Leseprobe aus "ISHA":
Frau und Judentum -
Lilith
Lilith ist eine legendäre Figur;
ihren Ursprung hat sie wahrscheinlich in den beiden unterschiedlichen
Berichten der Genesis über die Schöpfung von Mann und Frau. Im ersten
werden Mann und Frau zugleich geschaffen (Gen. 2: 18-23). Die
geschichtskritische Bibelauslegung sieht dies als zwei Versionen, die im
Prozess des Zusammenschreibens der Bibel hintereinander in den Kanon
aufgenommen wurden. Für die Rabbinen des Talmud und des Midrasch handelt
es sich um ein und den selben Text, dessen Widersprüche aufzulösen sind,
weil das Gotteswort nicht widersprüchlich sein kann. So entstand die
Legende von Lilith. Die Frau
aus dem zweiten Schöpfungsbericht heißt Ischa ("Frau", weibliche Form von
Isch, "Mann"), und wird später vom Mann Eva genannt. Die Frau des ersten
Berichtes bleibt unbenannt. Den Rabbinen zufolge wird Adam, das androgyne
Menschenwesen, in zwei Teile aufgespalten- Sachar und Nekewa( männlich und
weiblich) – die sich in der Ehe wieder vereinigen. Doch diese erste Frau sei
verschwunden – sie ist Lilith (1). Lilith wird in der
Bibel nur ein einziges Mal erwähnt (2), aber sie
erscheint in anderen viel älteren Texten aus dem vorderen Orient, wie der
sumerischen Inanna (3). Ihr Charakter wird im
babylonischen Talmud, dem Alphabet des Ben Sira, dem Sohar und in
zahlreichen mittelalterlichen Legenden gezeichnet:
Als der Heilige, gelobt sei Er, den ersten
Adam als Einzelwesen schuf, sprach Gott: "Es ist nicht gut, dass Adam allein
sei (Gen. 2:18)." Gott schuf die Frau wie ihn aus einem Erdklumpen und
nannte sie Lilith. Sogleich fingen die beiden an miteinander zu streiten.
Sie sprach: "Ich lege mich nicht zuunterst." Und er sprach. "ich lege mich
nicht zuunterst sondern zuoberst, denn du bist dazu bestimmt unten zu sein
und ich obenauf." Sie sprach darauf: "Wir sind beide gleich, denn wir wurden
beide aus einem Erdklumpen geschaffen [...]" und sie vertrugen sich nicht.
Sie sann nach, dann sprach Lilith den heiligen Namen Gottes aus und flog in
die Weiten des Weltraumes davon. Adam verharrte vor seinem Gott im Gebet und
sprach: "Meister des Universums, die Frau, die Du mir geschickt hast hat
mich verlassen." Sofort sandte Gott ihr drei Engel nach, die sie
zurückbringen sollten. Gott sprach zu ihnen: "Will sie zurückkehren, so ist
es gut, wenn nicht, werden auf ihrem Haupt jeden Tag hundert Kinder sterben,
jeden Tag hundert Kinder." [...] Sie folgten ihr bis in die Tiefen des
Meeres, in das wogende Wasser in dem später die Ägypter umkommen würden. Sie
sagten ihr Gottes Worte, doch sie wollte nicht zurückkehren. Sie riefen aus:
"Wir werden dich im Meer ertränken." Sie antwortete ihnen: "Lasst mich in
Ruhe denn ich wurde dazu erschaffen, die Kinder krank zu machen. Wenn sie
vom Tage ihrer Geburt an acht Tage alt sind werde ich diese Macht über sie
haben, wenn es ein Junge ist, und wenn es ein Mädchen ist, vom Tage ihrer
Geburt an bis sie zwanzig Tage lebt" (4)
Die Schaffung Liliths wird mit der Frage nach
der Gleichheit zwischen Mann und Frau in Verbindung gebracht. Der Disput
zwischen Adam und Lilith geht wahrscheinlich um ihre jeweilige Stellung
während des Beischlafes. Keiner will unter den anderen zu liegen kommen, die
Diskussion wirkt geradezu komisch. Doch abgesehen vom Anlaß sind die
gewählten Argumente interessant: Der Mann sagt der Frau, sie sei für eine
unterlegene Position geschaffen; Lilith hingegen verteidigt die
Gleichberechtigung. An dieser Stelle
sei daran erinnert, was die Genesis über Eva sagt: "[...] nach deinem Manne
sei dein Verlangen und er beherrsche dich" (Gen. 3:16) – eine Situation die
der Autor für maßgebend hält (5). Lilith stellt in Frage,
was Eva umständehalber als gegeben hinnimmt. Lilith wagt es, den göttlichen
Namen auszusprechen (6) und entfliegt einem Dämon gleich.
Sie ist im Besitz eines Wissens, das Adam verschlossen bleibt. Sie flieht
und gewinnt ihre Freiheit; sie verweigert die Unterordnung unter ihren Mann
und zieht die Einsamkeit der Unterwerfung vor. Die Strafe Gottes droht in
der Form des Kindersterbens für das die Übeltäterin Lilith verantwortlich
gemacht wird. Sie ist Gegenbild von Eva der "Mutter allen Lebenden" (Gen.
3:20), wie Adam sie benennt. In ihrem Wunsch nach Gleichberechtigung lehnt
die Frau ipso facto ihre Rolle als Mutter ab. Sie gibt nicht Leben, sondern
den Tod. Sie steht im Gegensatz zu Eva, der von der Tradition unterdrückten
Frau, die allein in der Bibel erwähnt wird und die sich ihrer Unterwerfung
beugt. Lilith wird mit den Wassern,
in denen die Ägypter ertranken in Verbindung gebracht; ihr Schicksal wird
dadurch mit dem der Feinde Israels verknüpft. Doch die Wasser des
Schilfmeeres sind auch der Ort des Überganges von der ägyptischen Sklaverei
in die unsichere Freiheit in der Wüste. Lilith scheint schlussendlich den
auf ihr lastenden Fluch anzunehmen. Das für Mädchen und Jungen
unterschiedliche Alter, in dem ihnen die Todesgefahr droht, dient dem Autor
dazu die Ungleichheit zwischen Männern und Frauen zu betonen – die eben
Lilith in Frage stellen wollte. Lilith entgeht dem Herrschaftsanspruch des
Mannes, dessen Schwäche doch offensichtlich ist: er bittet Gott um Hilfe, er
soll ihm die Frau zurückbringen, die ihn verließ. Lilith hatte sich nicht
bei Gott über ihren Mann beschwert; sie nimmt die Dinge selbst in die Hand (7).
Weder der Mann, noch die drei Engel, noch Gott selbst können sie zur
Rückkehr bewegen. Doch diese scheinbar freie Wahl ist nur eine sarkastische
Parodie; denn am Ende kann sie ihrem Schicksal, dem Fluch durch den sie
Kinder krank werden lässt, nicht entgehen. Der oben zitierte Text fährt
folgendermaßen fort: "Als sie [die Engel] ihre Worte hörten, sammelten sie
sich und hielten sie fest bis sie beim Namen des lebendigen Gottes schwor,
dass sie keinem Kind ein Leid antun würde, das ihren [d.h. der Engel] Namen
oder Bild als Amulett trüge. Außerdem versprach sie, dass jeden Tag hundert
ihrer eigenen Kinder sterben würden, und deshalb sterben täglich hundert
Dämonen. Aus diesem Grund schreiben wir ihre Namen auf die Amulette der
kleinen Kinder, damit sie sich beim Anblick der Namen ihres Versprechens
erinnert und das Kind gedeiht." Die
Engel, Gesandte Gottes, schaffen es, den bösen Einfluss von Lilith zu
verringern. Der Text rechtfertigt den Gebrauch von Amuletten mit den Namen
der Engel, die von Kindern zum Schutz vor Lilith getragen wurden. Im Kampf
zwischen dem Dämon Lilith und den Engeln dient der Gottesname als Waffe.
Lilith erkennt die Macht des Gottesnamens und weicht vor ihm zurück. Der
Dämon hat nicht nur die Macht, Kinder zu töten sondern auch die, weitere
zerstörerische Dämonen hervorzubringen. Lilith verspricht den Tod eines
Teiles ihrer Nachkommenschaft und auch, Neugeborene mit Amuletten nicht
anzurühren, doch sie bleibt weiterhin voller Rachsucht. Ihrem Versprechen
bleibt sie dennoch treu. Vielleicht versuchte man durch diese Dämonengestalt
den häufigen Todesfällen im frühen Kindesalter eine Erklärung zu geben –
dabei wurden dem Aberglauben Tür und Tor geöffnet.
Die Geschichte von Lilith basiert auf
babylonischen Legenden um zwei Dämonen, einem männlichen und einem
weiblichen mit den Namen Lilu und Lilitu. Der antike Orient kannte Göttinnen
und Götter, männliche und weibliche Dämonen, deren Macht und Einfluß [auf
die Menschen] gleich war. Diese babylonischen Dämonen verletzten Männer und
befielen Frauen im Kindbett und deren Kinder. In Lilith hat die jüdische
Tradition ausschließlich die weiblichen Seiten des Dämonischen bewahrt (8).
Ein weiterer Aspekt von Lilith ist das
Verführerische: "R. Hanina sagte: Man darf nicht in einem Haus allein
schlafen, und wer allein schläft, wird von der Lilith überfallen" (Schab.
151b). Lilith greift einsame Männer an, die sich ihrer nicht erwehren
können. Sie erregt sie im Schlaf, also wenn sie verletzlich sind, und nimmt
ihren Samen, um an Stelle der seinen Dämonenkinder in die Welt zu setzen.
Mittelalterlichen Erzählungen, in denen männliche Phantasien ihre Blüten
treiben, titulieren Lilith als die "Versucherin". Lilith ist hier oft als
Extrembild der Frau gezeichnet, als Verderbtheit und Tod bringendes Wesen,
Inkarnation des Sexuellen, dem der schwache Mann nicht widerstehen kann. Das
Böse liegt im Anderen, in der Frau. Drei männliche Urängste sind in [diesem
Bild von Lilith] personifiziert: Angst vor der Unfruchtbarkeit, die Angst
vor der Einsamkeit (9), und die, ohne eine Zukunft durch
Nachkommen zu sterben. Aviva Cantor (10) vermutet, dass
die Legende von Lilith im [babylonischen] Exil entstanden sein könnte, zu
einer Zeit da die patriarchalische Gesellschaft, durch ein fremdes Umfeld
verunsichert, Selbstbestätigung nötig hatte. In einem Moment, da die
gesellschaftliche Ordnung in Frage gestellt wurde, sollte die häusliche
Ordnung stabilisiert werden. Die Frau musste in ihrer Macht beschnitten und
auf ihre Aufgaben verwiesen werden: für den Unterhalt des Mannes zu sorgen,
ihm wie Eva als Helferin zur Seite zu stehen, ihn nicht zu verlassen, für
Nachkommenschaft zu sorgen und ihn in seiner Position zu stützen. Es ließe
sich auch die Hypothese aufstellen, erst eine Diskussion unter Frauen über
ihre Position in der Gesellschaft habe zu einer Neudefinition dieser Rolle
durch die Männer geführt. Im 20.
Jahrhundert wurde Lilith von Frauen rehabilitiert. Neue Midraschim über sie
und über ihre Gespräche mit Eva wurden verfasst; in den Vereinigten Staaten
trägt eine jüdisch-feministische Zeitschrift den Namen Lilith (11).
Durch das Ausblenden ihres dämonischen Aspektes konnte wieder ins
Bewusstsein treten, dass sie für die Gleichheit der Geschlechter eingetreten
war. So wurde sie zum Symbol für die Schöpfung im sinne des ersten Berichtes
der Genesis: "Gott schuf den Menschen in seinem Bilde, im Bilde Gottes schuf
Er ihn, Mann und Frau schuf er sie." (Gen. 1:27).
(1) Sie wird auch in einem
Midrasch über den Streit zwischen Kain und Abel erwähnt. "Die erste Eva"
wäre nach dem Midrasch Grund der Auseinandersetzung zwischen den Brüdern
gewesen und hätte deshalb Abels Tod verursacht. (Gen. R. 22:7).
(2) "Und Steppentiere treffen dort mit Hyänen zusammen,
und ein Waldbock ladet den anderen, nur dort rastet Lilith und findet eine
Ruhestatt" (Jes. 34:14).
(3) 2000(?) vor unserer Zeit.
(4) Alphabet von Ben Sira 22a-23b und 33a-b, Otzare
Midraschim. Dies Werk stammt aus der Zeit der Geonim, noch vor dem Jahr 1000
unserer Zeit.
(5) Dies ist eine der Strafen, die nur die Frau wegen
ihres Ungehorsams Gott gegenüber treffen, sie wird auch bei der Schöpfung
nicht erwähnt. Der Mann wird auch bestraft, doch seine Strafe steht nicht in
Verbindung zur Frau und wird nicht als untergeordnete Stellung definiert.
Man könnte sich auch vorstellen, dass Gott zu Adam sagt: "nach deiner Frau
sei dein Verlangen...". Benno Jacob (1862-1945) ist der Auffassung, dass die
Bestrafung des Mannes auf die Lebenszeit Adams begrenzt ist; die Geburt Noas
(dessen Name "Trost" bedeutet) habe das Ende des Fluches gebracht. Man
könnte sich für die Bestrafung Evas eine vergleichbare Argumentation
vorstellen. Jonathan Magonet gibt zu bedenken, dass die zwei Versionen des
Schöpfungsberichtes als zwei mögliche Optionen gesehen werden können. Die
Version der Herrschaft des Mannes über die Frau sei ein Beleg für eine
Fehlentwicklung der menschlichen Beziehungen, deren Veränderung aber
durchaus möglich ist.
(6) Der Tradition nach darf der Name Gottes nicht
ausgesprochen werden. Viele rabbinische Texte schreiben ihm magische Kraft
zu. Doch auch jenseits allen Aberglaubens bleibt Gott im Bereich des
Unfaßbaren.
(7) Siehe: Aviva Cantor, "The Lilith Question", in:
Susannah Heschel, On being a Jewish Feminist.
(8) Siehe: Barbara Borts, "Lilith", in: Hear our Voice
(coll.), S. 98-109.
(9) Denn sie tötet die Schwangeren und die Frauen im
Wochenbett.
(10) In: Hear our Voice (coll.).
(11) Lilith Publications, 250W 57th Street, Suite 2432,
New York, NY 10107.
hagalil.com 17-03-03
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