Leah
Rauhut-Brungs:
Linkshändige Jüdinnen
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Scharlach
Soll ich oder soll ich nicht?
Die Woche der Brüderlichkeit, diese
initiierte Verständigungswoche, scheint mir nicht der richtige Rahmen für
meine Vorträge zu sein. Aber Lindau böte die Möglichkeit, mich wieder einmal
mit Marianne zu treffen. Der Gedanke an einen Abstecher in die Schweiz wiegt
schwerer und verdrängt meine Bedenken.
Wochen später befinde ich mich in einem der
unterkühlten Pfarrsäle am Bodensee. Während die Zuhörer eintrudeln, lese
ich die Mitteilungen am Schwarzen Brett: Vom Kindertreff, wo hinterher
alles aufgeräumt werden muß, über ein Frauenfrühstück mit gemeinsamen
Gebet bis zu einer Mitteilung aus Rom mit dem Aufruf, ungeborenes Leben zu
schützen.
Dann kommt er, der Herr Pfarrer. Denn kenne
ich doch, geht es mir durch den Kopf. Aber irgendwie sehen sich die
Pfarrer alle ähnlich. Die große Gestalt mit dem grauen Lockenkranz läßt
mich in Gedanken nicht mehr los.
Während er seine Gemeinde auf den Abend einstimmt: "... und wollen
wir Verstehen und Toleranz immer an uns selbst prüfen...", kann ich mich
kaum auf meinen Vortrag konzentrieren. Diese Stimme!
Am Rednerpult ist meine gewohnte Routine
plötzlich wieder da. Ich rede über den Mondkalender und höre mich
Schaltjahre erläutern, während ich vor meinem inneren Auge zwei kleine
Mädchen bei Wind und Wetter durch Bonns Norden laufen sehe, meine
Schulfreundin Angelika und mich. In einer alten Einkaufstasche schleppen
wir die Kirchenzeitung von Haus zu Haus.
In meinen Ausführungen zum Feiertagszyklus
nähere ich mich dem Fest der Versöhnung und beantworte Fragen, während ich
gleichzeitig mit Angelika die Römerstraße und die Nordstraße entlang gehe
und in die Rheindorferstraße einbiege, immer sorgfältig die Kirchenzeitung
faltend. Bei den Baracken am Augustusring gruselt es uns immer ein
bißchen. Brav wechseln wir uns mit dem Tragen der schweren Tasche ab. Ich
kenne alle Katholiken in unserem Viertel.
Meine Zuhörer vernehmen zum erstenmal vom
Neujahrsfest der Bäume.
Angelika und ich sitzen bei ihr zu Hause auf der Couch und trinken
heißen Kakao. Die Tragtasche ist fast leer, man sieht das zerrissene
Innenfutteral. Angelikas Vater ist vor ein paar Monaten gestorben. In
Geldangelegenheiten steht es nicht zum Besten bei Schneiders, sagt meine
Mama.
Meine Zuhörer erfahren, daß ich die
Hamanntaschen zu Purim mit Mohn fülle...
Am Ende des Schuljahrs sollten wir nach Niederlützingen fahren.
Angelika legte jeden Pfennig, den ihr das Austragen der Kirchenzeitung
einbrachte, dafür zur Seite. Sie mußte unbedingt die Schulreise nach
Niederlützingen mitmachen.
In meinem Referat sind wir schon beim
Frühlingsfest. Ich erzähle von den Peßachvorbereitungen und dem dazu
notwendigen doppelten Geschirr.
In Gedanken aber stehe ich im Hausflur und warte auf Angelika. Es
ist ganz dunkel, als nicht sie, sondern ihre Mutter auftaucht. "Angelika
hat Scharlach", sagt sie, "sie kann leider keine Zeitungen austragen. Es
wird Wochen dauern, bis sie wieder ganz gesund ist."
Ich bitte Frau Schneider um die Tasche.
Weil ich alle Leute kenne, trage ich die Zeitungen allein aus. Frau
Schneider steckt mir eine Birne als Proviant zu.
Mein Vortrag nähert sich dem Ende. "Moses
erhält stellvertretend für das jüdische Volk die Gebote", höre ich mich
sagen.
Ich, ein kleines Mädchen mit großer Tasche stehe vor dem gelben
Sandsteinhaus des Pfarrers. Die schwere Holztür öffnet sich. Ich knickse,
denn der Herr Pfarrer steht vor mir.
"Angelika hat Scharlach. Ich komme, um für
sie die Zeitung auszutragen." Die riesige Hand des Pfarrers fährt durch
den schwarzen Lockenkranz. "Du gehörst aber nicht zu unserer Gemeinde,
oder bist du von der Kreuzkirchengemeinde?!"
"Ich bin jüdisch"
"Solange Angelika krank ist, wird ein
Ministrant die Zeitung austragen.
Und du, du gehst jetzt nach Hause!"
Mein Vortrag über den Kreislauf des
jüdischen Jahres ist beendet.
Meine Augen suchen den grauen Lockenkranz.

Leah Rauhut-Brungs
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