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Jüdische Weisheit
 
 

Avi Primor
»...mit Ausnahme Deutschlands«
Als Botschafter Israels in Bonn

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VI.Teil

Bonner Begegnungen

Die ersten Bonner Beamten, denen ich begegnete, waren nicht etwa solche aus dem Auswärtigen Amt. Sie waren überhaupt keine Bundesbeamten, unterstanden vielmehr der Regierung von Nordrhein-Westfalen, dem Bundesland, in dem Bonn liegt. Es handelte sich um meine künftigen Leibwächter sowie den Polizeichef und einige seiner Mitarbeiter. Letztere nahmen mir Fingerabdrücke ab und machten Lichtbilder – vorsorglich, wie sie erklärten, für den Fall einer Entführung. »Sie kriegen alles als Souvenir zurück«, sagten sie, »wenn Sie Deutschland wieder verlassen. Hoffentlich benötigen wir’s nicht.«

Die mir als »Israel-Kommando« vorgestellte Leibwache sollte fortan ständig um mich sein. Für mich war das nichts Ungewohntes, schon früher war ich von Sicherheitsbeamten umgeben und hatte jahrelang mit den Einschränkungen gelebt, die ein solcher Schutz mit sich bringt. Über mögliche emotionale Reaktionen darauf, daß es deutsche Polizisten waren, die von nun an für meine Sicherheit sorgen sollten, konnte ich gar nicht erst lange nachdenken. Ich lernte sie einfach als ungemein sympathische, liebenswürdige und auch gebildete junge Männer kennen, zu denen man Vertrauen, womöglich sogar ein freundschaftliches Verhältnis entwickeln konnte.

Tatsache ist, daß sie sich als meine treuesten Deutschlehrer erwiesen. Denn mein Ehrgeiz, die bisher erworbenen Sprachkenntnisse zu vervollkommnen, möglichst unter erfahrener Anleitung, stieß bald auf zeitliche Schwierigkeiten. Gerade in Bonn etabliert, hatte ich zwar Verbindungen zu einer bekannten, hervorragenden Lehrerin aufgenommen, Rosemarie Toscha, die seit Jahrzehnten Deutschunterricht an der amerikanischen Botschaft gibt. Doch da stellte sich auch schon die Zeitfrage: Wie oft konnte ich, neben allen dienstlichen Verpflichtungen, Unterricht nehmen? Zweimal pro Woche? Nur selten. Einmal? Auch das nicht immer und regelmäßig.

Die Unmöglichkeit, einen verbindlichen Zeitplan aufzustellen, hat mit meiner häufigen Abwesenheit von Bonn zu tun. Sie wiederum hängt unvermeidlich mit der für mich überraschend stark dezentralisierten Struktur der Bundesrepublik zusammen. Natürlich wußte ich, daß Deutschland eine Föderation ist, eine echte Föderation mit Sonderbefugnissen der einzelnen Länder und gesetzlich verankerten Traditionen, die jeweils nur hier anzutreffen sind. Was mir zunächst aber unbekannt war, jedenfalls in dieser Dimension, ist die weitläufige Verteilung von Bundesbehörden und solchen Einrichtungen, die dem Bund unterstehen, über die gesamte Republik, von Medienzentralen oder wichtigen Wirtschaftsgremien ganz abgesehen. Institutionen wie die Notenbank, das Bundesverfassungsgericht oder der Bundesgerichtshof befinden sich nicht am Regierungssitz, wie es etwa in Frankreich der Fall wäre. Zahlreiche Veranstaltungen, die ich besuchen muß, finden deshalb außerhalb von Bonn statt.

Ob ich will oder nicht, die vielen Reisen ziehen meinem Deutschstudium bei Frau Toscha enge Grenzen. Dafür lerne ich mehr und mehr das Land kennen. Außerdem genieße ich es, mich mit meinen Sicherheitsbegleitern zu unterhalten. Die Aufmerksamkeit, mit der sie meine Reden, die ich immer frei halte, bei allen nur möglichen Gelegenheiten verfolgen, gilt den Fehlern, die mir unterlaufen. Sie haben sichtlich Spaß daran, sie zu notieren und mir hinterher zu erklären, während ich mir wie ein Schüler Notizen mache. Ihre Kritik ist freimütig. Anders als Zuhörer, die mir zu schmeicheln meinen, wenn sie mein »flüssiges« oder »fehlerloses« Deutsch loben, halten sie sich mit pauschalen Komplimenten zurück und äußern sie nur, wenn sie glauben, Grund dazu zu haben. »Heute gab es mehr Fehler, recht schlimme sogar, die Sie nicht wiederholen sollten«, sagen sie, wenn sie mich ertappt haben. Oder: »Diesmal waren Sie gut, kaum Fehler!«

Wenn ich irgendwo öffentlich reden muß, bitte ich meine Schutzengel um Beistand – ganz sicher ist man nie, trotz aller Wachsamkeit. Aber auch harmlos-komische Vorfälle lassen sich nicht ausschließen. Als ich einmal in einem der neuen Bundesländer auf einer größeren Veranstaltung in einem entsprechend weiträumigen, dicht gefüllten Saal sprach, waren meine Sicherheitsleute wie gewöhnlich dabei. Einer hatte sich an die Wand gelehnt und machte sich während der Rede Notizen – ein Zeichen, daß mich auf der Rückfahrt die üblichen Korrekturen erwarten würden. Am Ende, als sich der Saal leerte, kam eine ältere Dame zu mir. Sie wirkte besorgt und fragte, ob ich keine Angst vor Verfolgungen der Polizei hätte. Ich verneinte, warum sollte ich? »Vielleicht macht es Ihnen nichts aus, weil Sie Botschafter sind«, meinte sie daraufhin, »aber wer weiß, was uns passieren wird ...« Als ich sie bat, sich näher zu erklären, erfuhr ich den Grund ihrer Befürchtungen: »Was Sie nicht wissen, wissen wir: Die Geheimpolizei hat vorhin, als Sie sprachen, alle Anwesenden aufgeschrieben ...«

Nicht allein das Verhältnis zu meiner Leibwache ist gut. Gleich, ob höhere Beamte, ob Abgeordnete im Bundestag, ob Parteichefs, Minister oder Mitglieder von Landesregierungen – im Umgang mit allen, bis hin zum Bundeskanzler und zum Bundespräsidenten, bin ich von Anfang an fast ausnahmslos auf entgegenkommendes Wohlwollen gestoßen. Immer wieder heben meine Gesprächspartner die guten Beziehungen der Bundesrepublik zu Israel hervor, die denkbar beste Voraussetzung für meine Arbeit und meinen Aufenthalt überhaupt. Außenminister Kinkel etwa hat sich gleich mehrfach in diesem Sinn geäußert – »Sie müssen doch in Deutschland glücklich sein!« –, und Bundeskanzler Kohl, den ich im Juni 1995 auf seinem zweiten Staatsbesuch in Israel begleitete, meinte gar, mein Posten in Deutschland sei so ideal, daß sich Geld dafür eigentlich verbiete. »Bekommt er denn ein anständiges Gehalt von Ihnen?« fragte Kohl – er wies auf mich – bei einem privaten Essen im Haus von Shimon Peres, dem Gastgeber. »Ja«, sagte Peres, »das beste, das wir bieten können.« Kohl darauf: »Das ist ein Fehler. Sie sollten ihm überhaupt nichts zahlen, er sollte Ihnen etwas geben, für solch ein Amt sollte man nicht auch noch Geld bekommen, umgekehrt müßte es sein!« Ich will nicht behaupten, daß der Kanzler damit völlig unrecht hatte. Aber ich bin dankbar, daß Shimon Peres seinen Ratschlag nicht angenommen hat ...

Am 26. November 1993, nach ersten Kontakten mit Beamten des Auswärtigen Amts, empfing mich Bundespräsident von Weizsäcker zur Überreichung meines Beglaubigungsschreibens. Gewöhnlich nimmt der Präsident an einem bestimmten Vormittag die Schreiben von mehreren Botschaftern entgegen, in einer vorher festgelegten Abfolge, in der die Botschafter einander nicht sehen: Erst wenn der eine die Villa Hammerschmidt verlassen hat, folgt der nächste, während die an der Zeremonie beteiligten Deutschen im Hintergrund bleiben. Als die Reihe an mir und der offizielle Teil vorüber war, nahm der Präsident mich am Arm und ging mit mir ins Freie, wo außer vielen Fotografen und Journalisten auch Kameraleute vom Fernsehen warteten. Ich sei der einzige an diesem Morgen, der Fotografen und Presseleute angelockt habe, sagte Richard von Weizsäcker. Für die Amtskollegen habe es nur den offiziellen Fotografen gegeben, keine Medien. »Das kommt daher«, erklärte er, »daß Israel noch immer ein interessantes und empfindliches Thema für uns ist. Mehr eigentlich als sämtliche Großmächte. Wir freuen uns, daß Sie unter uns sind.«

Diesen Satz habe ich von ihm noch öfter vernommen, auch später, als er ins Privatleben zurückgekehrt war. Richard von Weizsäcker dachte dabei weniger an mich. Was er ausdrücken wollte – ich empfand es immer als eine von Herzen kommende Ehrung –, war einfach die Freude, daß es in Deutschland heute einen Botschafter Israels gibt.

Es war das sechste Mal in meiner Laufbahn, daß ich eine derartige Zeremonie erlebte. Was sonst ein feierlich erhebendes, freudig erwartetes Ereignis gewesen war, verursachte diesmal, noch bevor es begonnen hatte, einige Beklemmung: die Ehrenformation deutscher Soldaten, dann die alte, von einem Musikzug gespielte Melodie von »Einigkeit und Recht und Freiheit«, die in meinen Ohren wie »Deutschland, Deutschland über alles« klingt – wie würde mir da zumute sein? Tatsächlich habe ich mit der deutschen Nationalhymne immer noch Probleme. Auch der Wohlklang von Joseph Haydns Melodie hilft mir nicht über den Eindruck hinweg, daß dem »Deutschlandlied«, in der NS-Zeit immer und immer wieder gesungen und gespielt, noch etwas vom Machtwahn des Hitler-Reiches anhängt.

So gut wie keine Hemmungen empfand ich dagegen im Umgang mit Repräsentanten der Bundeswehr oder Angehörigen des Verteidigungsministeriums. Wenn es sie am Anfang überhaupt gab, dann löste sich die Befangenheit bald durch sachliche Zusammenarbeit und ausgezeichnete persönliche Beziehungen. 1994, ein Jahr nach meiner Akkreditierung, empfing ich Klaus Naumann, den Generalinspekteur der Bundeswehr, zum Abendessen. Anlaß war der Besuch des Oberbefehlshabers der israelischen Streitkräfte, General Ehud Barak. Da zufällig meine Schwiegermutter bei uns Urlaub machte, saß auch sie mit am Tisch. Als die Gäste gegangen waren, fragte ich sie, die Auschwitz-Überlebende, ob sie in Gegenwart des höchsten deutschen Offiziers viel an die Vergangenheit hatte denken müssen. »Natürlich«, antwortete die rüstige alte Dame, »viel habe ich gedacht. Auch, daß solch ein Abend nicht mal im verrücktesten meiner Lagerträume hätte vorkommen können. Aber ich weiß nicht, welche Vorstellung wäre wohl wahnsinniger gewesen: ich bei Tisch, während meine Tochter Gastgeberin des deutschen Oberbefehlshabers ist, oder die andere: daß wir einen General haben, den Anführer einer sieg- und ruhmreichen Armee, der sich mit seinem deutschen Kollegen an einen gedeckten Tisch setzt, wie gute Freunde.« Und wie immer, wenn etwas sie stark bewegte, seufzte sie: »Ach, wenn meine Mutter das hätte erleben können ...«

Es waren übrigens Matrosen der Bundesmarine, die anläßlich meiner Akkreditierung als Ehrenformation vor der Villa Hammerschmidt angetreten waren. Die beiden Nationalhymnen, zuerst die israelische, dann die deutsche, hörte ich, aufrecht stehend, mit einem dem Ernst dieses Augenblicks teils angemessenen, teils widersprechenden Gefühl. Erinnerungen an ähnliche Momente, an die Geschichte dieses Landes und an die meines eigenen, Gedanken an die vor mir liegenden Aufgaben, die Frage, ob ich sie zum Wohl der Beziehungen Israels zu Deutschland bewältigen würde – alles das mischte sich mit dem Wissen um die Sympathie, die mir bisher entgegengebracht worden war. Fotos, die mich an der Seite Richard von Weizsäckers in der Villa Hammerschmidt zeigen, verraten etwas vom eigenartig lähmenden Gefühl, das mich in diesen Minuten beschlich. Es verschwand erst, als der Präsident mich zu einem Gespräch zur Seite nahm.

Daß ein Botschafter, nachdem er sein Beglaubigungsschreiben überreicht hat, zuerst dem Außenminister des Gastlandes einen Antrittsbesuch abstattet, ist eine der festen internationalen Regeln der Diplomatie. Ich sah da keine Probleme, geriet aber doch unfreiwillig in Schwierigkeiten, als ich mich bei Klaus Kinkel im Auswärtigen Amt angesagt hatte. Ich war, wie es sich gehört, pünktlich. Ein Beamter, der mich empfing, deutete an, es gebe leider eine Verzögerung, der Minister habe mit einem unerwarteten Gast zu tun. Ich versuchte, meine Situation zu erklären – eigentlich hätte ich viel Zeit, wenngleich nicht unbegrenzt, denn in einer, spätestens in eineinhalb Stunden müsse ich zum Frankfurter Flughafen, wo Shimon Peres, unser Außenminister, zu einem Zwischenstop landen werde. Peres wollte mich dort treffen, der Termin ließ sich nicht verschieben.

Ich wartete also. Die Zeit verstrich, und als ich schon entschlossen war, mich um einen neuen Termin zu bemühen, stand ich doch noch, mit vielen Entschuldigungen empfangen, dem Außenminister gegenüber. Er wußte, daß ich in Frankfurt erwartet wurde, bestand aber darauf, mich zu sehen. Der Empfang könne allerdings nur kurz sein, sagte er, er wolle mich nicht lange aufhalten, mir nur sagen, wie sehr er sich freue, einen neuen israelischen Botschafter in Deutschland begrüßen zu können, wie gut die Beziehungen zwischen beiden Ländern seien, welche Sondernatur dieses Verhältnis habe und auch künftig haben werde. Alsdann wünschte er mir viel Glück und Erfolg für meine Mission in Deutschland. »Und jetzt bitte kein Wort, gehen Sie schnell zu Ihren Leuten und fahren Sie nach Frankfurt. Aber bitte vergessen Sie nicht, Shimon Peres sehr herzlich von mir zu grüßen. Auf Wiedersehen, Herr Botschafter!«

Ich hatte kaum ein Wort gesagt. Draußen auf dem Korridor wandte ich mich an Theodor Wallau, zu jener Zeit noch Bonner Ministerialdirektor, heute Botschafter in Israel, der mich begleitete: »Finden Sie nicht auch, daß meine Vorstellung beim Außenminister und das Gespräch ausführlich waren und höchst interessant?« »Doch«, sagte Wallau, »ich werde gleich einen detaillierten Bericht schreiben ...«

So begann mein Verhältnis zu Außenminister Kinkel fast unverhofft heiter. Danach war es, ebenso unerwartet, Turbulenzen mit wechselnder Heftigkeit ausgesetzt, bis es in eine immer engere, vertrauensvollere Zusammenarbeit überging. Sie schloß Mißverständnisse ebensowenig aus wie Verstimmungen, die sich daraus ergaben. Kritisch wurde es, ohne mein Zutun, nur einmal. Daß daraus kein ernsthaftes Zerwürfnis entstand, war vor allem Kinkels aufrichtigem, ohne Umschweife direktem Stil zu danken.

1994, ich war zur Behandlung in einem Krankenhaus in Israel, lud Shimon Peres Bundesminister Kinkel zur Teilnahme an der Zeremonie anläßlich der Unterzeichnung des Friedensabkommens mit Jordanien ein. Turnusgemäß war der deutsche Außenminister damals auch Vorsitzender des Ministerrats der Europäischen Union, denn Deutschland hatte die Präsidentschaft inne. Nach den Bundestagswahlen von Koalitionsgesprächen voll in Anspruch genommen, lehnte Kinkel zunächst ab, aber es war dann noch einmal Peres, der ihn in einem Telefongespräch doch noch zur Reise in den Süden Israels überreden konnte. Dort, an der Grenze zu Jordanien, sollte das Abkommen feierlich unterzeichnet werden.

 

Mit Ministerpräsident Jitzhak Rabin im Kanzlerbungalow in Bonn, 29. März 1995.

Kinkel kam also, war aber nicht wenig überrascht, als er entdeckte, daß auf der Ehrentribüne kein Platz für ihn reserviert war. Man bedeutete ihm, die Tribüne sei ausschließlich regierenden Staatsoberhäuptern vorbehalten, Männern wie König Hussein von Jordanien, US-Präsident Clinton und dem israelischen Premier Jitzhak Rabin. Kinkel war zunächst verblüfft, denn immerhin war er nicht nur als deutscher Außenminister, sondern auch als Vorsitzender des EU-Ministerrats gekommen und opferte kostbare Zeit. Er fügte sich aber und nahm – was blieb ihm anderes übrig – im Publikum Platz. Um so verärgerter reagierte er dann, als von der Ehrentribüne aus nach den Regierungschefs auch der russische Außenminister Kosyrew das Wort ergriff. Außerdem sprach, als ranggleicher Israeli, Shimon Peres.

Daß der deutsche Außenminister, noch dazu als Vorsitzender des EU-Ministerrats, sich zu Recht düpiert sah, stand außer Frage. Doch was war zu tun, um die Angelegenheit möglichst elegant zu bereinigen? Eine Woche später, in einem Gespräch mit Peres noch vor meinem Rückflug nach Deutschland, kam mir eine – wie ich glaubte – rettende Idee. Ich schlug Peres vor, in einer Geste des guten Willens eigens nach Deutschland zu reisen, wann immer es Kinkel passe. »Verbinden Sie den Besuch möglichst nicht mit anderen Terminen«, riet ich. Auch müßte Peres nach dem Gespräch mit dem deutschen Amtskollegen Bonn sofort verlassen, es durfte nicht der Eindruck einer mehr zufälligen Begegnung entstehen. Peres stimmte zu und gab mir grünes Licht.

Als ich sie ihm unterbreitete, war Kinkel von der Besuchsidee unseres Außenministers offensichtlich bewegt. Noch einmal machte er seiner Enttäuschung über die letzte Israelreise Luft und erklärte, weshalb er auch nachträglich nicht die Art und Weise akzeptieren könne, in der man bei der Feier in der israelischen Wüste mit ihm umgegangen sei. Er nannte Einzelheiten und äußerte einige sehr vertrauliche Gedanken. Peres’ Vorschlag aber, nach Bonn zu kommen, mußte er gleichwohl ablehnen – so erfreut er darüber war, er sah einfach keine Zeit für den Besuch. Gegen Ende des Gesprächs bat Kinkel mich, Shimon Peres auszurichten, er werte dessen Absichten als vollendete Tat.

 

Mit PLO-Chef Jassir Arafat anläßlich der Verleihung des Deutschen Medienpreises ’95 in Baden-Baden, 23. November 1995.

Waren damit alle Probleme gelöst? In Wirklichkeit begannen sie erst. Am nächsten Montag, auf dem Flug zur Ministerratssitzung in Brüssel, auf der es unter Teilnahme von Peres und Arafat um Nahost-Probleme gehen sollte, erreichte Klaus Kinkel die Mitteilung seiner Botschaft in Israel, der von mir nach Jerusalem geschickte Bericht über unser letztes Gespräch sei in einer israelischen Zeitung veröffentlicht worden, einschließlich der sehr persönlichen Details, die Kinkel mir anvertraut hatte. Das war ein handfester Skandal, zumal es nur zwei Personen gab, an die ich den Bericht adressiert hatte. Des deutschen Außenministers erste – lautstarke – Reaktion vor seinen Mitarbeitern war: Mit Primor spricht man nicht mehr.

Als er in Brüssel Shimon Peres traf, machte Kinkel aus seinem Zorn keinen Hehl. Er folgte Peres auf einem Korridor, ergriff ihn am Arm und empörte sich, während Peres ruhig blieb, die Erregung des deutschen Außenministers aber durchaus verstehen konnte. Peres sah schon bald danach gewisse Chancen für ein Versöhnungsgespräch, doch sollte es noch vier Wochen dauern, bis sich der Sturm halbwegs gelegt und Kinkel sich überwunden hatte, Bundespräsident Herzog auf seiner ersten offiziellen Reise nach Israel zu begleiten. Aus Budapest kommend, traf er eine Stunde nach dem Präsidenten auf dem Flughafen Ben Gurion ein. Peres war mit Roman Herzog zum offiziellen Empfang schon nach Jerusalem vorausgefahren. So war es an mir, Kinkel zu begrüßen, den ich seit der Affäre um meinen Bericht nicht mehr gesehen hatte.

Noch im Auto, in dem außer ihm und seiner Gattin auch Hans Blohmeyer-Bartenstein, Gesandter der deutschen Botschaft in Israel, saß, ließ Kinkel seinem Unmut über alles Geschehene freien Lauf. Mittlerweile wisse er allerdings, sagte er, daß nicht ich schuld an der Veröffentlichung unseres Gesprächs sei. Der Ton wurde ruhiger, und wir verabredeten uns zu einem Essen in meiner Bonner Residenz. Die Dinge rückten allmählich wieder ins Lot.

Kinkels von einem Teil der deutschen Presse attackierter »rauhbeiniger« Stil hat immerhin den Vorteil, daß man bei ihm weiß, woran man ist. Er ist nach meinem Eindruck alles andere als nachtragend. Mißhelligkeiten, Streit und Ärgernisse, wenn sie ausgestanden sind, interessieren ihn nicht mehr. Typisch dafür ist seine Reaktion auf einen Vorfall, der sich im Frühjahr 1996 ereignete.

Israel wurde damals von einer Reihe extrem grausamer Terroranschläge heimgesucht. Trotz des Wahlkampfes für seine Partei in drei Bundesländern, der seine Zeit und Kräfte stark beanspruchte, ließ Kinkel sich von mir nicht nur über das Geschehen in Israel informieren, er wollte auch wissen, wie er helfen könne. Das Ergebnis war, daß er zwei Tage später nach Israel zu einem Treffen mit Ministerpräsident Peres und Außenminister Ehud Barak flog. Vorgesehen war auch eine Begegnung mit Jassir Arafat in Gaza. Ich begleitete den Bundesminister, blieb aber in Jerusalem, als er nach einem Empfang bei Peres in einem Wagenkonvoi nach Gaza fuhr. Auf der Rückfahrt, kurz vor Mitternacht, geschah es dann: Israelische Soldaten an der Grenze stoppten die Kolonne, und Kinkel mußte mit seiner Begleitung etwa eine dreiviertel Stunde am Straßenrand warten – in einer Gegend, in der sich Fuchs und Hase Gutenacht sagen. Endlich kam die Erlaubnis zur Weiterfahrt. Die Grenzposten hatten offenbar keine Anweisung erhalten, die Wagen ungehindert passieren zu lassen.

Miryam Shomrat, die Protokollchefin, war in heller Aufregung, als sie mir am nächsten Morgen von dem Vorfall berichtete. Um dessen Peinlichkeit zu mildern, schlug ich Außenminister Barak vor, das Gespräch, zu dem er Klaus Kinkel erwartete, sofort mit einer nachdrücklichen Entschuldigung für das nächtliche Vorkommnis zu beginnen. So geschah es auch. Kinkel reagierte trotzdem gereizt, doch als die beiden Außenminister sich anschließend der Presse stellten und Barak abermals Anstalten machte, die Schuld an Kinkels langem Grenzaufenthalt auf seine Schultern zu nehmen, unterbrach ihn der deutsche Kollege: »All dies haben wir schon besprochen und abgeklärt, das ist kein Thema mehr.« Dann ging er zu wirklich aktuellen Fragen über. Davon gab es mehr als genug.

Kinkels pragmatische Sicht der Nahost-Problematik hindert ihn nicht, sich in den Beziehungen zu Israel besonders zu engagieren. So wie es keine bloße Geste war, daß er während seines nur sechzehnstündigen Besuchs mit Opfern der jüngsten Terroranschläge im Krankenhaus sprach und medizinische Hilfe anbot, so selbstverständlich ist es für ihn, daß er, falls notwendig, jederzeit für mich erreichbar ist. Ähnliches ließe sich über das Verhältnis zwischen meinen Mitarbeitern und dem Bonner Außenministerium im allgemeinen sagen.

Verständnis also, Entgegenkommen und die Bereitschaft, mir am Anfang meiner Mission jede nur erdenkliche Unterstützung zu geben und das Einleben zu erleichtern – was konnte ich mehr erwarten? Nachdrücklich wie selten habe ich diese Zuwendung von seiten Richard von Weizsäckers empfunden, doch auch bei Roman Herzog, dem Nachfolger, durfte ich von Anfang an einer besonderen Aufgeschlossenheit für meine Arbeit sicher sein. Das erste Mal begegnete ich ihm noch in seinem Amt als Präsident des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe. Der Tag meines Besuchs, Wochen vorher vereinbart, war ausgerechnet derjenige nach dem unglücklichen Urteil im Fall des Neonazis Deckert: Wegen Verleugnung des Holocaust und Verbreitung der »Auschwitzlüge« war Deckert zweimal verurteilt, nach der Berufung aber vom Obersten Gerichtshof in Karlsruhe freigesprochen worden.

Herzog sprach das heikle Thema gleich am Anfang an. Ich möge nicht unangenehm überrascht sein, meinte er, wenn er mir sage, er halte das letzte Deckert-Urteil für vertretbar: »Unser Problem ist, daß wir keine befriedigende Gesetzgebung haben, um Verbrechen dieser Art zu ahnden. Es fehlt ganz einfach ein Gesetz, das die Verleugnung des Holocaust strafbar macht. Ich bin sicher, daß es zustande kommt, noch vor dem 23. Mai dieses Jahres.«

Unser Gespräch fand im Februar 1994 statt. Das von Herzog genannte Datum war das der Präsidentenwahl, jedermann wußte, daß er für das höchste Staatsamt kandidierte. Er hätte vage auch von allgemeinen Bemühungen um das Gesetzesvorhaben sprechen können, aber es war Herzogs entschlossene Zielstrebigkeit, die mir den Eindruck vermittelte, wie ernst er die Angelegenheit nahm. Tatsächlich war er noch vor Beginn seiner Amtszeit, dem 1. Juli, als Vorsitzender des Ersten Senats am Bundesverfassungsgericht im Wege der richterlichen Rechtsfindung mit der Angelegenheit befaßt. Der Beschluß des Senats vom 13. April machte den Weg zur strafrechtlichen Verfolgung der »Auschwitzlüge« frei. Am 20. Mai wurde die entsprechende Gesetzesvorlage im Bundestag eingebracht, am 4. November 1994 wurde das Gesetz verkündet. Deutschland wurde damit zum ersten Land, das die Shoah-Verleugnung klar unter Strafe stellt.

Daß Herzog noch im ersten Jahr seiner Präsidentschaft Israel einen offiziellen Besuch abstattete, als erstem Land außerhalb Europas, machte die Stärke seines Interesses am weiteren Ausbau unserer Beziehungen deutlich. Schon vorher, nach der Wahl zum Bundespräsidenten, aber noch vor dem 1. Juli, dem Tag seines Amtsantritts, war er – außerhalb des Protokolls – zu einem Essen in unserer Residenz. Auch dieser Besuch war offensichtlich mehr als eine bloße Höflichkeitsgeste. Sehr bewegt hat mich Herzogs Anruf im März 1996, mit dem er mich zu einem Gespräch einlud. Israel stand wieder einmal unter dem Schock einer Reihe von Terroranschlägen. Er wolle sich nicht mit öffentlichen Solidaritätsbekundungen zufriedengeben, auch nicht damit, daß er seinem Amtskollegen in Israel in diesem Sinne schreibe, sagte der Bundespräsident. Vielmehr verspüre er das Bedürfnis, über die Tragödien, die sich in Israel abspielten, direkt auch mit dem Vertreter unseres Staats in Deutschland zu sprechen.

Bundeskanzler Helmut Kohl empfängt neu akkreditierte Botschafter nicht rein automatisch oder routinemäßig zu einem Antrittsbesuch. Er bittet neue Botschafter erst dann zum Gespräch, wenn dafür ein triftiger Grund vorliegt, ein Thema etwa, das für ihn von unmittelbarem Interesse ist. Ich wußte natürlich viel über ihn und kannte auch die Stelle in dem schon erwähnten Erinnerungsbuch unseres ehemaligen Botschafters Meroz, die Kohl noch als damaligen Oppositionsführer vorstellt: »Helmut Kohl ... unterstrich immer wieder gegenüber offiziellen israelischen Besuchern der Bundesrepublik wie auch in Gesprächen mit mir, daß seine Partei das Erbe Adenauers fortführe, das heißt, daß sie die traditionelle deutsche ›Israel-Partei‹ sei.«

Erste Gelegenheit, den Kanzler zu sehen, ergab sich schon bald nach meiner Akkreditierung. Ministerpräsident Rabin war zu einem kurzen Besuch nach Bonn gekommen, so daß ich Zeuge des Gesprächs war, das er mit dem deutschen Regierungschef führte. Das eine oder andere Wort wechselte ich mit dem Kanzler am Rande offizieller Veranstaltungen, zu einer längeren Unterhaltung aber kam es bei einem Abendessen, das nach dem Festakt anläßlich des 250. Jahrestags der Gründung der Rothschild-Dynastie in Frankfurt am Main stattfand, wenige Wochen nachdem ich mein Amt angetreten hatte.

Kohl war Ehrengast dieser Veranstaltung. In seiner Festrede erinnerte er nicht nur an Meyer Amschel Rothschild, den Gründer der Dynastie. Er hob auch hervor, »welche enormen Energien, welche demokratischen, welche schöpferischen Kräfte durch die Emanzipation der Juden freigestellt wurden. Ich erinnere hier in Frankfurt vor allem an den freiheitlichen Patriotismus eines Mannes wie Gabriel Riesser, des Vizepräsidenten der Nationalversammlung in der Paulskirche.« Ebenso würdigte der Kanzler das »einzigartige Aufblühen von Mäzenatentum, gemeinnützigen Stiftungen und philanthropischen Einrichtungen, für die es gerade hier in Frankfurt so viele grandiose Beispiele gibt. In diesem Engagement drückt sich eine auf langer jüdischer Tradition beruhende Sozialethik aus, für die Mildtätigkeit und Gerechtigkeit, Nächstenliebe und Bürgersinn untrennbar zusammengehören.«

Beim Essen saß ich links vom Kanzler, rechts hatten die beiden Chefs der Rothschild-Familie Platz genommen, James de Rothschild aus England und Guy de Rothschild aus Paris. Da beide Ehrengäste kein Deutsch sprachen und Helmut Kohls Fremdsprachenkenntnisse, wie man weiß, im Schatten seiner staatsmännischen Talente und Verdienste stehen, war ich – unter den Blinden ist der Einäugige König – mit meinem, wie ich fand, noch recht unbeholfenen Deutsch an diesem Abend des Kanzlers fast alleiniger Partner beim Tischgespräch.

Der Festakt in Frankfurt mit rund hundert Angehörigen der weitverzweigten Rothschilds fand kurz nach einer CDU-Tagung in Hamburg statt. Wie alle Botschafter in Bonn hatte auch ich eine Einladung als Beobachter erhalten. Es war das erste Mal, daß ich den Kanzler in voller Aktion erleben konnte. Die Zeichen standen damals nicht gut für die Union, Meinungsumfragen – zehn Monate vor den Bundestagswahlen – deuteten auf einen klaren Sieg der SPD. Entsprechend gedrückt war die Stimmung im Saal. Allein bessere Umfrageergebnisse, schien mir, hätten wie ein Gegenmittel wirken können.

Dann aber kam der Auftritt des Kanzlers. Seine Rede vertrieb im Nu alle Sorgen, die Unsicherheit wich wie durch einen Zauber, und immer wieder brandete Jubel auf – man hätte meinen können, die Wahlen seien schon gewonnen. Ich habe die verwandelnde Kraft, die den Stimmungsumschwung bewirkte, insgeheim bewundert, ohne sie recht zu verstehen, dazu war mir Deutschland noch zu fremd. Der Bundeskanzler aber faßte meine Eindrücke, von denen ich ihm am Frankfurter Rothschild-Abend erzählte, nur wie eine Bestätigung auf. »Ich kann mir vorstellen«, sagte er, »daß Sie Ihrer Regierung schon einen Bericht geschickt haben, in dem mit großer Sicherheit dargelegt wird, daß Deutschland im Laufe des Jahres eine neue Regierung bekommt und daß dies das Ende Kohls sein wird. Lassen Sie sich nicht täuschen – wir werden die Wahlen gewinnen.«

Genauso kam es dann auch.

Was wäre Politik – und die Diplomatie als Teil von ihr – ohne Gespräche oder wenigstens die Entschlossenheit und Bereitschaft dazu? Gespräche aber erfordern Zeit, ebenso Geduld, wenn sie sich bewähren und zum Ziel führen sollen.

Als ich mich im Juni 1994 zum ersten offiziellen Gespräch beim Bundeskanzler anmelden ließ und um einen Termin bat, hatten wir es sehr eilig, denn es ging um Israels Beziehungen zur Europäischen Union. Ich bat um ein Gespräch von etwa zwanzig Minuten, aus dem Kanzleramt aber verlautete: Sie werden vierzig Minuten haben. Tatsächlich geblieben bin ich dann rund eineinhalb Stunden, und zwar nicht gegen den Wunsch des Kanzlers. Er war es vielmehr, der die Zeit ausdehnte, und vieles von dem, was er erzählte, ist mir erinnerungswürdig und von einigem Wert.

Das Hauptthema war, wie gesagt, die Europäische Union. Als er mein Anliegen zur Kenntnis genommen hatte, erklärte Helmut Kohl, er würde sich in der EU als Motor für uns verwenden. Eine engere Verbundenheit mit der Union liege im Interesse Israels, wenn es denn auf zwei Beinen stehen wolle – das eine sei Amerika, auf das wir nicht verzichten sollten, das zweite sei Europa in Gestalt der EU. Im übrigen, fügte er hinzu, wäre es im Interesse Deutschlands und der Europäischen Union, wenn Israel sich darin verankere.

Das lange Gespräch, das sich aus diesen Gedanken ergab, bestärkte mich in der Überzeugung, daß sich auf Deutschland große Hoffnungen setzen ließen. Die Angst, die immer noch, in Europa wie in Israel, vor einem infolge der Wiedervereinigung allzu stark gewordenen Deutschland umging, würde sich nur durch dessen feste Einbindung in die europäische Völkergemeinschaft, eben in die EU, überwinden lassen.

Aus meiner Zeit in Brüssel wußte ich, daß die deutsche Politik, die europäische Einigung betreffend, die aufrichtigste war. Kohl bekannte sich in dem Gespräch mit mir zu dieser Geradlinigkeit: »Heute weiß jeder in Europa, daß Helmut Kohl ehrlich und beharrlich und vertrauenswürdig die Vereinigung Europas und die Teilnahme Deutschlands an dieser Entwicklung vorantreibt. Es stellen sich nur manche die Frage: Was passiert nach Kohl? Darf man davon ausgehen, daß die deutsche Politik in bezug auf die EU auf jeden Fall dieselbe bleiben wird?« Der Kanzler räumte ein, nicht immer ein »so verständnisvoller Europäer« gewesen zu sein wie heute, »aber sobald man sich die Welt von dem Sessel aus anschaut, in dem ich jetzt sitze, versteht man, daß es anders nicht sein kann. Ich verspreche Ihnen, wer immer in Zukunft in diesem Sessel sitzen wird, er wird die Dinge ebenso sehen wie ich.«

Kohls Beharrlichkeit in Sachen Europa und europäische Einigung nötigte ebenso Respekt ab wie das Feingefühl und die Geduld, die er auf diesem höchst steinigen Weg bewies. In seinem Verhältnis zu England konnten sich diese Tugenden bewähren. Ende Oktober 1991, anläßlich des zwanzigsten Jahrestags des Beitritts des Vereinigten Königreichs von Großbritannien zur EG, erschien in »Le Monde« ein Beitrag mit Auszügen aus den Erinnerungen französischer Unterhändler, die 1956 an den Verhandlungen zu den römischen Verträgen teilgenommen haben, den Gründungspapieren der EG. Der Franzose Jean-François Deniau schrieb:

»Nie hat der würdige Vertreter des Vereinigten Königreichs während der Verhandlungen seinen Mund aufgemacht, es sei denn, um sich seine Pfeife anzustecken. Endlich – eines Tages und zur Überraschung aller Beteiligten bat er um das Wort, und das auch nur, um eine kurze Abschiedsrede zu halten. Er sagte: ›Herr Vorsitzender, meine Herren, ich möchte mich für Ihre Gastfreundschaft bedanken und Ihnen versichern, daß sie ab heute beendet sein wird ... Ich habe mit Interesse Ihre Arbeit verfolgt, und ich muß Ihnen sagen, daß der künftige Vertrag, von dem Sie sprechen und den Sie die Pflicht haben zu entwerfen, a) keine Chancen hat, jemals vollendet zu werden; b) wird er trotzdem vollendet, hat er keine Chance, gebilligt zu werden; c) wird er gebilligt, hat er keine Chance, in die Tat umgesetzt zu werden. Wäre es trotzdem so, würde er auf jeden Fall für Großbritannien vollkommen inakzeptabel sein.‹« Deniau erwähnt auch die öffentliche Erklärung eines britischen Ministers, der an den Verhandlungen teilnahm, wonach der Plan zur Schaffung einer europäischen Gemeinschaft im Grunde nichts anderes sei als das Werk von Besiegten. Unter denen habe England nichts zu suchen.

Als die Gemeinschaft dennoch ins Leben gerufen wurde, gründeten die Engländer die EFTA. Diese Organisation sollte, so schien es, die EG nicht nur behindern, sondern schlicht überflüssig machen. De Gaulle vertrat damals die Auffassung, England solle zwar EG-Mitglied werden, doch möglichst erst am Ende des Vereinigungsprozesses, der Lauf der Dinge werde sonst nur unnötig gestört.

Zu solchen Behinderungen kam es tatsächlich, nachdem Premierminister Edward Heath sein Land in die Gemeinschaft eingebracht hatte. Darüber hinaus sahen sich die Kontinentaleuropäer öfter als einmal Verdächtigungen, mitunter auch haltlosen Beschimpfungen seitens der britischen Medien ausgesetzt. Zielscheibe ihrer Attacken gegen den Europagedanken ist besonders Bundeskanzler Kohl. Als ihn einmal jemand auf die Arroganz der Engländer ansprach, winkte er gelassen ab: »Verstehen Sie doch, daß die Engländer zwei Weltkriege gewonnen haben. Wie würden wir uns aufführen, hätten wir zwei Kriege gewonnen?«

Als Jacques Chirac im Mai 1995 zum französischen Präsidenten gewählt worden war, schien es so, als müsse man sich um die weitere Entwicklung der europäischen Vereinigung sorgen. Chirac galt nicht gerade als ein begeisterter Europäer, und von den Spitzenpolitikern, die ihn umgaben, war bekannt, daß sie die Europäische Union einschließlich des Maastrichter Abkommens mehr oder minder energisch ablehnten. Auch ich teilte diese Sorgen, allerdings nur kurze Zeit. Schon einen Tag nachdem er in seinem Amt bestätigt war, traf der Präsident sich mit dem deutschen Bundeskanzler in Straßburg – ein, wie mir schien, gutes Omen. Man darf vermuten, daß der Kanzler bei den zahlreichen Gelegenheiten, die die beiden Staatsmänner seither zusammenführten, seinem französischen Partner auch den Gedanken nahelegte, den er im Gespräch mit mir in seinen Diensträumen äußerte, nämlich daß vom Stuhl der höchsten Verantwortung die Welt anders aussieht. Die Vereinigung Europas jedenfalls ist für Frankreich kaum weniger unerläßlich als für Deutschland.

Die Annäherung Frankreichs und Deutschlands nach dem Krieg fand ihren Ausdruck nicht nur im Abschluß von Verträgen. Sie ging einher mit dem Abbau von Vorbehalten, Vorurteilen und Haß in beiden Völkern, erfolgte aber nur langsam, nachdem Adenauer und de Gaulle dazu die ersten Schritte getan hatten, mit ihrer persönlichen Freundschaft als Unterpfand. Das erste Mal empfing de Gaulle den deutschen Kanzler noch in seinem Privathaus in Colombey-les-deux-Eglises. Als er ihn endlich auch in Paris begrüßte, gab er dem Besuch den Glanz und die Würde einer Staatsvisite, wie sie eigentlich nur Präsidenten zukommt. Das französische Volk habe den Gast mit Freude und Begeisterung aufgenommen, erklärte de Gaulle hinterher auf der Pressekonferenz – eine Behauptung, die angesichts der leeren Straßen in Paris und in den übrigen Städten, die Adenauer besucht hatte, zumindest übertrieben war. Darauf angesprochen, daß die meisten Franzosen sich in Wirklichkeit jeder Freudensäußerungen enthalten hatten, erwiderte de Gaulle: »Ich weiß, aber ich will den Franzosen allmählich beibringen, sich an einen deutschen Besuch zu gewöhnen.«

Bei allen Zeichen der Entspannung, das Verhältnis zwischen beiden Ländern blieb lange schwierig. Eine Tafel neben dem Eingang des »Quartier Napoléon« im Norden Berlins, dem Sitz des französischen Stadtkommandanten bis zum Abzug der Truppen aus ihrem Sektor, wies darauf hin, daß Napoleon am 27. Oktober 1806, nach der Schlacht bei Jena, Einzug in Berlin gehalten hat. Eine weitere Tafel, im Vorzimmer des Kommandanten angebracht, nannte mit den zugehörigen Daten die Namen der französischen Gouverneure, die damals, bis 1813, in Berlin militärische Befehlsgewalt ausübten, angefangen von General Clarke, Duc de Feltre, bis Marschall Augerau. Daran schlossen sich, als hätte es keine mehr als hundertdreißigjährige Unterbrechung gegeben, die Namen der französischen Stadtkommandanten seit 1945 an: General de Beauchesne, General Lanson, General Ganeval – und so weiter.

Über die deutsch-französischen Beziehungen und die Tatsache, daß sich relativ wenig Franzosen für Deutschland interessieren, sprach ich mehrfach mit dem ehemaligen Premierminister Michel Rocard. 1969, als ich als junger Diplomat nach Paris kam, war er Vorsitzender einer kleinen linksradikalen Partei, die sich PSU (Parti Socialiste Unifie) nannte. Israel gegenüber ausgesprochen ablehnend eingestellt, hatte sie gerade den Kontakt zur dortigen, ebenfalls radikal linken Partei »Mapam« abgebrochen, weil sie sie für zionistisch hielt. Daß Rocard und seine Getreuen keine Verbindungen zur israelischen Botschaft in Paris wünschten, war bei dieser betont schroffen Haltung fast selbstverständlich, unser Botschafter jedenfalls bemühte sich vergeblich, Rocard einen Antrittsbesuch abzustatten.

So kam es einer kleinen Sensation gleich, als ich eines Tages einen Anruf der Journalistin Danielle Molho von »L’Express« erhielt. Ob ich bereit wäre, fragte sie zu meiner Verblüffung, Michel Rocard kennenzulernen. Die Gegenfrage, ob er denn meine Bekanntschaft machen wolle, wies sie zurück: »Sonst hätte ich Sie nicht angerufen.« Auch mein Hinweis, für einen Mann wie Rocard wären der Botschafter oder der Gesandte sicherlich bessere Gesprächspartner als der Botschaftssprecher, fruchtete nichts. »Nein«, sagte Danielle Molho, »Michel Rocard ist im Grunde überhaupt nicht bereit, einen Vertreter Ihres Staates zu treffen, er will Sie persönlich kennenlernen.« Angeblich war er bei einer Fernsehsendung auf mich aufmerksam geworden.

Das Treffen kam in der Wohnung der Journalistin zustande, und zwar unter bemerkenswert konspirativen Umständen. Rocard konnte oder wollte es sich nicht leisten, mit mir in der Öffentlichkeit gesehen zu werden, weshalb ich eine Viertelstunde vor ihm das Haus betreten und eine weitere Viertelstunde nach seinem Weggang warten mußte – alles war vorher genau verabredet. Wir aßen gemeinsam zu Mittag, während Rocard mich mit Fragen über Israel und den Nahen Osten geradezu bombardierte. Ich kam mir vor wie bei einem Verhör, antwortete aber so sachlich und nüchtern wie möglich. Am Ende hatte ich den Eindruck, daß es bei dieser Begegnung, die unter so merkwürdigen Bedingungen zustande gekommen war, bleiben würde.

Doch nicht lange, da rief Frau Molho mich wieder an. Rocard war daran gelegen, mich erneut zu sehen, unter gleich geheimer Abschirmung wie das erste Mal. So geschah es auch. Alles, was ich ihm letzthin erzählte, habe er genau prüfen lassen, erklärte er. »Zu meinem Erstaunen erwies sich alles als richtig.« Mich erstaunte das nicht so, denn Rocard war offensichtlich ein Opfer der syrischen Propaganda, kein Wunder bei seinen engen Beziehungen zu Syrien, besonders zur Schwesterpartei der PSU, der anti-israelischen Baath-Partei des Präsidenten Assad. Mehrmals hielt er sich in Damaskus auf.

Mittlerweile überzeugt, daß ich ihm zur Lage Israels nur nachprüfbare Tatsachen erzählte, legte Michel Rocard Wert darauf, unsere Gespräche in der Folgezeit fortzusetzen. Er zog sich allmählich von seiner Partei zurück und näherte sich den Sozialdemokraten an. Für die Geheimhaltung unserer Treffen gab es keinen Grund mehr, um so weniger, als er begann, nach Israel zu reisen und sich dort mit führenden Politikern unseres Landes zu treffen. Einmal, 1976, begegnete ich ihm dort wieder, als ich, inzwischen Regierungssprecher in Jerusalem, François Mitterrand als Gast der damals regierenden Arbeiterpartei zu betreuen hatte. In Mitterrands Begleitung war auch Michel Rocard. Wir freuten uns über das Wiedersehen und verbrachten einen Abend allein, danach aber gab es für den inzwischen in die hohe Politik Aufgerückten keinen besonderen Grund zur Fortsetzung unserer Verbindung.

Erst zwölf Jahre später kam es dazu, als Rocard zum Premierminister Frankreichs berufen wurde. Ich war damals Botschafter in Brüssel und schickte ihm in einem persönlich gehaltenen Brief Glückwünsche zum Amtsantritt. Tage später rief er an: »Sie sind in Europa, ohne daß ich es wußte! Wir müssen uns unbedingt sehen.« Ich teilte den Wunsch: »Aber diesmal erwarte ich, daß unser Treffen geheim bleibt.« Meine Pariser Kollegen sollten sich nicht sorgen, ich könnte von Brüssel aus versuchen, hinter ihrem Rücken Kontakte zur französischen Regierung zu knüpfen ...

Getroffen haben wir uns im Schloß Matignon, dem Sitz des Regierungschefs, am Morgen des französischen Nationalfeiertags. Zu dieser Stunde konnte mich hier, wie Rocard es vorausgesagt hatte, niemand vermuten. Wir frühstückten zusammen, und am Nachmittag saß ich mit meiner Familie auf einer Tribüne an den Champs-Élysées, um mir die große Militärparade anzusehen. Die Karten dafür hatte mir Rocard zukommen lassen.

Jahre später, von Bonn aus, übermittelte ich Rocard Beobachtungen und Stellungnahmen zum deutsch-französischen Verhältnis. Die Zurückhaltung, mit der er sie aufnahm, bestärkte mich in der Meinung, daß die Kluft zwischen Deutschen und Franzosen trotz aller offiziellen Freundschaftsbeteuerungen und aller wirtschaftlichen Annäherungen noch recht groß ist, aus psychologischen Gründen. Bereitwillig aber nahm Rocard meinen Vorschlag an, einmal nach Bonn zu kommen, um in privatem Kreis mit prominenten deutschen Politikern alle anstehenden Fragen freimütig zu erörtern, ohne Dolmetscher, Protokoll und Medienpräsenz. Es war ein erfolgreicher, überaus fruchtbarer Abend. »L’Express« widmete bald danach eine ihrer Ausgaben Deutschland und den deutsch-französischen Beziehungen. Rocards Beitrag in diesem Heft unterstreicht nicht nur die Notwendigkeit der weiteren Annäherung beider Länder, er betont auch, wie wichtig für die Franzosen und die Deutschen der noch engere Zusammenschluß Europas sei, unabweisbar für die Zukunft.

Als ich dann einen der deutschen Politiker wiedertraf, die an dem privaten Treffen mit Michel Rocard teilgenommen hatten, jenem Abend, an dem fast alle Gespräche um dieses eine Thema kreisten, durfte ich zu meinem Anteil ein schönes Kompliment entgegennehmen. Mein Gastland, meinte der Betreffende, müsse mir eigentlich eine Auszeichnung verleihen für den Beitrag, den ich zugunsten der deutsch-französischen Verständigung geleistet habe. Ich hatte jedoch eher die für uns alle schicksalhafte Europäische Union im Sinn.

Seit dem ersten ausführlichen Gespräch bin ich dem Bundeskanzler des öfteren begegnet. Besondere Anlässe dazu waren natürlich Besuche hochrangiger israelischer Politiker wie Jitzhak Rabin oder Shimon Peres. Einmal kam er sogar zum Abendessen in meine Residenz – zur neugierigen Freude aller Kinder aus der Nachbarschaft, die vor der Tür Schlange standen und um Autogramme baten. Auffallend – und bewundert von meiner Frau, die ihn weniger kannte – waren die Liebenswürdigkeit und Geduld, mit der er auf die Wünsche der Kinder einging.

Vermeintliche Belanglosigkeiten, zunächst kaum beachtet, nehmen in der Politik aufgrund einer kaum mehr zu steuernden Eigendynamik mitunter Dimensionen an, die das Verhältnis zweier Staaten empfindlich stören können. Vielfach sind es die Medien, die solche Entwicklungen auslösen. Anfang 1995 erschien in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« ein Artikel mit der Nachricht, die Bundesrepublik habe sich dank ihrer guten Kontakte zu Iran bemüht, für Israel die Freigabe der sterblichen Überreste israelischer Gefallener und die Rückführung eines verschollenen Kriegsgefangenen aus dem Libanon zu erreichen. Der normale Zeitungsleser mochte die Meldung mit Interesse, doch ohne besondere Hintergedanken zur Kenntnis nehmen. In israelischen Journalistenkreisen aber interpretierte man den FAZ-Artikel inhaltlich und der Sache nach sofort als eine Art Deckung der Bonner Politik gegenüber dem Iran. Anders als Bonn setzt Jerusalem sich wie die USA für einen Boykott des Iran ein. Humanitäre Hilfe der Bundesrepublik als Kompensation für ihre von Israel und den Vereinigten Staaten gleichermaßen ungeliebte Iran-Politik – das etwa waren die Vorstellungen, die der Artikel hervorrief.

Nun ist nicht jede Meldung, die in den Medien erscheint, ein Evangelium. Bei aller Wertschätzung ihrer öffentlichen Funktionen in demokratisch regierten Staaten – ich war selber jahrelang Pressesprecher – kenne ich die Schwachpunkte der Berichterstattung und die Gefahren, die allein im Termindruck etwa bei der Herstellung von Tageszeitungen liegen.

Als junger Diplomat war ich Zeuge eines Gesprächs zwischen Außenminister Abba Eban und dem Chefredakteur einer der größten israelischen Zeitungen, in dem es genau um diese Gefahren ging. Das Treffen war vom Sprecher des Auswärtigen Amts als Versöhnungsversuch arrangiert worden, nachdem Abba Eban den Journalisten öffentlich gerügt hatte. Laut las der Minister aus der Mappe vor, die er eigens für dieses Gespräch vorbereitet hatte – Falschmeldungen und Irrtümer des Blattes, dessen Chefredakteur vor ihm saß. Der Zeitungsmann hörte die lange Litanei ungerührt an. Am Ende fragte Abba Eban: »Haben Sie denn nichts dazu zu sagen, bestreiten Sie etwa meine Zitate?« »Nein«, sagte der Angesprochene, »ich gestehe, daß wir die Fehler, die Sie nannten, wirklich begangen haben.« Der Minister: »Na also!« »Kein also«, erwiderte der Chefredakteur, »habe ich denn jemals behauptet, eine wissenschaftliche Zeitschrift zu leiten? Ich führe eine Tageszeitung. Eine Tageszeitung wird unter Druck und in kurzer Zeit gemacht, in Hektik. Fehler lassen sich da nicht vermeiden.« Der Minister schwieg daraufhin.

Eile und Terminnot spielten auch eine Rolle, als ich einem Pariser Journalisten zu Informationen verhalf, die zum einen nicht von mir stammten, zum anderen auf wundersame Weise zu ihrem Urheber zurückfanden. Ich war, damals Sprecher unserer Botschaft in Paris, mit einem Nachtzug von einem Skiurlaub in die Hauptstadt zurückgekehrt und vom Bahnhof direkt ins Büro gefahren, um zu sehen, was sich während meiner Abwesenheit auf dem Schreibtisch an Post und sonstigen Papieren angesammelt hatte. Kaum hatte ich mich gesetzt, als das Telefon läutete. Am Apparat war der für auswärtige Politik zuständige Redakteur des Magazins »Le nouvel observateur«, Jean Pierre Joulin. Er wollte mit mir dringend, möglichst sofort und natürlich auch möglichst ausführlich über den Nahen Osten sprechen, der betreffende Artikel müsse ganz rasch in Druck, jede Viertelstunde sei kostbar, ob er nicht gleich kommen könne. Daß ich eine Woche lang wie von der Welt abgeschnitten, im Urlaub ohne Zeitungen und Radio gewesen war, irritierte ihn nicht, er bestand darauf, mich noch an diesem Morgen zu sprechen. Ich gab nach, leichtsinnigerweise.

Denn während ich noch überlegte, woher ich mir neueste Nahost-Informationen beschaffen sollte, von Leuten in der Botschaft oder aus Berichten, die sich auf dem Schreibtisch stapelten – viel Zeit war ohnehin nicht mehr –, blätterte ich in israelischen Zeitungen, die ebenfalls auf dem Tisch lagen. Mein Blick fiel auf einen Artikel eines bekannten israelischen Journalisten, Zeev Schiff von »Ha’aretz«. Ich las den Beitrag bis zum Schluß – und da stand mein Besucher auch schon vor der Tür. Was konnte ich ihm sagen? In meiner Ratlosigkeit habe ich ihm einfach, ohne die Quelle zu nennen, erzählt, was ich kurz zuvor gelesen hatte. Er fand das alles ungemein interessant, machte sich eifrig Notizen, bedankte sich und ging.

Ein paar Tage später entdeckte ich in »Le nouvel observateur« Joulins Artikel. Die Gliederung, die Abfolge der Informationen, der Wortlaut der Formulierungen – alles glich, fast bis aufs Haar, Zeev Schiffs Beitrag in »Ha’aretz«, nur daß dieser Text in Französisch erschienen war und unter anderem Namen. Irgendwie war mir die Sache peinlich, herzhaft lachen aber mußte ich, als mir, wieder einige Tage darauf, in einer der neuesten Ausgaben von »Ha’aretz« ein Bericht ihres Pariser Korrespondenten Eli Maissi vor Augen kam. Der Artikel entpuppte sich als getreue Kopie dessen, was Joulin den Lesern von »Le nouvel observateur« zur Lage im Nahen Osten mitgeteilt hatte. Niemand bei »Ha’aretz« hat den Bumerang bemerkt, der unversehens und sozusagen durch die Hintertür in das Blatt zurückgekehrt war.

Eine weniger belustigende Erfahrung mit Jean Pierre Joulin, Anfang der siebziger Jahre, hätte mich warnen sollen. Er wollte nach Israel und bat mich unter anderem, für ihn ein Interview mit Ben Gurion zu arrangieren. Ich hatte Ben Gurion 1970 während der Feierlichkeiten anläßlich des Todes von de Gaulle erlebt, wußte in etwa um den angegriffenen Gesundheitszustand des Zweiundachtzigjährigen und glaubte, Joulin vor allem auf die nachlassende Konzentrationsfähigkeit des alten Herrn aufmerksam machen zu müssen. Joulin nahm das wortlos zur Kenntnis, reiste ab und schrieb nach der Rückkehr in seiner Zeitung, wie übel es ihm in Israel ergangen sei, vor allem im Umgang mit Regierungsbehörden. Schon deren Sprecher in Paris habe im Hinblick auf die Meinungsverschiedenheiten Ben Gurions mit der derzeitigen Regierung und um ihn unglaubwürdig zu machen, den ehrwürdigen Staatsmann indirekt verunglimpft. Eine kleine Ungeheuerlichkeit, doch sie richtete gottlob keinen Schaden an.

Auch der besagte Artikel in der FAZ hat letztlich kein größeres Unheil verursacht. Er bot jedoch, wie gesagt, Ansatzpunkte zu sehr unterschiedlichen Auslegungen, die wiederum Stoff genug bargen, um die deutsch-israelischen Beziehungen zu belasten, zumindest wenn man sich auf eine bestimmte Version versteifte. Der erste, der das zu spüren bekam, war Joachim Bitterlich, der engste außenpolitische Berater des deutschen Kanzlers. Als der Artikel erschien, hielt er sich in Jerusalem auf. In Zusammenhang mit der Meldung mußte er persönliche Angriffe über sich ergehen lassen – ausgerechnet er, der sich stets mit größter Einfühlsamkeit und dem ganzen Einsatz seiner Person bemüht hat, die deutsch-israelischen Beziehungen zu entwickeln und zu vertiefen. Bitterlich führte ein Gespräch mit Ministerpräsident Rabin, das die Medien sofort zum Anlaß für alle möglichen Spekulationen nahmen. Man ging so weit zu behaupten, Rabin persönlich habe eine Kampagne gegen Deutschland entfacht.

Noch ehe sich die Krise deutlich abzeichnete, geschweige denn handfeste Formen gewann, sorgte man sich bereits um ihre möglichen Auswirkungen auf den Fortgang des Friedensprozesses im Nahen Osten. Monate vorher, am 17. Oktober 1994, war ich von Bonn im Auto unterwegs zur Schmerzbehandlung in einem Krankenhaus, womit ich eine kleinere Operation, die in Israel stattfinden sollte, vor mir herschob. Es war der Tag nach den Bundestagswahlen. Noch während der Fahrt erreichte mich ein Anruf von Shimon Peres aus Amman, der Hauptstadt Jordaniens. Peres interessierte zunächst der Wahlausgang, vor allem, ob Helmut Kohl wieder Kanzler sei.

Dann kam er auf den eigentlichen Grund des Anrufs zu sprechen, das Friedensabkommen mit Jordanien, über das er gerade in Amman verhandelte. Es gebe noch ein Hindernis, sagte er, nämlich das Problem der gemeinsamen Wasserversorgung mittels neu zu errichtender Stauseen und Entsalzungsanlagen, Einrichtungen, die internationale Investitionen in beträchtlicher Höhe erforderten. Für ihn, Peres, käme allein schon aufgrund seines Einflusses auf die Gremien der Europäischen Union als engagierter Förderer dieser Projekte, die gleichermaßen auf eine Unterstützung der regionalen Entwicklung wie auf die Festigung des Friedensprozesses hinausliefen, niemand anders in Betracht als der deutsche Kanzler. Ich solle sofort klären, ob von seiten Kohls mit einer positiven Behandlung dieser Frage zu rechnen sei. Peres wollte in Amman bleiben, bis meine Antwort eintraf. Ich mußte also, schmerzgeplagt, schleunigst zurück.

Die Antwort kam noch am selben Tag. Der Wahlsieger hatte gewiß anderes zu tun, als sich – vierundzwanzig Stunden nach seinem Erfolg – mit Nahost-Problemen zu befassen, doch Kohl signalisierte umgehend seine grundsätzliche Bereitschaft, sich unserer Belange mit Nachdruck anzunehmen; die endgültige Antwort würden wir nach genauer Prüfung unserer Pläne und nach den noch erforderlichen Gesprächen mit der Europäischen Kommission erhalten. Der unterbrochenen Fahrt ins Krankenhaus stand nun nichts mehr im Wege.

Nachdem Experten von allen Seiten unser Vorhaben erörterten und die Kommission grünes Licht gegeben hatte, kam es am 15. März 1995 in Bonn zu einem abschließenden Gespräch mit dem Kanzler. Der Termin, lange vorher vereinbart, nahm keine Rücksicht auf die Verstimmung, die mittlerweile aufgrund des FAZ-Artikels in Israel wie in Deutschland spürbar geworden war. Außer dem damals noch amtierenden Außenminister Peres war auch der jordanische Kronprinz Hassan nach Bonn gekommen. Peres hatte die atmosphärische Eintrübung des deutsch-israelischen Verhältnisses im Sinn, als er, noch bevor er sich zum Kanzler begab, vor Journalisten in einem beruhigenden und versöhnlichen, auf Ausgleich bedachten Ton äußerte: Die Bundesregierung habe sich auf ausdrücklichen Wunsch Israels um die Freigabe von Gefallenen und Vermißten beim Iran bemüht, dafür gebühre ihr Dank.

Weil die übrigen Gesprächsteilnehmer – Kronprinz Hassan, Außenminister Kinkel und Europa-Kommissar Manuel Marin – noch nicht eingetroffen waren, hatte Peres Gelegenheit, sich kurz mit dem Kanzler zu unterhalten, der ihn sehr freundlich empfangen hatte. »Ich hoffe, Sie haben mitbekommen, was ich den Journalisten heute morgen erklärte«, sagte Peres. Der Kanzler bejahte, aber: »Sie, Shimon, sind doch ein Freund, mit Ihnen habe ich keine Probleme.« Peres versicherte, Ministerpräsident Rabin werde öffentlich wiederholen, was er, Peres, den Journalisten gesagt habe, Rabin habe es ihm telefonisch zugesagt. »Ich werde es glauben, wenn ich es sehe«, erwiderte Kohl. Darauf Peres wieder: »Ich meine es im Ernst, ich habe heute morgen mit Rabin gesprochen.« »Wie gesagt, lieber Shimon«, wiederholte der Kanzler, »ich werde es glauben, sobald ich es sehe.« Das anschließende Gespräch über die Wasserversorgung Jordaniens verlief so, als gebe es zwischen Rabin und Kohl nicht den geringsten Meinungsunterschied.

Vollends hatte auf beiden Seiten die Vernunft gesiegt, nachdem Jitzhak Rabin überraschend, wie aus einem plötzlichen Entschluß, dem Kanzler einen Besuch abstattete. Die Weichen dafür stellten Joachim Bitterlich und ein Freund des israelischen Ministerpräsidenten, der Unternehmer Jekutiel Federmann. Rabin traf am Abend des 29. März in Bonn ein. Ich fuhr sofort mit ihm zum Kanzler-Bungalow, wo wir zum Abendessen erwartet wurden. Von einer gespannten Stimmung war schon am Anfang nichts zu spüren, schon die Tatsache, daß beide Staatsmänner so kurzfristig und außerhalb des Protokolls ein Treffen verabredet hatten, konnte als gutes Vorzeichen gelten. Am Ende des Abends waren nicht nur restliche Meinungsverschiedenheiten ausgeräumt und eine Reihe anderer Themen erörtert, Rabin hatte sich auch in ein ihm bis dahin unbekanntes Getränk verliebt: in deutsches Weizenbier. Der Bundeskanzler versorgte ihn damit fortan regelmäßig, bis zum tragischen Tod Rabins Anfang November 1995.

Fünf Monate vor jenem Unglückstag, im Juni, hat Rabin den deutschen Bundeskanzler noch auf israelischem Boden begrüßt. Es war ein alles in allem gelungener und erfolgreicher Besuch, harmonisch und von der persönlichen Wertschätzung getragen, die beide füreinander empfanden. Das rundum positive Ergebnis dieser Reise war um so höher einzuschätzen, als Kohls erster Aufenthalt in Israel, 1984, wie ich mehrfach schon vor meiner Ankunft in Bonn hörte, eher zwiespältige Eindrücke hinterlassen hatte. Diesmal, nach der offiziellen Verabschiedung in Jerusalem, rief er mich im Bus, der ihn und seine Begleitung zum Flughafen brachte, zu sich, sprach über einzelne Ereignisse und Begegnungen der voraufgegangenen Tage und vertraute mir in einem Moment dieses persönlichen Rückblicks an, mit welcher Sympathie er Rabin sah. »Jitzhak Rabin«, sagte er, »ist der erste israelische Premierminister, vor dem ich überhaupt keine Hemmungen habe.« Dazu mußte man wissen, daß der Kanzler während seiner langen politischen Laufbahn fast allen israelischen Regierungschefs begegnet war.

Es war dann auch mehr als bloße Hochachtung vor einem Staatsmann und lag auch jenseits aller protokollarischen Notwendigkeiten, daß außer dem Kanzler und dem Bundespräsidenten zahlreiche weitere deutsche Politiker Jitzhak Rabin nach seiner Ermordung die letzte Ehre erwiesen und zu den Beisetzungsfeiern nach Israel kamen. Unter den Trauergästen in Jerusalem waren auch der Vizekanzler und Außenminister, die Bundestagspräsidentin, die Oppositionsführer der SPD und der Grünen, der nordrhein-westfälische Ministerpräsident sowie, nicht zuletzt, der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland. Rabins Tod hinterließ bei ihnen wie in der gesamten deutschen Öffentlichkeit die traurige Gewißheit eines nicht nur für Israel schmerzlichen Verlusts.

Das Programm, das Bundeskanzler Kohl als Staatsgast Israels im Juni 1995 erwartete, sah nicht nur Begegnungen mit hochrangigen Persönlichkeiten aus Staat und Regierung vor. Der Kanzler hatte zunächst gezögert, als ich ihm eine entsprechende Namensliste überbrachte und vorschlug, einen Abend auch im Kreis deutschsprachiger israelischer Intellektueller zu verbringen. Die Gründe seiner anfänglichen Bedenken habe ich nie erfahren, womöglich stellte er sich vor, Universitätsprofessoren, bekannten Schriftstellern, Dichtern und Künstlern, die sich zum Teil mit dem Holocaust befaßten, Fragen beantworten zu müssen, zu denen er, der promovierte Historiker und Vorsitzende der »deutschen Israel-Partei«, schon unzählige Male unmißverständlich Stellung genommen hatte. Dabei war gerade dieser Abend ein besonders gelungener. Man inspirierte sich gegenseitig: Der Kanzler erfuhr viel über Israel aus einer Sicht, die den Politikern fremd war, und den Intellektuellen wurden, manchen zum ersten Mal, die Grundzüge der deutschen Innen- und Außenpolitik erläutert.

Das gedrängte Programm, das der Bundeskanzler bei seinem zweiten Staatsbesuch zu absolvieren hatte, sah für das Gespräch mit dem damaligen Oppositionsführer Benjamin Netanjahu nur eine halbe Stunde vor. Ich wartete im Jerusalemer King-David-Hotel auf ihn, den ich seit der gemeinsamen Arbeit im Außenministerium gut kannte. Als er gekommen war, bat er mich, ihm etwas über Kohl zu erzählen: »Was interessiert ihn, wie kann man mit ihm reden?« Wir begaben uns in die Nähe des Gesprächszimmers, mein Angebot aber, an der Unterredung teilzunehmen, wehrte er ab – er sei, sagte er, kein Regierungsvertreter wie ich, er stehe für eine andere Partei, für die Opposition, man dürfe da nichts vermischen. Als dann aber Joachim Bitterlich die Tür öffnete und Netanjahu einzutreten bat, nahm er mich am Arm: »Doch«, sagte er, »komm mit!«

Die ersten zehn Minuten vergingen, wie üblich, mit dem Austausch von Höflichkeiten. Ziemlich unvermittelt dann wollte der Kanzler von dem Besucher wissen, was er vom Frieden im Nahen Osten halte. »Was soll ich sagen?« antwortete Netanjahu. »Was immer ich sagen werde, Sie werden es nicht glauben. Man hat uns zu Feinden des Friedens gestempelt, zu Leuten, die Krieg wollen. Ich persönlich wurde als Faschist verleumdet, schlimmer noch: als Neufaschist!«

Der Kanzler lächelte. Auch er habe, deutete er an, früher derart unqualifizierte Angriffe ertragen müssen. Während die Zeit drängte, beteuerte Netanjahu den Friedenswillen der Likud-Opposition. Von Anfang an habe sie sich für das Abkommen mit Jordanien eingesetzt und im Parlament klar dafür gestimmt. Er selber sei nach Jordanien gefahren und vom König empfangen worden, eigens um zu bekräftigen, wie entschieden Likud den Frieden unterstütze – nicht anders als der Kanzler selbst, der sich ja in dieser Sache ebenfalls engagiere. Das Gespräch, bei diesem Thema auch mit bestem Willen nicht in ein paar Minuten zu beenden, schloß mit der Einladung an Netanjahu zu einem Deutschlandbesuch in absehbarer Zeit.

Monate später, im Oktober 1995, traf er in Bonn ein. Mir kam in den Sinn, wie Kohl sich im Juni auf der Busfahrt von Jerusalem zum Flughafen über Netanjahu geäußert hatte: »Kommt er doch einmal an die Macht, dann wird er nach meiner Überzeugung die gleiche Politik betreiben wie Rabin, trotz allem.« Und, nach einer Pause: »Weil er, wenn er es nicht tut, scheitern wird, und dazu ist er zu klug.«

Konsequent stellte Helmut Kohl im Bonner Gespräch denn auch den Friedensgedanken über alle aktuellen Notwendigkeiten. Er ermutigte Netanjahu und erläuterte seine Vorstellungen an einem greifbar nahen Gegenstand, indem er auf das Miniaturmodell einer kunstvoll verzierten Kanone hinter seinem Schreibtisch wies. Kohl erzählte die Geschichte des Originals, mit dem es tatsächlich eine besondere Bewandtnis hatte.

Im Jahr 1524 in Koblenz gegossen und fünf Meter lang, diente die Kanone der Stadt lediglich als Zierde. Nie ist aus ihrem Rohr auch nur eine einzige Kugel abgefeuert worden. Ob es das Alter war oder der schöne Reliefschmuck, Napoleon jedenfalls ließ das Prunkstück, nachdem er Koblenz erobert hatte, nach Paris bringen und dort aufstellen. Generalfeldmarschall von Moltke, in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts Chef der Koblenzer Garnison, erinnerte sich des Raubs, als seine Truppen 1870 die französische Hauptstadt besetzten. Er sorgte für die Rückkehr der Kanone, ein halbes Jahrhundert später jedoch, 1918, als Deutschland kapitulierte und Koblenz abermals eine französische Besatzung hatte, entführte man sie erneut nach Paris. Die Anordnung dazu kam vom Befehlshaber der am Rhein stationierten Franzosen, Giscard d’Estaing. Das Hin und Her wiederholte sich 1940, nach der Niederlage Frankreichs, und 1945, als das Dritte Reich am Boden lag.

Weder Adenauers gutes Verhältnis zu de Gaulle noch das nicht weniger freundschaftliche, das Bundeskanzler Helmut Schmidt zum französischen Staatsoberhaupt Valerie Giscard d’Estaing unterhielt, Sohn jenes Offiziers, der nach dem Ersten Weltkrieg ihren Abtransport befohlen hatte, vermochten etwas am Schicksal des Beutestücks zu ändern. Präsident Mitterrand, kein Militarist, erst recht kein Trophäenjäger, zeigte sich dagegen sofort zur Herausgabe bereit, als Helmut Kohl ihn darum bat. Mittlerweile aber gehörte die Kanone zu den Beständen des Militärmuseums im Invalidendom – sie dort herauszuholen und an ihren ursprünglichen Platz in Deutschland zurückzuschicken, hätte den sofortigen Rücktritt des gesamten Museumsvorstands bedeutet, hoher Armeeoffiziere im Ruhestand. Eine Lösung zeichnete sich erst ab, als Mitterrand während eines Kanzlerbesuchs in Paris die alten Herren zu einem Privatessen einlud, an dem auch Kohl teilnahm.

Er habe nach jenem Abend durchaus nicht geglaubt, daß es ihm gelungen sei, die prominenten Armeepensionäre von der Rechtmäßigkeit seines Wunsches zu überzeugen, sagte der Kanzler. Um so überraschter sei er am nächsten Tag gewesen: François Mitterrand teilte ihm mit, die alten Herren hätten gegen die Rückführung nach wie vor stärkste Einwände, nähmen jedoch Abstand von ihrem Beschluß zur Demission. Damit war die größte Hürde überwunden. Bald durften die Koblenzer sich wieder an ihrem alten Besitz erfreuen.

»Sie haben von der Kanone, als sie zurückgekehrt war, zwei verkleinerte Nachbildungen gießen lassen«, sagte der Kanzler. »Die eine steht hier, die andere haben sie Präsident Mitterrand angeboten. Ähnlich könnte man auch bei anderen Konflikten verfahren.«

Netanjahu war so beeindruckt, daß er die Geschichte später, auf der Pressekonferenz nach dem Besuch beim Bundeskanzler, den in Bonn arbeitenden israelischen Korrespondenten erzählte. Er kenne, sagte er, keine schönere Friedensgeschichte als diese.

Präsident Weizmans Rede vor dem Bundestag im Januar 1996 hat viele bewegt. Den meisten Zuhörern im Plenarsaal war Betroffenheit anzumerken, so sehr, daß dahinter fast die Wirkung der Worte zurückblieb, mit denen Bundestagspräsidentin Rita Süßmuth den Staatsgast empfangen hatte. Das war bedauerlich, um so mehr, als sie, seit vielen Jahren um Versöhnung und Verständigung zwischen Deutschen und Juden, zwischen Israel und der Bundesrepublik bemüht, in ihrer Eingangsansprache einen dem Ernst der Stunde angemessenen Ton traf. Schade auch, daß Weizman die Worte, die sie in Hebräisch an ihn richtete, nicht unmittelbar vernahm – die Simultanübersetzung, die der Präsident über Kopfhörer verfolgte, unterschlug sie sozusagen.

Weizman wußte, daß die Bundestagspräsidentin zu den ersten gehörte, die Israel die Furcht vor der deutschen Wiedervereinigung zu nehmen suchten. Im Sommer 1990, der Einigungsvertrag war noch nicht unterschrieben, besuchte sie gemeinsam mit Sabine Bergmann-Pohl, der Präsidentin der damals noch existierenden DDR-Volkskammer, Jerusalem. Repräsentierte jede der beiden Damen ein halbes Deutschland? Oder waren beide schon Vorbotinnen eines ganzen? Fest steht, daß man ihnen viel Sympathien entgegenbrachte. Wieder einmal bestätigte sich die Bedeutung persönlicher Begegnungen, gleich, ob spontan oder länger geplant, ob offiziell oder außerhalb des Protokolls. Politik wird in gewissem Sinne erst interessant durch die Menschen, die sie machen.

Das galt – und gilt – selbstverständlich auch für meine Tätigkeit. Glücklicherweise war keine lange Anlaufzeit nötig, um mir nicht nur über die innenpolitischen Verhältnisse in Deutschland ein Bild zu machen. Dazu standen mir alle erdenklichen Informationsquellen zur Verfügung. Wichtiger waren die persönlichen Eindrücke aus Gesprächen mit jenen Frauen und Männern, die gestaltend in diese Verhältnisse eingriffen.

Aufschlußreich in dieser Hinsicht waren Begegnungen mit Alt-Bundeskanzler Helmut Schmidt und mit Rudolf Scharping, dem SPD-Vorsitzenden und einstigen Gegenspieler von Helmut Kohl. Schmidt empfing mich zum Antrittsbesuch in seinem Büro im Bundeshaus. Die Unterhaltung, so hochinteressant wie selten – oft sah ich danach den auch heute einflußreichen Politiker nicht mehr –, drehte sich zunächst um weltpolitische Themen. Dann kamen wir auf die nächsten Bundestagswahlen zu sprechen und damit auf Scharping und dessen Chancen, Kohl als Kanzler abzulösen. »Wird er im nächsten Jahr gewählt«, sagte Schmidt, »werden wir auf jeden Fall einen recht guten Kanzler haben.« Scharping sei am Vortag bei ihm gewesen. Schmidt wies in meine Richtung: »Er saß dort, wo Sie jetzt sitzen.« Scharping müsse sich allerdings vordringlich für Außenpolitik interessieren, vor allem für Frankreich, das sei Deutschlands wichtigster Partner, gefolgt von den USA. Dann zählte Schmidt drei Staaten auf, Israel war auch darunter.

Einen Monat später traf ich Rudolf Scharping im Bahnhof Rolandseck bei einem Konzert. Zu meiner Überraschung wußte er, daß ich bei Helmut Schmidt gewesen war, er verriet auch, wieso: »Ich war einen Tag vor Ihnen da. Schmidt sagte: ›Auf dem Stuhl, auf dem du gerade sitzt, wird morgen der israelische Botschafter sitzen.‹ Das war das Stichwort, von da an sprachen wir auch über Außenpolitik. Ich müsse mich damit dringend beschäftigen, meinte er, und nannte mir vorrangige Ländernamen, unter anderen auch Israel.«

Vor den Wahlen dürfte der Kanzlerkandidat kaum Zeit gefunden haben, sich ausführlich mit Israel zu befassen, wohl auch nicht unmittelbar danach. In direkten Augenschein nehmen konnte er, dessen Interesse an unseren Problemen bis dahin eher zurückhaltend gewesen war, die reale Situation unseres Landes mitten im nahöstlichen Spannungsfeld erst Ende Oktober 1995. Auf dieser Israelreise, seiner ersten, habe ich ihn begleitet. Er wirkte wie verwandelt – lebhaft, aufgeschlossen, voller Wißbegierde. Niemand konnte auch nur im entferntesten ahnen, daß er der letzte ausländische Politiker sein würde, der Jitzhak Rabin noch am Leben sah.

Wer stets ein Ohr hat für Israel, immer und unermüdlich bereit, sich unserer Probleme anzunehmen, ist Scharpings Parteifreund Johannes Rau, Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen. Einmal mußte ich auf ihn anläßlich einer Preisverleihung die Laudatio halten. Um die Rede vorzubereiten, ließ ich von Mitarbeitern sämtliche Unterlagen zusammentragen, die Auskunft über Raus langjähriges Wirken für unser Land geben, Zeitungsberichte, Briefe, alle möglichen Dokumente – am Ende war es ein dreißig Zentimeter hoher Stapel von Papieren, der auf dem Arbeitstisch lag. Ihn im einzelnen durchzusehen, hätte viel Zeit und Mühe gekostet. Ich nahm das Konvolut einfach mit und zeigte es den Festgästen: »Ein dickes Buch würde nicht reichen, all das festzuhalten, was Johannes Rau für uns getan hat.« Das war kaum übertrieben.

Der Humor dieses liebenswürdigen Mannes ist unwiderstehlich. Außer vielen Anekdoten beweist das ein Foto von einer Veranstaltung mit Johannes Rau als Redner. Es zeigt mich unter den Gästen im Parkett mit einem so herzhaften Lachen, wie ich mich niemals zuvor habe lachen sehen. Und wenn Rau mit Ignatz Bubis zusammentrifft, dem Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, dann biegen sich beide bald vor Heiterkeit, ein Duo geistvollen, ausgelassenen Humors.

Beim Gedanken an das heutige Bündnis 90/Die Grünen fiel mir immer wieder die Anekdote von jenem Amerikaner ein, der verlangte, man solle ihn nicht mit Tatsachen verwirren, sobald er sich eine feste Meinung gebildet habe. Oder ich dachte an eine andere Geschichte, eine selbsterlebte, aus der Zeit des US-Präsidenten Reagan. Um die Reise eines unserer führenden Politiker nach Washington vorzubereiten, saßen wir mit rauchenden Köpfen in dessen Büro. Wir tauschten Meinungen aus, erteilten Ratschläge, übertrafen uns gegenseitig in der Sorgfalt unserer Analysen, alles nur des Gesprächs im Weißen Haus und der Dinge wegen, die dabei für Israel auf dem Spiel standen. Hinterher erwiesen sich alle Sorgen, selbst noch so beiläufige Vorbereitungen, als völlig überflüssig. Sobald er das Gespräch mit dem Präsidenten begonnen hatte, erzählte uns der Rückkehrer, stellte sich heraus, daß Ronald Reagan die Menschheit in zwei Teile schied, ganz einfach, wie in einem Western-Film: in die »Guten» und in die »Bösen«. Israel hatte das Glück, für Reagan unter den »Guten« zu rangieren. Detaillierte Erläuterungen unserer Situation hätten nur gestört – wir genossen automatisch und im voraus die Unterstützung des amerikanischen Präsidenten.

So etwa, nur umgekehrt, stellte ich mir, bevor ich sie kannte, die Grünen vor. Aus ihrer Sicht, dachte ich, müßten die unterlegenen Palästinenser die »Guten« sein, die Israelis die »Bösen«. Ich wußte, das Muster war allzu einfach, um als Modell für irgendwelche Diskussionen zu dienen, andererseits hatte ich die Grünen als eine Israel gegenüber sehr kritische Partei in Erinnerung, hartnäckig und selbstgerecht in der Argumentation, auch derart voller Vorurteile, daß jeder sachliche Meinungsaustausch schon im Vorfeld scheitern mußte.

Dann aber saß ich Joschka Fischer gegenüber, dem Sprecher der Grünen-Fraktion im Bundestag. Er, der Israel in den letzten Jahren mehrfach besucht hat, auch mit anderen Funktionsträgern seiner Partei, besitzt nach meinem Eindruck nicht nur eine erstaunliche Sensibilität für die Probleme unseres Landes, er weiß sich auch in das Verhältnis der Juden zu ihrer Vergangenheit zu versetzen. Die verstärkte Dialogbereitschaft der Grünen hat sicherlich viel mit der Wende der israelischen Politik seit 1992 zu tun, als die Arbeiterpartei wieder an die Macht kam, doch wäre das nur ein Aspekt. Israel hat sich geändert, die Grünen auch. Statt wie früher Lektionen zu erteilen, zeigen sie Verständnis, sogar Solidarität. So war denn auch das Zusammentreffen Fischers mit dem PLO-Vertreter in Deutschland, Abdallah Frangi, das in meiner Residenz stattfand, ein Zeichen der Bereitschaft, die Situation im Nahen Osten möglichst umfassend und differenzierter zu betrachten als noch in den achtziger Jahren.

Außerhalb der Gespräche über Fragen der deutsch-israelischen Finanz- und Wirtschaftsbeziehungen, für die er eine unentbehrliche Rolle spielt, traf ich Theo Waigel zum ersten Mal in Jerusalem. Es war im August 1994, als der Bundesfinanzminister die Arbeit in Bonn für etliche Tage ruhen ließ und mit seiner Familie Urlaub in Israel machte. Sein Ferienquartier lag in Eilat am Roten Meer, doch war ein Tag auch für Jerusalem reserviert, wo ich an einer Botschafterkonferenz teilnahm. Von Bonn aus über seinen Aufenthalt verständigt, konnte ich Waigel damals trotz des rein privaten Charakters seiner Reise und dank des wundersamen Zufalls, daß sie alle im Lande waren, nicht nur ein Gespräch mit seinem israelischen Kollegen Avraham Schochat, sondern auch – völlig unprotokollmäßig – Begegnungen mit Ministerpräsident Rabin und Außenminister Peres vermitteln. Sogar ein Mittagessen mit Jerusalems ehemaligem Bürgermeister Teddy Kollek, an dem auch Waigels Familie teilnahm, ließ sich rasch und unkompliziert arrangieren.

Gut zwei Jahre später zählte Waigel mit seiner Frau zu den Gästen eines offiziellen Essens, zu dem meine Frau und ich in die Botschaft geladen hatten. Wir waren völlig ahnungslos, daß ausgerechnet an diesem Abend ein Sportereignis ersten Ranges, dem halb Deutschland entgegenfieberte, über die Bildschirme ging: das Vorentscheidungsspiel um die Fußball-Europameisterschaft zwischen Deutschland und England.

Als das Essen aufgetragen wurde, lag eine eigentümlich erwartungsvolle Spannung in der Luft. Sie galt nicht unbedingt der Speisenfolge. In der spürbar gelösten Stimmung bei Tisch wagte aber niemand, den eigentlichen Grund lauter anzudeuten, als hinter vorgehaltener Hand. Immerhin wurde, das Spiel lief bereits, nach dem »möglichen Stand der Dinge« gefragt. Theo Waigel war es endlich, der, als die Tafel aufgehoben und der Kaffee serviert wurde, den Bann brach, indem er sich höflich und in sichtlichem Einvernehmen mit den übrigen Gästen erkundigte, ob es gestattet sei, sich für das augenblickliche Torverhältnis zu interessieren.

Die Antwort erübrigte sich. Wir gingen alle in einen Nebenraum, wo ein Fernseher stand. Und hier nun, aufgeräumt-fröhlich, begann der eigentliche Abend, ein deutscher Fußballabend mit Weizenbier, das die israelische Gastgeberin, meine Frau, kredenzte. Zu dem Spiel mit Verlängerung und Elfmeterschießen als Höhepunkt hörten wir Kommentare wie: »Na, Junge, tu doch endlich was!« oder: »Beweg dich! Steh um Gottes willen nicht so rum!«

Es war schon spät, als die Gäste sich in bester Laune verabschiedeten: »Herr Botschafter, wir danken Ihnen für diesen unvergeßlichen Abend!«

Deutschland hatte das Spiel gegen England gewonnen, Deutschland kam ins Finale.

Unsere Erfahrungen mit der Politik der DDR-Regierung, die erst gegen Ende ihres Bestehens ihre betont unfreundliche Haltung gegenüber Israel aufgab, gehören fast schon der Geschichte an. Dennoch warf diese Politik auch nach der Vereinigung noch ihre Schatten. Es gehört zur Logik jeder Konfrontation, daß sie Nachwirkungen hinterläßt, Spuren des Mißtrauens, die sich auch durch noch so wohlmeinende Gesten nicht einfach auslöschen lassen, auch wenn die Ursachen beseitigt oder, wie im Fall der DDR, durch Entwicklungen weltpolitischer Größenordnung sozusagen über Nacht null und nichtig geworden sind.

Vor diesem Hintergrund war das Angebot des Vorsitzenden der PDS im Bundestag, Gregor Gysi, und einiger Kollegen, mit uns in einen Dialog einzutreten, ein verheißungsvolles Zeichen. Daß an einem Treffen mit der PDS-Gruppe außer mir auch Abdallah Frangi teilnahm, dürfte Gysi und seinen Parteifreunden den Versuch des direkten Kontakts mit einem Vertreter des Staates Israel erleichtert haben. Es war der Anfang eines Meinungsaustausches, wie ich ihn in Bonn ständig auch mit anderen Parteien führe, bemerkenswert aber doch insofern, als ich gleich zu Beginn des Gesprächs von den Bemühungen Gysis und anderer erfuhr, die Honecker-Regierung von ihrem Kurs gegenüber Israel abzubringen.

Es ist sicherlich kein Ruhmesblatt in der Geschichte der DDR, daß ihre Regierungen den jüdischen Anteil am Widerstand gegen Hitler lange verschwiegen und die deutschen Opfer der Judenverfolgung einer Kategorie zugerechnet haben, zu der sie in Wirklichkeit nur zu einem geringen Teil gehörten. Die sozialistische Zwecklüge von der »Arbeiterklasse« und ihren Toten, unter die man alle Opfer, auch die des Holocaust, zusammenfaßte, setzte deren Mehrzahl in bewußter Umkehrung der Tatsachen mit Anhängern des Kommunismus gleich, so unsinnig, wie man sie nachträglich zu proletarischen Helden machte. Im Grunde hat diese »Umverteilung«, weil sie die Wahrheit grob verfälscht hat und allzu vordergründige propagandistische Ziele verfolgte, sämtliche Nazi-Opfer beleidigt, gleich, welchem Volk, welcher Religion, welchem Berufsstand oder welcher Partei sie angehörten.

Dabei kannte die DDR-Führung die Wahrheit genau. Viele ihrer Mitglieder waren selbst ehemalige Verfolgte. Die Jahre, die sie in Lagern und Zuchthäusern oder in der Emigration verbrachten, hätten sie zur Wahrheitstreue verpflichten müssen. Gerade sie, zumal diejenigen unter ihnen, die im Widerstand mit Juden zusammengearbeitet hatten, verfügten über detaillierte Kenntnisse über das Ausmaß des Schreckens, das Hitler nicht nur in Deutschland, sondern im Krieg auch in allen von deutschen Truppen besetzten Ländern über die jüdische Bevölkerung gebracht hat. Unter seinem Vernichtungswillen haben sie mehr oder weniger selber gelitten, und wenn nicht, dann kannten sie zumindest das erklärte Ziel der Nazis, ein »judenfreies« Deutschland zu schaffen.

Wie erschreckend nah sie diesem Ziel waren, zählt immer noch zu den beklemmendsten Erfahrungen meines Alltags. Nicht nur Worte versagen vor den Abgründen des Wegs, der zur »Endlösung« führte. Oft fehlt schon die Vorstellungskraft, um sich auch nur annähernd Details zu vergegenwärtigen von dem, wofür es im Deutschen nur diesen schlichten, einsilbigen Ausdruck gibt: Mord. Was hatte ich, fragte ich mich oft, in einem Land zu suchen, in dem derartiges millionenfach geschehen konnte?

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Erschienen 1997 beim Ullstein-Verlag, Berlin


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