Leah
Rauhut-Brungs:
Linkshändige Jüdinnen
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Aus Mitteleuropa:
Jüdische Geschichten |
Hunger
Dina hat sich mit ihrer Mutter auf
einen Kaffee verabredet. Mutter und Tochter treffen sich regelmäßig im
Bistro. Dina ist immer noch erstaunt, daß die Mutter sich nach Vaters
plötzlichem Tod vor drei Jahren so stark verändert hat. Nicht so, wie sie
und ihr Bruder befürchtet hatten. Kein Häufchen Elend war aus ihr geworden,
im Gegenteil. Das Fachgeschäft für Hüte und Schirme blühte und bot eine
sichere Existenz. Während Lotte sich zu Lebzeiten ihres Mannes geweigert
hatte, sich um das Geschäft zu kümmern, war es jetzt zum Mittelpunkt ihres
Witwenlebens geworden.
Dina wußte, ohne den Blick zu heben, daß
ihre Mutter eben das Lokal betreten hatte. Die festen Schritte einer Frau,
die im Heute steht und von ihrer Vergangenheit nichts mehr wissen will.
Ihren Geburtsort Dessau und das Lager Theresienstadt hat sie ausgelöscht.
Um so willkommener ist ihr die Schweiz, das Land, dessen Paß sie immer mit
sich trägt, weil er ihr Sicherheit und Schutz gewährt. Kein Wort mehr über
die Vergangenheit, kein Gespräch darüber mit ihren Kindern.
Die Unterhaltung im Bistro dreht sich um
Dinas geplante Reise nach Mexiko, um die dafür notwendigen Impfungen und
die günstigste Reisezeit. Während sie erzählt, spielt ihre Mutter
gedankenverloren, wie immer, mit ihrem roten Schweizer Paß. Täglich muß
sie sich davon überzeugen, daß sie ihn auch wirklich besitzt.
Die Mittagszeit ist um. Lotte steht auf und
verabschiedet sich von Dina, denn sie hält es mit der Zeit genau. Ihre
lebendige Art wirkt sich entsprechend auf ihre Mitarbeiterinnen aus. Auf
dem Weg zum Geschäft geht sie noch beim Bäcker vorbei. Der Duft des
frischen Brotes zieht sie magisch an. Schon am Morgen gilt ihr erster
Besuch dem Bäcker. Die große Auswahl macht es ihr oft schwer, sich zu
entscheiden, sie fühlt sich aber in der Wärme des Ladens geborgen. Auch
heute kehrt sie wieder mit einer Tüte voll frischer Mittagsbrötchen zu
ihren Hüten und Schirmen zurück.
Der Tod des Mannes hat Lottes Leben
verändert. Die Tochter hegt den Verdacht, daß die Wesensart ihrer Mutter
vom Vater zugedeckt worden war, aber Lotte läßt sich auf solche
Diskussionen nicht ein. das Geschäft muß weitergehen. Theaterbesuche,
warum denn nicht? Jakob hatte von Theater, Konzerten und Opern keine hohe
Meinung. Das lange Stillsitzen unter Menschen war nicht seine Sache.
Mit Frau Adler, einer Bekannten aus
früherer Zeit, nimmt Lotte am reichen Kulturleben teil. Jedes Ausgehen
endet mit einem Mitternachtsschoppen im Restaurant. Lotte geht danach nie
direkt nach Hause, immer führt ihr Weg noch in die Bahnhofsbäckerei, wo
sie sich ein Brötchen kauft. Erst dann, die Brottüte fest im Arm, tritt
sie den nächtlichen Heimweg an.
Am folgenden Tag ereignet sich ein Unglück:
Lotte stürzt im Geschäft. Der Krankenwagen bringt sie ins Spital. Lotte
hatte Glück im Unglück, denn der Arzt stellt nur einen Schienbeinbruch
ohne Komplikationen fest. Dina wird benachrichtigt. Im Spital findet sie
ihre Mutter schon eingegipst vor. Die Tochter verspricht, sofort in ihre
Wohnung zu fahren, um die notwendigsten Sachen für den Aufenthalt zu
holen.
Sie findet das Gewünschte mühelos. Aber wo
steckt bloß Mutters Reisetasche?
Dina öffnet im Flur den alten Schrank. Sie glaubt, nicht richtig zu
sehen.
Hunderte von Brötchen und Broten,
säuberlich in Tagesrationen geschnitten,
füllen sämtliche Regale.

Leah Rauhut-Brungs
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