. Auch Israel und die Juden können daraus
Lehren ziehen. Nicht, daß man keine Kenntnis vom Ablauf der Verschwörung
hätte, die an unglücklichen Zufällen gescheitert ist, doch der Respekt vor
den Verschwörern selbst ist meist gering, relativiert durch die Tatsache,
daß es sich vorwiegend um Männer handelte, die in gehorsamer Treue dem
»Führer« gedient und in der Nazi-Hierarchie wichtige Posten bekleidet
hatten. Natürlich, so wird argumentiert, begriffen diese Leute 1944, daß der
Krieg verloren war und damit auch jedes Privileg, mit dem das Regime sie
ausgestattet hatte. Der Widerstand war kein Widerstand als solcher, sondern
der verzweifelte Versuch, zu retten, was noch zu retten war. Bedauerlich
zwar, daß ihr Wagnis so schlimme Folgen zeitigte, daß zwischen dem
20. Juli 1944 und dem Mai 1945 noch Millionen Menschen umkamen, darunter
auch unzählige Juden in den Todeslagern. Alles Leid, alle Opfer der letzten
zehn Kriegsmonate wären der Welt erspart geblieben. »Große Gerechte« aber
oder gar moralische Vorbilder waren die Männer, die den Umsturz versuchten,
nicht.
Der Widerstand ging jedoch, wie man weiß,
nicht nur von hohen Berufsoffizieren und Zivilbeamten im Staatsdienst aus.
Und was die Männer vom 20. Juli betrifft, so kann man zwar nicht leugnen,
daß viele von ihnen über lange Jahre »echte« Gefolgsleute Hitlers gewesen
sind, Nazis also, Antisemiten, Anhänger der nationalsozialistischen
Rassenlehre, auch überzeugte, wenn nicht begeisterte Teilnehmer an den
Eroberungsfeldzügen im Krieg. Doch das traf eben nicht für alle zu, und es
waren auch nicht alle, die erst 1944 zu der Erkenntnis kamen, das
Hitler-Regime müsse beseitigt werden. Wie weit der Widerstand verbreitet war
und wie hoch der Preis gewesen ist, den die Beteiligten für ihren Einsatz
entrichteten, belegt Marion Gräfin Dönhoff in ihrem Buch »Um der Ehre
willen« mit den Zahlen der Opfer: »Nach dem seit Jahren geplanten und dann
fehlgeschlagenen Attentat wurden hingerichtet: 21 Generale, 33 Obersten, 2
Botschafter, 7 Diplomaten, ein Minister, 3 Staatssekretäre und der Chef der
Reichskriminalpolizei, ferner mehrere Oberpräsidenten, Polizeipräsidenten
und Regierungspräsidenten. Seit 1940/41 haben sich die Todesurteile der
Militärgerichte jedes Jahr verdoppelt. 1944/45 waren es 8200. Der
Volksgerichtshof verhängte im selben Jahr 2140.«
Unter den Verschwörern gab es nicht wenige,
die spätestens schon 1933 die mit Hitler drohenden Gefahren abzuwenden
suchten: Idealisten und Demokraten, gläubige Menschen, Gewerkschafter,
Sozialisten und Kommunisten. Die Offiziere wiederum, die dem Widerstand
angehörten, hatten vielfach Probleme mit dem Eid, den sie auf Hitler ablegen
mußten. Er verpflichtete sie zu absolutem Gehorsam, während ihr Gewissen sie
aufrief, alles zu tun, um das Unheil abzukürzen, das Hitler über die Welt
gebracht hatte. Ob er selbst zu töten sei und auf welche Weise, war in den
Kreisen des Widerstands eine der umstrittensten Fragen.
1979 verbrachte ich ein Wochenende bei Claus
von Amsberg und seiner soeben zur Königin der Niederlande gekrönten Gattin
Beatrix im Schloß Drakenstejn. Es war das letzte Wochenende vor dem Umzug
des Paares in die Residenz Huis ten Bosch in Den Haag. Ebenfalls zu Gast war
ein imponierend großer, mir unbekannter Deutscher. Er war beinamputiert und
hatte überdies zwei Finger verloren. Da er mit Prinz Claus und mit Beatrix
offensichtlich gut befreundet war, ließ sich mit Sicherheit darauf
schließen, daß er weder Nazi gewesen noch einer ihrer Sympathisanten war.
Trotzdem hatte ich Vorbehalte gegen diesen Mann, der mir ohne Titel und
Prädikate als Axel Bussche vorgestellt worden war. Mich beschäftigte, ob er
seine Verletzungen im Krieg erlitten hatte.
Meine zwiespältigen Gefühle gegenüber dem
Gast ließen mich im Gespräch alle Themen vermeiden, die irgendwie mit der
Nazi-Zeit zu tun hatten. Wir unterhielten uns über den Nahen Osten, sprachen
über Fragen der Weltpolitik und kamen schließlich auf ein Thema, das uns
beiläufig auch auf Hitler brachte. Es ging zunächst um Friedrich den Großen,
dann auch um das Leben und Wirken Napoleons. Bussche war ein wenig
überrascht, als er in mir, einem Juden, einen Bewunderer Napoleons
entdeckte. Doch bald merkte er, daß die Hochachtung nicht unbedingt der
militärischen Begabung des Feldherrn galt, sondern der genialen
Vielseitigkeit dieses ungewöhnlichen Mannes, seiner Kompetenz auf fast jedem
Gebiet.
So erzählte ich, was Napoleon für die
französischen Juden getan hat. Um bis dahin nicht eingelöste Ideen aus der
Zeit der Französischen Revolution zu verwirklichen, suchte er nach Wegen,
den Juden Gleichberechtigung und Emanzipation zu verschaffen – kein leichtes
Vorhaben, denn die Bevölkerung war traditionell in Vorurteilen befangen, und
die Juden selbst in ihrer Isolation verharrten verkrampft in dem Gefühl,
sich gegen alles wehren zu müssen, was sie betraf. Napoleon begriff, daß
sich nach Jahrhunderten voller Vorbehalte auf beiden Seiten eine Wende nicht
willkürlich herbeiführen ließ. Eine Annäherung würde nur nach sorgfältiger
Prüfung aller Umstände, aber auch der Mentalität der jeweils Betroffenen
möglich sein. So verfaßte der Kaiser unmittelbar vor der Schlacht von Jena,
in der Nacht vom 13. zum 14. Oktober 1806, in seinem Zelt bei Landgrafenberg
den Grundsatz zur Wiedereinführung des »Sanhedrin«, des Hohen Rats, der
obersten jüdischen Gerichtsbehörde in Jerusalem, die bis zum Jahr 70 nach
unserer Zeitrechnung bestand. Der neue Hohe Rat sollte nach den
Vorstellungen Napoleons Wege finden, die Juden aus freien Stücken und mit
ihrem Einverständnis in die französische Gesellschaft zu integrieren. Sie
konnten Napoleons »Sanhedrin« nur deshalb akzeptieren, weil er auf dem Geist
und den Traditionen des alten basierte. Allein Napoleons
Einfühlungsvermögen, seiner Kenntnis des altjüdischen Rechts und seiner
Beharrlichkeit ist es zu danken, daß aus seinem Vorhaben ein dauerhafter
Erfolg wurde.
Der Deutsche hörte aufmerksam zu. Dieser Teil
unserer Gespräche endete damit, daß er sinngemäß erklärte, seit den
Erfahrungen der Welt mit Hitler hätte das Ansehen Napoleons zwar
beträchtlich gelitten, zwischen beiden gebe es dennoch einen abgrundtiefen
Unterschied.
Erst Tage später, am Telefon, erfuhr ich von
Claus von Amsberg, wer Axel von dem Bussche – sein richtiger Name – war. Er,
der sich nach dem Krieg unter anderem der Entwicklungshilfe für die Dritte
Welt zugewandt hat, diente bis 1945 als Wehrmachtsoffizier, begeistert
zunächst von den militärischen Erfolgen der Deutschen an allen Fronten, bis
er 1942 Augenzeuge eines Massakers an Juden wurde. Von da an, nachdem er mit
seinen Vorstößen bei Vorgesetzten, solchen Verbrechen entgegenzutreten,
wenig ausrichtete, trug er sich mit dem Plan, Hitler zu töten. Er scheute
nicht die Gefahr für das eigene Leben, war sich vielmehr bewußt, daß er
sich, sollte das Attentat gelingen, selber opfern mußte. Eine geeignete
Gelegenheit dazu schien 1943 gekommen, als man Hitler die Modelle neu
entworfener Uniformen vorführen wollte, auf einer Art Modenschau mit dem
»Führer« als oberstem Inspizienten und Gutachter. Bussche war darauf
vorbereitet, unter dem Vorführmodell einer der Uniformen eine Bombe am
Körper zu tragen, die Zündung zu betätigen, sobald Hitler in seine Nähe kam,
und sich mit ihm in die Luft zu sprengen. Einen Tag vor der schon mehrfach
verschobenen Veranstaltung machte ein Bombenangriff alle Vorkehrungen
zunichte, das Gebäude wurde zerstört, die Uniformen verbrannten. Bussche kam
an die Front zurück und wurde bald danach schwer verwundet.
Er sei von mir sehr angetan gewesen, sagte
Claus von Amsberg, ich wußte jedoch nicht so recht, wieso. Abgesehen von der
Napoleon-Geschichte, der er interessiert zuhörte, hatte ich nichts gesagt,
was ihn in irgendeiner Weise hätte fesseln oder nachdenklich machen können,
die Gespräche drehten sich eher um alltägliche, belanglose Dinge. Den Grund
erfuhr ich erst Jahre später, als Claus und ich wieder auf die Begegnung mit
dem Mann zurückkamen, der unter Aufopferung seiner selbst die Menschheit von
Hitler erlösen wollte. »Bussche war deshalb so beeindruckt von dir«, sagte
Amsberg, »weil du als Isreali überhaupt bereit warst, mit ihm zu sprechen.«
Eigentlich unglaublich, dachte ich – der Held, der Widerstandskämpfer, der
er war, er soll sich mir gegenüber gehemmt gefühlt haben? Ihn in Deutschland
wiederzusehen, war leider nicht mehr möglich, Axel von dem Bussche ist seit
längerem tot.
Sein Name steht exemplarisch für alle, die
sich aus Verantwortungsgefühl, Glaubens- und Gewissensgründen und im
Bewußtsein des schrecklichen Unrechts, dessen Zeugen sie wurden, dem
Widerstand verschrieben haben, oft schon lange vor der Kriegswende.
Widerstandskämpfer aber lassen sich auch jene Frauen und Männer nennen, die
verfolgte Juden retteten. Nicht jeder Widerstandskämpfer half Juden retten,
aber jeder Judenretter leistete Widerstand. Sein Leben und das seiner
Angehörigen setzte er dabei ebenso entschlossen aufs Spiel wie die
Verschwörer.
Bisher sind es nahezu dreihundertfünfzig
Deutsche, die nach sorgfältiger Prüfung ihrer Geschichte durch Yad Vashem,
die israelische Forschungs- und Gedenkstätte in Jerusalem, als Retter
jüdischer Verfolgter anerkannt sind. Hin und wieder begegne ich solchen
Menschen, und in Abständen darf ich dem einen oder anderen von ihnen im
Namen von Yad Vashem den Ehrentitel »Gerechte/r unter den Völkern« verleihen
und die Würdigung mit der Überreichung der Yad-Vashem-Medaille und -Urkunde
verbinden. Jede Rettungsgeschichte ist ein Drama für sich, spannend und
erschütternd zugleich, erstaunlich, voller Rätsel und mitunter fast
unglaublich, wäre sie nicht durch Zeugen belegt wie die Geschichte Hans
Calmeyers, eines Rechtsanwalts aus Osnabrück.
Der Jurist gehörte während der Kriegsjahre
zum Verwaltungsstab der deutschen Besatzungsmacht in Holland. Im
Reichskommissariat für die Niederlande stand er an der Spitze des Referats
für Verwaltung und Rechtsangelegenheiten (Referat Innere Verwaltung) in Den
Haag. In Calmeyers Zuständigkeit fiel unter anderem, den Status von Juden
festzustellen, die nachweisen konnten, daß sie nach den Rassegesetzen der
Nazis »nur« Halb- beziehungsweise weniger als Halbjuden waren.
Calmeyer ließ bei seinen Kontakten mit
holländischen Anwälten an seiner ablehnenden Haltung gegenüber dem
Nazi-Regime keinen Zweifel. Indem er falsche Abstammungsnachweise bewußt
akzeptierte und wiederholt Listen mit den Namen jüdischer Bürger
ausfertigte, die aus den verschiedensten Gründen von der Deportation
freigestellt wurden, gelang es ihm, an die dreitausend holländische Juden zu
retten, trotz des Argwohns, den seine Tätigkeit bei den SS- und
SD-Dienststellen erregte. Bereits im Herbst 1942 wurde er angewiesen, keine
Listen mehr zu erstellen, doch Calmeyer hielt sich nicht daran.
Kein Zweifel, die Deportationen
niederländischer Juden wären rascher und im Sinne der Nazis reibungsloser
verlaufen, hätte an Calmeyers Stelle ein gewöhnlicher deutscher Beamter
gesessen. Calmeyer sorgte dafür, daß bedrohte Juden, deren
Freistellungsanträge ihm vorlagen, eine Karenzzeit bekamen, die sie zu ihrem
Vorteil nutzen konnten, etwa zur Suche von Verstecken. Andere wurden
rechtzeitig vor der Gestapo gewarnt. Ohne die ebenso tatkräftige wie
verschwiegene Hilfe von Mitarbeitern seines Büros hätte Hans Calmeyer die
Rettungsaktionen nicht durchführen können. Einer der Helfer, schon vor
längerer Zeit als »Gerechter unter den Völkern« anerkannt, wurde zur
Wehrmacht versetzt, desertierte und schloß sich der holländischen
Untergrundbewegung an. Die Hauptlast der Verantwortung aber lag bei Calmeyer
selbst, der zunehmend Schwierigkeiten mit dem Reichssicherheitshauptamt
bekam. Dessen Mittel reichten, dank der schwer durchschaubaren Tricks des
Judenretters, nicht aus, handfeste Beweise gegen ihn zu sammeln. Keine Idee
schien ihm zu ausgefallen, um Juden vor der Vernichtung zu bewahren.
So berichtet ein holländischer Anwalt, Benno
J. Stockvis, vom Fall eines sechzehnjährigen Mädchens, Ruth F., dem die
Deportation drohte. Bei der Durchsicht ihrer Papiere sei ihm plötzlich
eingefallen, daß die biblische Ruth, die Moabitin, vom jüdischen Volk
aufgenommen wurde, obwohl sie fremd war. So wurde aus der jungen
niederländischen Jüdin Ruth eine Adoptivtochter, die ihren Namen nur
symbolisch trug, zur Erinnerung an die Frau aus dem Alten Testament und als
Zeichen dafür, daß sie keine Jüdin von Geburt war. Calmeyer war
einverstanden mit dieser »Regelung« und gab sein Plazet.
Calmeyers Entschlossenheit, Juden dem Zugriff
der Gestapo zu entziehen, ging so weit, daß sein Amt auch Zeugenaussagen
anerkannte, die nach »normalem« Rechtsverständnis Verdacht erregen mußten,
weil sie wenig stichhaltig oder absolut unglaubhaft erschienen. Auf diese
Weise erhielten etwa die Angaben eines alten Mannes Gewicht: Er behauptete,
es seien in seinem Dorf Gerüchte in Umlauf, wonach die Großmutter eines
Antragstellers von einem Arier geschwängert worden war. Bei dem
Antragsteller konnte es sich also nur um einen »Vierteljuden« handeln. »Ich
wußte nicht«, kommentierte ein Mitarbeiter Calmeyers die Geschichte, »daß
jüdische Frauen derart unmoralisch sind.«
Jede der Fälschungen von Geburts- und
Heiratsurkunden, Taufscheinen und ähnlichen Dokumenten, auf die Calmeyer
sich wissentlich einließ, die er mit seinen Mitarbeitern sogar förderte und
selber bewerkstelligte, kam der Rettung eines Menschenlebens gleich. »Seinen
privaten Kampf zur Rettung von Juden führte er mit Verstand, Mut und
Kühnheit, in ständiger Gefahr für Leib und Leben schwebend«, berichtet
Stockvis. »Und wie viele, die Mut und Geistesgegenwart unter anhaltendem
Druck bewiesen haben, brach er nach dem Krieg zusammen und verfiel in eine
schwere Depression und in ein Gefühl von absoluter Frustration und Reue,
gleich so, als säße er mit den Mördern, seinen Volksgenossen, die er so
haßte, zusammen auf der Anklagebank. Sein Schicksal beweist, wie schwierig
das Los eines einzigen Gerechten in ganz Sodom ist.«
In Osnabrück wurde erst nach mehr als
anderthalb Jahrzehnten nach seinem Tod bekannt, wer Hans Calmeyer gewesen
ist und was er vollbrachte – ein Mann des intakten Gewissens und der
Zivilcourage, ein Retter von Tausenden Verfolgter, für seine Heimatstadt
ganz sicher das überragende Beispiel des Wiedererstehens jenes »anderen«
Deutschland, das nur langsam Wirklichkeit werden konnte. 1994 nahm ich im
Osnabrücker Rathaus an einer Veranstaltung zu Ehren Calmeyers teil. Aus den
Ansprachen des Oberbürgermeisters und anderer Redner war das Bedauern über
die lange Zeit herauszuhören, die man warten mußte, um Calmeyer zu ehren.
Weder er selbst noch diejenigen, die ihm nahestanden, hatten von seinen
Taten sprechen wollen, aus Furcht, damit noch nachträglich Anstoß zu
erregen.
In den ehemals von den Deutschen besetzten
Ländern sind Berichte über den Widerstand gegen Hitler, aber auch
Geschichten wie die von Hans Calmeyer lange mit skeptischer Zurückhaltung
aufgenommen, teilweise auch als Legenden abgetan worden. Manches von dem,
was an Taten einzelner Widerstandskämpfer oder organisierter Gruppen aus den
Kriegsjahren überliefert ist, hält tatsächlich einer genaueren Nachprüfung
nicht stand, stellt sich als nur zur Hälfte wahr oder erfunden heraus.
Umgekehrt hat sich gezeigt, daß es in den
Ländern, die mit Stolz auf ihren erfolgreichen Widerstand gegen die deutsche
Besatzungsmacht verweisen, nicht wenige Helfer und Mittäter gab,
Kollaborateure, die den Nazis willig bei Verhaftungen und Deportationen zur
Hand gingen. Holland, das jahrzehntelang wegen seines Widerstands, vor allem
auch aufgrund vieler geglückter Rettungsaktionen für Juden weithin in hohem
Ansehen stand, muß sich heute mit der Schattenseite dieser Realität
auseinandersetzen. Fest steht, daß es hier nicht weniger Kollaborateure als
Widerstandskämpfer gegeben hat, nämlich vier Prozent, und daß die Mehrheit
der Bevölkerung den Anordnungen der Nazis gehorsam gefolgt ist. Das gleiche
gilt für die öffentliche Verwaltung. Gemessen daran waren es nur wenige
Verfolgte, die gerettet werden konnten, und dies auch nicht immer von
Helfern aus dem eigenen Land, wie die Calmeyer-Geschichte zeigt. Anders in
Belgien: Zu Léon Degrelle und seiner »Wallonischen Legion«, die auf der
Seite der Deutschen kämpfte, gab es das Gegenbild eines im Untergrund gut
organisierten Widerstands. Besonders erfolgreich verliefen seine Aktionen
zur Rettung bedrohter Juden.
Auch die Franzosen kamen in den letzten
Jahren nicht umhin, sich selbstkritisch mit ihrem Verhalten während der
Besatzungszeit zu befassen. Die Rolle der Résistance, die de Gaulle stets
beharrlich unterstrich, blieb überschattet vom berüchtigten Vichy-Regime.
Tatsache ist, daß die französische Bevölkerung weit aktiver und
erfolgreicher, als es anderswo im besetzten Europa geschah, verfolgten Juden
geholfen hat – fünfundsiebzig Prozent der Juden Frankreichs konnten gerettet
werden. Ernsthaft und akribisch ist man heute bemüht, gewisse Legenden
aufzulösen und der Bildung neuer entgegenzuwirken.
Großbritannien dagegen, auf dessen Hauptinsel
kein einziger bewaffneter deutscher Soldat seinen Fuß gesetzt hat, konnte
sich nach dem Krieg als europäische Zentrale des organisierten Widerstands
gegen Nazi-Deutschland rühmen. Inzwischen weiß man, daß Bewohner der
britischen Kanalinseln Jersey und Guernsey eng mit den deutschen Besetzern
paktierten – ihnen erschienen sie geradezu als Musterbeispiele der
Kollaboration. In unrühmlicher Erinnerung ist auch die »British Union of
Fascists«. Ihr Anführer Mosley, der sich Hitler zum Vorbild erkor, bereitete
sich auf eine Zusammenarbeit mit den Deutschen vor und war auch noch nach
dem Krieg politisch tätig. Im übrigen fand sich in England vor 1939 kaum
jemand, der mit Nachdruck vor Hitler warnte. Männer wie Lloyd George, der
Luftfahrtminister Londonderry und der Herzog von Windsor sprachen sich eher
für eine Annäherung an das nationalsozialistische Deutschland aus. Den
Herzog, den abgedankten Edward VIII., mußte Churchill sogar vor dem Vorhaben
warnen, im Falle einer Eroberung Englands durch die Deutschen doch noch den
Königsthron zu besteigen, auf den er wegen seiner nicht gebilligten Ehe mit
Wallis Warfield-Simpson verzichtet hatte. Doch solche oder noch größere
Versuchungen blieben den Engländern erspart – dank Gottes Hilfe, die ihre
Insel vor der deutschen Invasion bewahrt hat.
Widerstand setzte alle, die ihn im Untergrund
betrieben, ständig den größten Gefahren aus. Überall im besetzten Europa
wurden Nazi-Gegner verraten, verhaftet, gefoltert, deportiert, oft mitsamt
ihren Angehörigen. Doch nur in Deutschland, von Einzelfällen abgesehen,
hatten Widerstandskämpfer nicht nur Gestapo und SS, Spitzel und Denunzianten
zu fürchten, sondern auch die allgemeine Gefolgstreue zu Hitler und die tief
in allen Bevölkerungsschichten verwurzelte Überzeugung, nach der Widerstand
als Landesverrat und somit als Schwerstverbrechen galt. Wer entdeckt zu
werden drohte, zur Fahndung ausgeschrieben oder in ähnlichen
Gefahrensituationen war, der hatte, anders als seine Gefährten in den
besetzten Ländern, kaum mit Unterstützung durch seine Landsleute zu rechnen.
Das traf in besonderem Maße auf Deutsche zu, die es wagten, Juden zu
verstecken, ihnen zur Flucht zu verhelfen oder ihnen auch nur durch kleine
Zuwendungen das Leben zu erleichtern. Um so höher muß man deshalb ihren Mut
bewerten, nicht nur in Gedenkreden.
Einen Tag nach dem Attentat vom 20. Juli
verabschiedete sich Henning von Tresckow, einer der Verschwörer, von einem
Freund, bevor er sich das Leben nahm: »Wenn einst Gott Abraham verheißen
hat, er werde Sodom nicht sogleich verderben, wenn es darin auch nur zehn
Gerechte gäbe, so hoffe ich, daß Gott Deutschland um unseretwillen nicht
vernichten wird.« Bundeskanzler Kohl zitierte diese Worte während der
zentralen Gedenkfeier 1994 in Berlin. Gott hat Deutschland nicht vernichtet,
und desto notwendiger scheint es, auch für Israelis und für Juden in aller
Welt, den Kampf des deutschen Widerstands zur Kenntnis zu nehmen. Er
verdient Bewunderung.
Die Geschichte wiederholt sich nicht, doch
sie gibt Fragen auf an spätere Generationen. Einem meiner Sicherheitsleute
kam, nachdem er mit mir Ausstellungen besichtigt, zahlreiche Veranstaltungen
besucht und eine noch größere Anzahl von Reden gehört hatte, eine solche
Frage. Nach langem Überlegen mußte er sich eingestehen, daß er, gäbe es
heute plötzlich wieder ein Nazi-Regime, genau das tun würde, was, wie er
sagte, »alle jungen Deutschen damals taten, trotz allem, was ich heute weiß
und gelernt habe«. Er würde nicht genügend Entschlossenheit und Kraft
aufbringen, sich dem Regime zu widersetzen oder Befehle zu verweigern.
Wenn ein mit demokratischen Idealen
aufgewachsener junger Deutscher, gewiß alles andere als ein
Nazi-Sympathisant, fünfzig Jahre nach dem Ende des Dritten Reiches ohne
zwingenden Grund zu einer solchen Schlußfolgerung kommt, dann kann die
Hochachtung vor dem deutschen Widerstand nur um so größer sein. Auch Israel
wird sich dieses Respekts nicht länger versagen können.
Anfang der siebziger Jahre begleitete ich
eine Gruppe prominenter Gäste aus dem Ausland durch Israel. Der
Sechstagekrieg war etwa vier Jahre vorbei. Nach dem gewonnenen »Blitzkrieg«
gegen die arabischen Nachbarstaaten hatte sich mit der allenthalben
spürbaren Siegesstimmung Hochmut breitgemacht. Allen Israelis ging es gut,
die Wirtschaft florierte, Hochtechnologie war eine ihrer
Haupterrungenschaften geworden. Die Zukunft sah strahlend aus.
Auf ausländische Besucher wirkte diese
Stimmung keineswegs immer sympathisch. Als ich der Gästegruppe erklärte, sie
werde einem bekannten Schriftsteller begegnen, fügte ich wohlweislich hinzu,
er sei ein Mann des ausgewogenen Urteils, gemäßigt, ein Philosoph mit großen
Visionen, Amos Oz, dessen Bücher inzwischen alle ins Deutsche übersetzt sind
und der den Friedenspreis des deutschen Buchhandels erhielt. Damals freilich
beeindruckte er die Gäste eher mit sarkastischen Provokationen. Kaum, daß
sie das Haus betreten hatten, fragte er sie, wie lange sie schon im Lande
seien. »Seit gestern? Na, dann hatten Sie ja schon Zeit, festzustellen, was
für ein herrliches Land Israel ist und was für ein großartiges Volk wir
sind!« Jeder blickte peinlich berührt zu Boden.
»Doch, doch«, fuhr Amos Oz fort, »schauen Sie
sich uns nur gut an. Wir sind alle wie Samson aus der Bibel, wir alle sind
Samsons. Nur, wenn Sie uns genau betrachten, werden Sie entdecken, daß wir
Samsons in der Nacht Angst haben und vor der Finsternis zittern. Der
Hochmut, der Stolz, den Sie heute an den Israelis beobachten und der Ihnen
unangenehm vorkommen muß – er ist rein oberflächlich, gewissermaßen eine
künstliche Übertreibung, um dahinter die Angst zu verstecken. Angst ist die
große Motivation unseres Volkes, stärker als jede andere.« Und dann folgte
ein Abriß der jüdischen Geschichte, die geprägt ist von jahrtausendelanger
Verfolgung, bis heute hin.
Die Angst als Grund- und Leitmotiv der
gegenwärtigen Politik Israels angesichts der fortdauernden Bedrohung habe
ich Abdallah Frangi zu erklären versucht, dem Vertreter der PLO in
Deutschland. Es gab mehrere Gelegenheiten, mit ihm lange Gespräche zu
führen. Auch auf einer gemeinsamen Fahrt zu einem von der
Konrad-Adenauer-Stiftung initiierten Seminar in Italien ging es um diese
Angst. Doch Frangi verstand mich offenbar nicht und widersprach aufs
heftigste. »Ihr habt Angst?« fragte er, »ihr, die ihr alle Kriege gewonnen
habt, eine blühende Wirtschaftsentwicklung erlebt und seht, wie eure
Bevölkerung ständig wächst – ihr als Besetzer unseres Landes, ihr habt
Angst? Wir, die nicht einmal in Würde leben können, die unter eurer
Besatzung leben müssen, wir haben Angst!«
Es war nicht leicht, Frangi verständlich zu
machen, daß unsere Angst sich nicht nur auf Kriege, auf Grenzverletzungen
und Terroranschläge bezieht. Ich gab die Erklärung an ihn weiter, mit der
Amos Oz seinerzeit die ausländischen Gäste zunächst verwirrt und in
Verlegenheit gebracht hat, bis sie allmählich begriffen, was er meinte.
Unsere Angst ist psychologisch bedingt, und man muß sie in Betracht ziehen,
wenn man die Israelis verstehen und mit ihnen verhandeln will. Wir, wie auch
andere Völker, doch in anderem Sinn, müssen uns mit unserer Vergangenheit
und ihren Gespenstern auseinandersetzen. Der Gedanke, in der Welt isoliert
zu sein, ist zweifellos eines dieser Gespenster und hatte gewisse
Verhärtungen und Verkrampfungen zur Folge. »Die Welt ist gegen uns« heißt
die Parole der Verkrampften.
Daß wir dennoch und trotz allem nicht völlig
allein waren, beweist die Vielzahl der Fälle, allein in Berlin, in denen
während des Kriegs Nichtjuden jüdischen Mitbürgern zum Überleben verhalfen.
Am Anfang der Verfolgung waren es angeblich fünf- bis zehntausend Juden, die
in Berlin untertauchten, nur tausendfünfhundert haben den Krieg überlebt.
Wie viele Deutsche waren es, die ihnen geholfen, wie viele, die damit selber
Gefahren auf sich nahmen, die Opfer von Denunzianten wurden, verhaftet und
am Ende hingerichtet? Groß scheint auch die Zahl der Helfer und Retter zu
sein, die im Bombenkrieg umkamen, ebenso wie zahllose »Illegale«, die
heimlich Versteckten, bei Luftangriffen meist schutzlos. Die Tagebücher
Victor Klemperers, der mit einer »arischen« Frau verheiratet und nicht
untergetaucht war, vermitteln ein Bild von der verzweifelten Lage der
Verfolgten gerade in den letzten Phasen des Kriegs.
Wenn man in Betracht zieht, daß es
zweieinhalb Jahre waren, die zwei verfolgte deutsche Jüdinnen wie Inge
Deutschkron und ihre Mutter in der Illegalität lebten, nicht wie Anne Frank
und ihre Familie in Holland in einem Versteck, sondern in ständig
wechselnden, und bedenkt man weiter, daß sie, um zu überleben, arbeiten, das
heißt sich fortwährend um neue Arbeitsplätze bemühen mußten, in permanenter
Angst vor der Entdeckung durch Nachbarn, dann gewinnt man in etwa eine
Vorstellung von der Zahl derer, die an ihrer Rettung beteiligt waren. Ihr
letztes Buch »Sie blieben im Schatten« hat Inge Deutschkron ihren Helfern
gewidmet. Es ist, wie der Untertitel sagt, »ein Denkmal für stille Helden«.
Es gab also außer den von Yad Vashem
anerkannten »Gerechten unter den Völkern« Tausende, die ihr eigenes Leben
und das ihrer Familien riskierten, um Verfolgten zu helfen. Sind wir uns
dessen hinreichend bewußt?
Als ich den Deutschlandbesuch von
Staatspräsident Ezer Weizman im Januar 1996 vorbereitete, schlug ich einen
Gedenkaufenthalt in Plötzensee vor, der Hinrichtungsstätte vieler deutscher
Widerstandskämpfer. Der Präsident und seine Frau Re’uma zeigten sich nicht
nur von diesem Ort beeindruckt, fast mehr noch bewegte sie das Gespräch mit
einer Gruppe ehemaliger Angehöriger des deutschen Widerstands, die am Morgen
jenes Tages zur Gedenkstätte gekommen war, um die israelischen Staatsgäste
zu treffen. Natürlich wußten der Präsident und seine Frau von der Existenz
und Stärke der Verschwörergruppen, die auf unterschiedliche Weise das
Nazi-Regime bekämpft haben, die Eindrücke vom unmittelbaren Kontakt mit
einigen Überlebenden aber waren so nachhaltig, daß sie später, nach der
Rückkehr, in allen Gesprächen mit der israelischen Presse deutlich
anklangen. Nie zuvor haben Zeitungen in Israel so ausführlich über den
Widerstand in Deutschland berichtet wie – erfreulicherweise – anläßlich des
Weizman-Besuchs Anfang 1996.
Das Wissen, daß wir trotz allem nicht völlig
isoliert sind, daß es selbst in schwierigsten, furchtbarsten Zeiten jene
gab, die unerschrocken zu uns standen, könnte helfen, uns ein wenig aus der
Verkrampfung zu lösen und damit auch befreiend zu wirken bei der Bewältigung
der Schwierigkeiten in dem komplizierten und schicksalhaften Friedensprozeß,
in dem Israel sich gegenwärtig befindet.
Schlußstrich? Nachdem das Gedenkjahr 1995 so
würdig begangen wurde – darf man nun, wie es manche wünschen, einen
Schlußstrich unter die deutsche Vergangenheit ziehen? Meinungsumfragen
zufolge sind es sogar die meisten Deutschen, die sich dies wünschen oder die
zumindest glauben, daß ein solcher Schlußstrich möglich sei. Immerhin
stimmen 53 Prozent aller Deutschen in Ost und West einer entsprechenden
Frage zu, 41 Prozent verneinen sie. Interessant ist, daß es unter den
Vierzehn- bis Achtzehnjährigen nur 41 Prozent sind, die den Schlußstrich
wünschen, 59 Prozent sind gegenteiliger Meinung. Ein unentschiedenes »ich
weiß nicht« gibt es hier nicht, jeder Jugendliche vertritt eine dezidierte
Ansicht, im Unterschied zu den älteren Befragten, von denen sich elf Prozent
unentschieden äußern.
Abgesehen von Leuten, die sich aus
persönlichen, ideologischen Gründen oder aus reinem Wunschdenken so
verhalten, meine ich, daß sich die Deutschen, die an die Möglichkeit des
Schlußstrichs glauben, einfach täuschen. Man hat im Rahmen einer
geschichtlichen Beurteilung noch nie einen Strich unter irgendeine Epoche
ziehen können. Historiker legen Schlußstriche innerhalb der Geschichte immer
erst zu einem weit späteren Zeitpunkt fest, manchmal erst, nachdem Hunderte
von Jahren vergangen sind. Das Jahr 1492, lernten wir in der Schule, war das
Ende des Mittelalters. Daß dies wirklich zutraf, wußte niemand von den
damals Lebenden, wußten auch jene nicht, die hundert Jahre später
existierten. Erst aus weiter Retrospektive ließ sich die Zeit vor der Wende
zum 16. Jahrhundert als eine solche verstehen. Dem Verlangen nach
kurzfristig zu setzenden Zeitzäsuren widerspricht auch das Fortleben großer
historischer Persönlichkeiten im Gedächtnis der Nachwelt. So erschienen seit
seinem Todesjahr 1821 bis heute über Napoleon weltweit mehr
Veröffentlichungen als Tage vergangen sind.
Wir haben also weder die Macht noch die
historische Kompetenz, für unsere Zeit ein abschließendes geschichtliches
Urteil festzulegen, das bleibt kommenden Generationen überlassen. Darüber
hinaus lehrt die Geschichte, daß Daten oder symbolträchtige Ereignisse sehr
oft nur einen oberflächlichen und vorübergehenden Eindruck hinterlassen.
Heute weiß man um den Rang des Jahres 1995 als Gedenkjahr, doch werden davon
weder unsere Gedanken noch unsere Gefühle begrenzt. Am 9.Mai 1995, wie auch
zwei Tage davor, am 7. Mai – und Jahre davor und danach – setzte sich unser
Leben mit allem Denken und Handeln fort, kein willkürliches Datum konnte und
kann es aufhalten. Wie wenig die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit an
fixe Daten gebunden ist, zeigt nicht zuletzt auch das gewaltige Echo, das
Goldhagens Buch im Herbst 1996 in Deutschland fand.
Sollten wir uns wirklich einen Schlußstrich
wünschen, und läßt er sich tatsächlich ziehen? Vor den Deutschen wie auch
vor den Israelis liegen, in bezug auf die Vergangenheit, noch viele
Aufgaben. Noch immer macht in Deutschland der Neonazismus von sich reden;
Sehnsüchte nach dem Dritten Reich und dessen wahnwitzigen Ideen werden laut,
und zwar keineswegs nur von denen, die Nazi-Uniformen tragen oder sich mit
Nazi-Symbolen schmücken, nicht einmal von den Gewalttätern, die Anschläge
verüben, Friedhöfe schänden und Ausländer bedrohen. Umfrageergebnisse
zeigen, daß Extremisten in der deutschen Bevölkerung mehr Sympathien finden,
als man annehmen möchte. So bekannten sich 1995 von allen Deutschen 24
Prozent zu der Ansicht: »Die Ideen des Nationalsozialismus waren gar nicht
so schlecht«. Diese bedenkliche Auffassung findet sich nicht etwa nur bei
Anhängern der Republikaner, sie wird durchgehend, und zwar zu gleichen
Teilen und in der Höhe des Gesamtergebnisses der Umfrage, auch von Wählern
der CDU/CSU, der FDP und – überraschenderweise – der SPD vertreten.
Lediglich bei den Grünen (fünfzehn Prozent) und bei Wählern der PDS (zwölf
Prozent) ist der Anteil geringer.
Es ist klar, die Umfrage, bei der es um eine
qualitative Bewertung der Nazi-Ideologie ging, ergab keine Mehrheit. Auch
läßt das Ergebnis keine Schlüsse auf die Situation zur Zeit der Weimarer
Republik zu. Andererseits gibt es Leute, die extrem radikale Gruppierungen,
welche von einem Viertel der deutschen Gesamtbevölkerung positiv
eingeschätzt, zumindest aber geduldet werden, für gefährlich halten.
Schließlich begann Hitler auch nur mit einer kleinen Minderheit, die nach
zehn Jahren dann an die Macht gelangte. Der Unterschied zwischen der
Weimarer Republik und der Bundesrepublik besteht jedoch darin, daß – obwohl
es sich damals wie heute um echte Demokratien mit einem parlamentarischen
System handelt – die Bevölkerung der Weimarer Republik nicht von
demokratischen Ideen durchdrungen war. Franz von Papen sagte bei seiner
Vernehmung im Nürnberger Prozeß: »Die Weimarer Verfassung hatte dem Volke
eine Fülle von Rechten gegeben, die nicht seiner politischen Reife
entsprachen.« Damals war das Wort im Schwange: »Vox populi – vox Rindvieh.«
Die Mehrheit der heutigen Bundesbürger ist
demokratisch erzogen, von demokratischem und humanistischem Ideengut geprägt
worden. Sie beweist, wie wenig gleichgültig ihr rechtsradikale Umtriebe
sind, die Medien befassen sich kritisch damit, und Politiker aller Parteien
sind sich einig im Vorgehen gegen antidemokratische Strömungen. Schwer zu
erklären und mit dem Blick auf die Zukunft beunruhigend ist trotz allem, daß
heute noch – oder wieder – 24 Prozent aller Deutschen die Ideen der Nazis
als »gar nicht so schlecht« empfinden. Der Weg zur endgültigen Beseitigung
des Spuks der Vergangenheit, des Rassismus und der Gewalt als politisches
Mittel ist also noch lange nicht gesichert. Wir werden wachsam sein müssen –
»wir«, weil die Verantwortung für die Zukunft gleichermaßen bei den
Deutschen wie den Israelis liegt.
Wer das öffentliche Leben in Deutschland mit
einiger Aufmerksamkeit beobachtet, der weiß, daß der Rechtsextremismus eine
gewisse Salonfähigkeit erlangt hat. Die Entwicklung setzte mit dem
relativierenden Revisionismus konservativer Hochschullehrer im
Historikerstreit der achtziger Jahre ein. Man würde es sich aber zu leicht
machen, ihren Wortführern und Schülern einfach die Billigung strafwürdiger
Verbrechen wie Gewalttaten gegen Ausländer oder die Schändung von Friedhöfen
und Gedenkstätten zu unterstellen. Den Verdacht, mit den von ihnen
verbreiteten Ideen das Umfeld geschaffen zu haben, das derartige
Ausschreitungen erst möglich macht, würden sie selbstverständlich energisch
zurückweisen. An ihrer Selbsteinschätzung als Wissenschaftler und
Publizisten, ja schon an der vorgeblichen Logik ihrer Argumente prallt der
Vorwurf ab, wenn nicht Anstifter, so doch mitverantwortlich zu sein für
willkürliche Überfälle und gezielte Anschläge der Art, wie sie fast
regelmäßig auf den Nachrichtenseiten der Tagespresse erscheinen. Kein
Revisionist wird einräumen, der Verbreitung von rechtsradikalem Gedankengut
Vorschub zu leisten.
Es wäre in der Tat auch jedem noch so um
Aufklärung bemühten Richter unmöglich, etwa zwischen der Zerstörung
jüdischer Grabmäler und den Theoretikern des neuen Revisionismus eine
kausale Verbindungslinie herzustellen. Andererseits gibt es eine Vielzahl
von Druckschriften, die mit Parolen und in schlagwortartig primitiver Form
die Gedanken der Intellektuellen unter den Revisionisten verarbeiten und
damit gerade bei jugendlichen Lesern Verwirrung stiften und potentielles
Unheil anrichten können. Das Gebot der Wachsamkeit versagt oft gerade an den
Quellen, aus denen die rechtsradikale Szene in Deutschland ihre Ideen
bezieht, mehr mittelbar, wie gesagt, als direkt. Häufig sind es respektable
Leute, Universitätsprofessoren und Schriftsteller wie Viktor Suworow,
Joachim Hoffmann oder Walter Post, die da meinen, von der Nazi-Zeit ein
anderes Bild zeichnen zu müssen als das, welches sie tatsächlich besaß.
Ich beobachte Holocaust-Leugner seit Jahren,
und zwar nicht nur in Deutschland. Am Anfang hat mich das Rätsel ihres
Leugnens fasziniert: Wie kommt es, fragte ich mich, daß jemand so beharrlich
eine Tatsache in Abrede stellt, die hunderttausendmal von unzähligen
Zeitzeugen – Opfern wie Tätern – festgestellt und in allen Details
beschrieben wurde, ein Faktum, das mehr als hinreichend dokumentiert und von
allen Historikern der Welt, den Revisionisten eingeschlossen, einhellig
anerkannt ist? Den einzigen Hinweis, der das Phänomen erklären könnte, finde
ich im fanatischen Antisemitismus, im grenzenlosen Judenhaß, den die Leugner
verbreiten und schüren. Leugnen sie womöglich deshalb, weil sie im Grunde
meinen, der Holocaust habe sich in der Geschichte letztendlich so nicht
ereignet, nicht so, wie er nach ihrer Auffassung hätte verlaufen müssen, daß
er Stückwerk blieb und leider unvollendet?
Die Frage nach der Kollektivschuld, mit der
ich öfters konfrontiert werde, hat in der deutschen Öffentlichkeit lange die
Diskussion um die Ursachen, das Ausmaß und die Folgen der Verbrechen
Hitler-Deutschlands beherrscht. Das Wort Kollektivschuld bezog sich vor
allem auf das dem jüdischen Volk zugefügte Leid. Ohne Ausnahmen zuzulassen,
stellte es für alle Nicht-Opfer in Deutschland eine gemeinsame Verantwortung
und Haftung her, ursprünglich sogar – so wollten es 1945 die Siegermächte –
für sämtliche politischen Handlungen der Nazi-Regierung und ihrer
Organisationen. Im Lauf der Zeit ist diese Auffassung mehr und mehr
revidiert und durch eine den historischen Tatsachen gemäßere ersetzt worden.
Schuldig kann nur sein, wer sich persönlich vergangen hat, nicht die an
einem Verbrechen Unbeteiligten und erst recht nicht die Nachkommen. Doch wo
sich die Frage nach der Verantwortung nicht oder nicht mehr stellt, bleibt
das Problem der Verantwortlichkeit – zwei unterschiedliche Begriffe, die man
nicht verwechseln sollte.
Dem Thema der Gesamtschuld und
Gesamtverantwortung der Deutschen widmete sich Michael Wolffsohn in seiner
Rede anläßlich des Volkstrauertags im Herbst 1995 im Berliner Dom. Als ich
vom Volksbund deutscher Kriegsgräberfürsorge eine Einladung zu dieser
Veranstaltung erhielt, fühlte ich mich zunächst in keiner Weise
angesprochen. Was hatte ich auf dieser Feierstunde verloren, was sollte ich
in einem wilhelminischen Gotteshaus, in dem man der Opfer der Deutschen
beziehungsweise der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg gedachte? Erst als ich
die Einladung genauer las, stellte ich fest, daß es sich beim Hauptredner um
Professor Wolffsohn von der Bundeswehrakademie in München handelte, einen
Juden, von dem ich wußte, daß seine Familie nur mit Mühe und Not den Nazis
entkommen war. So fuhr ich doch. Nachdem Bundespräsident Herzog gesprochen
hatte, stellte Wolffsohn die im Augenblick wohl jeden der Zuhörer bewegende
Frage, ob er, ein deutscher Jude, »mit Ihnen allen über dieselben Opfer
trauern kann«. Er ließ da keinen Zweifel – Mitgefühl und Trauer schließen
auch den einzelnen deutschen Soldaten ein, Menschen, die, wie er sagte,
»kaum einer kennt«.
Statt an der Verdammung zur kollektiven
Schuld und Verantwortung festzuhalten, die durch den Antritt neuer
Generationen nach dem Krieg ohnehin bald brüchig geworden ist, befürwortet
Michael Wolffsohn eine »Haftungsgesellschaft«. Er sieht in deren Existenz
auch eine Garantie dafür, daß sich Geschehenes unter ähnlichem Vorzeichen
nicht wiederholt. Verantwortlichkeit also statt Verantwortung. Kritische
Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte statt, wie früher,
Verdrängung, verharmlosende Beschönigung, Versuche, Schuld im nachhinein
gegen andere aufzurechnen, sie damit möglichst zu verringern und aus Tätern
Opfer zu machen, sie zumindest aber auf die gleiche Stufe zu stellen. »Wer
sein geistiges und geistliches Erbe vernachlässigt und lässig verspielt«,
sagte Wolffsohn, »schafft sich selbst die eigene Leere und hat keine
Wurzeln. Wie ein wurzelloser Baum fällt auch jeder wurzellose Mensch und
eine wurzellose Gesellschaft. Es bedarf keines Sturmes. Ein Windstoß
genügt.«
Auch um dieser Gefahr zu begegnen, beschloß
der Bundestag Anfang 1996 die Einführung eines offiziellen Gedenktags für
die Opfer des Nationalsozialismus. Bewußt wählte man dafür den Tag, an dem
die Überlebenden des Konzentrationslagers Auschwitz befreit wurden, den 27.
Januar 1945. Viele mögen fragen, ob es fünfzig Jahre nach dem Zusammenbruch
des Dritten Reiches eines solchen Gedenktags bedarf, sagte die
Bundestagspräsidentin in ihrer Ankündigung: »Hat es in den zurückliegenden
Jahrzehnten an Aufklärung, Erinnerung und Gedenken gefehlt?« Rita Süßmuth
ging dann auf die Überlegungen ein, die dem Beschluß zugrunde liegen. Ein
nationaler Gedenktag sei deshalb unabdingbar, »weil es in der Geschichte der
Völker Ereignisse von fundamentaler Auswirkung für deren Existenz in
Gegenwart und Zukunft gibt, die gegen das Vergessen in herausgehobener Form
gesichert werden müssen.« Mit einer parlamentarischen Feierstunde aber sei
es nicht getan. »Dieser Tag muß Anlaß sein, das Gedenken im ganzen Lande auf
unterschiedliche Weise wachzuhalten und zu gestalten.«
Ähnliche Erwartungen äußerte Bundespräsident
Herzog, der die Hauptrede hielt. Er wünsche sich, daß der 27. Januar künftig
»zu einem wirklichen Tag des Gedenkens, ja des Nachdenkens wird.« Herzog
wies eindringlich darauf hin, daß das Datum nicht zufällig gewählt wurde:
»Auschwitz steht symbolisch für millionenfachen Mord, vor allem an Juden,
aber auch anderen Volksgruppen. Es steht für Brutalität und
Unmenschlichkeit, für Verfolgung und Unterdrückung, für die perfektionierte,
organisierte ›Vernichtung‹ von Menschen. Die Bilder von Leichenbergen, von
ermordeten Kindern, Frauen und Männern, von ausgemergelten Körpern, sind so
eindringlich, daß sie sich nicht nur den Überlebenden und den Befreiern
unauslöschlich eingemeißelt haben, sondern auch denjenigen, die heute deren
Schilderungen nachlesen oder Bilddokumente betrachten.«
Wie alle Gäste dieser Veranstaltung des
Bundestags saß ich auf der Zuhörertribüne, neben mir – zufällig in
Deutschland zu Gast – Henry Kissinger, der ehemalige amerikanische
Außenminister. Während wir auf die Eröffnung der Sitzung warteten,
unterhielten wir uns angeregt über den Friedensprozeß im Nahen Osten. Wir
haben das ohnehin unerschöpfliche Thema nicht beenden können, doch bevor die
Bundestagspräsidentin ihre Ansprache begann, bedeutete Kissinger mir, das
Gespräch hinterher fortsetzen zu wollen. Doch dazu kam es nicht. Kissinger
war – und machte auch keinen Hehl daraus – zu angerührt von allem, zu
betroffen, als daß er nach dieser Stunde noch über andere Dinge hätte reden
können: »Ich weiß nicht, ob nach dem Krieg mich jemals etwas so bewegt hat.«
Bewegt war auch ich. Die Worte, die dieser
Stunde ihren Inhalt gaben, und die Gewißheit, daß von nun an in diesem Land
ein Tag im Jahr ausschließlich dem Gedenken der Nazi-Opfer gewidmet sein
würde, riefen Erinnerungen und Hoffnungen wach, ließen aber auch Fragen
aufkommen. Es waren eigentlich die gleichen, die mich 1995 bei der Teilnahme
an ähnlichen Veranstaltungen beschäftigten:Wie reagieren die von Goldhagen
beschriebenen »ganz gewöhnlichen Deutschen« darauf? Wie sprechen sie darüber
im engsten Familienkreis?Wie reden sie in Kneipen, an Stammtischen, wenn es
um Ereignisse geht, die nach dem Willen des Bundestags Gegenstand eines
nationalen Gedenktags sein sollen – werden sie in der Bevölkerung überhaupt
diskutiert?
Es ist leider schwierig für mich, solchen
Fragen direkt nachzugehen. Von allen Sicherheitsauflagen abgesehen, kann ich
mich nicht unerkannt als stummer Zuhörer in private Gesprächsrunden mogeln.
Um die Volksmeinung zum Sinn von Gedenktagen zu erfahren, die der Erinnerung
an ohnehin Unvergeßliches dienen, kann ich mich nicht unsichtbar machen.
Zwar treffe ich immer wieder mit Deutschen unterschiedlichster Herkunft
zusammen, Menschen aus allen Landesteilen, Alters- und Berufsgruppen – meine
Kontakte beschränken sich keineswegs nur auf »offizielle« Kreise –, mir ist
jedoch klar, daß die Partner dieser Begegnungen sich mir gegenüber, einem
Vertreter des Judenstaates Israel, über die deutsche Vergangenheit nicht
immer so äußern, wie ihr privates Umfeld es vielleicht von ihnen gewohnt
ist. Um so mehr bin ich, auch wenn sie den unmittelbaren menschlichen
Kontakt nicht ersetzen können, auf die Resultate von Umfragen als halbwegs
verläßliche Antwortgeber angewiesen.
Und die offiziellen, die
staatstragend-feierlichen Erklärungen selbst? Natürlich geben sie nicht
immer die öffentliche Meinung wieder; die Vox popoli bedient sich, weil ihr
andere Denkmuster zugrunde liegen, ohnehin einer davon abweichenden Sprache.
Gelegentlich auch reicht die Wirkung solcher Erklärungen nicht über die
einer rein rhetorischen Leistung hinaus, der es an Aussagekraft mangelt,
nicht aber an Kunstgriffen, andere Gedankengänge als die geäußerten zu
verbergen.
Trotzdem sind öffentliche Verlautbarungen zum
Umgang mit der NS-Zeit für mich von erheblich grundlegender Bedeutung, in
zweierlei Hinsicht. Zum einen gehe ich davon aus, daß Politiker sich nur
selten Äußerungen leisten können, für die die Mehrheit der Bevölkerung nicht
– oder noch nicht – aufnahmefähig ist. Erst 1985 haben auch breitere
Schichten Richard von Weizsäckers und Helmut Kohls Erklärungen zum Jahr des
Kriegsendes als der eigenen Überzeugung entsprechend akzeptieren können.
Nach meinem Eindruck spiegeln die Aussagen deutscher Politiker in den
letzten Jahren überhaupt mehr den jeweiligen Stand des öffentlichen
Bewußtseins, als daß sie Botschaften von allzu hoher, abgehobener Warte
sind. Zum anderen bin ich überzeugt davon, daß nicht nur von Mahn- und
Gedenkreden, sondern von jedem Wort, wenn es von berufener Seite kommt, eine
verwandelnde, vielfach zukunftsweisende Kraft ausgehen kann. Sie ist es, die
langfristig zum Umdenken erzieht.
Die Schlußfrage im erwähnten »Fragebogen« des
FAZ-Magazins, die sich für mein Motto interessierte, habe ich 1995 lapidar
mit dem Satz beantwortet, mein Motto sei, an keinem bestimmten zu hängen.
Heute, nach meinen bisherigen Erfahrungen in Deutschland, würde ich ein
französisches Wort wählen: »Rien n’est jamais acquis« – nichts ist sicher,
was man für endgültig erworben hält.
Deutschland zur Kenntnis nehmen heißt für
einen Israeli natürlich auch, sich mit den hier neu entstandenen jüdischen
Gemeinden zu befassen. Das ist nicht immer leicht und auch nicht immer
selbstverständlich. Auch in anderen Ländern machen es sich manche Israelis
schwer, Beziehungen zu Juden aufzubauen, die dort als Bürger leben. Das
Leben in den Gemeinden, die sich nach dem Untergang des Hitler-Reiches aus
oft mehr als bescheidenen Anfängen in Deutschland entwickelt haben, wirft
heute einige grundsätzliche Fragen auf, die sich aus dem Verhältnis zwischen
dem Staat Israel und den Juden in aller Welt ergeben.
Im Anschluß an die Erklärung seiner
Unabhängigkeit gab sich der Staat Israel ein Grundgesetz, das Gesetz der
Rückkehr der Juden nach Israel. Damit verpflichtet sich der Staat auf ewige
Zeiten, jedem Juden bedingungslos Asyl zu gewähren und ihm die israelische
Staatsbürgerschaft zu verleihen, sobald er die Rechte, die sich aus dem
Gesetz ergeben, in Anspruch nimmt.
Historisch geht das Gesetz auf den Zionismus
zurück. Die wichtigste Säule des Staats, der Zionismus, garantiert die
Rückkehr der Juden in ihre historische Heimat mit der Möglichkeit für jeden,
sich dort ein neues Leben in Würde aufzubauen, nämlich eine Existenz in
politischer Unabhängigkeit. Das aber kommt einer Ablehnung der jüdischen
Existenz im Ausland gleich, die so gesehen eigentlich nie würdig sein konnte
– eine Schlußfolgerung aus dem Scheitern der Emanzipation der Juden im 19.
Jahrhundert in Europa, nachdrücklich verstärkt noch durch den Holocaust.
Darüber hinaus wuchs in Israel nach dem
Zweiten Weltkrieg in bezug auf die sich in Deutschland neu bildenden
jüdischen Gemeinden eine grundsätzliche Verstimmung darüber, daß Juden nach
ihrer schrittweisen Entwürdigung bis hin zum Holocaust bereit waren, wieder
im Land ihrer Henker zu leben. Man empfand dies als Schmach für das gesamte
jüdische Volk. Dabei waren es – und sind es vereinzelt auch heute noch –
keineswegs nur Israelis, sondern auch Juden anderswo in der Welt, die dieses
Gefühl der Demütigung belastet.
Mittlerweile jedoch haben sich die Zeiten
gewandelt. Israelis sehen heute das jüdische Dasein in der Diaspora mit mehr
Gelassenheit als in den ersten Jahren der Existenz ihres Staats. Nach wie
vor ist die Idee von Israel als ewige Asylstätte für alle Juden lebendig,
man weiß aber ebenso, daß es für das Judentum mehr als nur eine Daseinsform
gibt. Zweitausend Jahre des Exils haben eine Realität geschaffen, die sich
nicht einfach auflösen läßt. Wichtig für unsere Zukunft ist allein, unsere
Kultur, unsere Tradition zu bewahren. Wir haben die Vielfalt des jüdischen
Lebens hingenommen, haben sie akzeptiert und kommen damit meist gut zurecht.
Was die jüdischen Gemeinschaften in
Deutschland angeht, so liegen die Dinge freilich etwas komplizierter. Mit
einem Problem wurde ich schon konfrontiert, als ich mich auf meinen Posten
in Deutschland vorbereitete. Es ging um die Juden, die nach dem
Zusammenbruch der Sowjetunion endlich die Erlaubnis zur Auswanderung
erhielten. Israel nahm von ihnen bereits etwa 700000 auf, nicht alle
Emigranten aber gaben Israel den Vorzug, manche wollten sich anderswo im
Westen niederlassen, so auch in Deutschland. In den letzten sieben Jahren
konnten sich hier die jüdischen Gemeinden in etwa verdoppeln. Heute zählen
sie rund 70000 Mitglieder – immer noch weniger als ein Promille der
Gesamtbevölkerung.
Die israelische Regierung sah diese
Entwicklung von Anfang an mit großer Besorgnis. Man konnte nicht verstehen,
daß Juden, denen sich Israel als Heimat anbot, die mithin kein anderes
Asylland nötig hatten, dennoch anderswo leben wollten, sogar in Deutschland.
Das Verlangen, keine jüdischen Emigranten aus der Sowjetunion und anderen
Ländern aufzunehmen, brachte die deutsche Regierung in einen doppelten
Konflikt. Einmal gab es die nur langsam erstarkenden jüdischen Gemeinden,
die auf Zuwachs von außen hofften. Zum anderen ließen sich moralische
Verpflichtungen gegenüber Israel schwer in Einklang bringen mit dessen
Forderung, jüdische Zuwanderer abzuweisen. War es nicht ganz und gar
unmöglich, daß der Judenstaat von deutschen Behörden verlangte, sie dürften
jeden Asylsuchenden aufnehmen, nur keinen Juden? Durfte sich überhaupt ein
anderer Staat, Israel eingeschlossen, in innenpolitische Angelegenheiten
Deutschlands einmischen?
Die israelische Regierung unter
Ministerpräsident Shamir ließ indessen keine vernünftigen Argumente gelten.
Hartnäckig bestand sie darauf, Deutschland solle keine Juden aufnehmen und
solche, die sich um die Einwanderung bemühten, an Israel verweisen. Dem
neuen Ministerpräsidenten Rabin wie auch dem neuen Außenminister, meinem
Vorgesetzten Shimon Peres, war die Frage peinlich, die ich vor dem Antritt
meines Amts in Bonn an sie richtete: Sollten wir immer noch auf die
deutschen Behörden Druck ausüben und darauf bestehen, Juden aus der
ehemaligen Sowjetunion die Aufnahme zu verweigern? Ich erhielt keine
eindeutige Antwort, die Wahl der richtigen Politik in dieser Angelegenheit
wurde mir überlassen.
Juden sollten, wie alle Menschen der Welt,
das Recht haben, dort zu leben, wo sie wollen. Auch der Staat Israel hat
nicht das Recht, ihnen in dieser Hinsicht Vorschriften zu machen. Das Gesetz
der Rückkehr verpflichtet zwar Israel zur Aufnahme jedes Juden, der sie
begehrt, zwingt aber niemanden gegen seinen Willen, diesem Gesetz zu folgen
– die Verpflichtung liegt allein auf der Seite Israels. In diesem Sinne habe
ich denn auch meine Aufgaben wahrzunehmen versucht, sowohl den deutschen
Behörden wie den jüdischen Gemeinden gegenüber.
Insofern stellten die öffentlichen Äußerungen
Präsident Ezer Weizmans während seines Staatsbesuchs im Januar 1996 einen
gewissen Rückschlag dar. Er vertrat unumwunden die Auffassung, Juden hätten
in Deutschland nichts verloren, es gebe überhaupt für Juden, nicht nur
solchen aus der ehemaligen Sowjetunion, keinen Grund, in Deutschland zu
leben. Weizmans Worte ließen außer acht, daß es mittlerweile sehr viele
Deutsche gibt, die stolz sind auf das neu erstehende jüdische Leben in ihrem
Land – sie sehen darin einen späten Sieg über Hitler, der ein »judenreines«
Deutschland wollte. Noch während Weizmans Aufenthalt in Deutschland gestand
ich in einer Fernsehsendung dem Präsidenten das Recht zu, seine ganz
persönliche Meinung zu äußern. Damit war zugleich meine eigene, reservierte
Haltung zu Weizmans Ansicht klargestellt.
Eine Woche später war ich Gast bei einem
Essen, das der ägyptische Botschafter in Bonn gab. Seine Tischrede galt dem
Ehrengast des Abends, er unterließ es jedoch nicht, auch an meine Adresse
ein paar Worte zu richten. »Man hat mir mehrfach erzählt, Israel sei eine
echte Demokratie«, sagte er. »Doch wie demokratisch Israel ist, wußte ich
bis zur vorigen Woche nicht, als ich im Fernsehen meinen hier anwesenden
israelischen Kollegen sah, der sein Staatsoberhaupt öffentlich fast gerügt
hat. Ich bin davon ausgegangen, er würde meiner Einladung zum heutigen Abend
nicht folgen können, weil er den Weg zurück in seine Heimat antreten mußte
... Aber er ist, wie ich sehe, immer noch da ...« |