Leah Rauhut-Brungs:
Linkshändige Jüdinnen
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Aus Mitteleuropa:
Jüdische Geschichten |
Der Leierkasten
Bern im Winter. Eine kleine, gepflegte Frau verläßt ihre
viel zu große Wohnung an der Gutenbergstraße. Im Hirschgraben trifft sie
sich mit Bekannten der Ilan-Stiftung, die zum Ziel hat, jungen Behinderten
in Israel zu helfen. Im Winter hat die rüstige, sechsundsiebzigjährige Frau
viel Zeit zum Helfen.
Wenn sie durch die Straßen der kleinen Stadt geht, ist sie keine
Fremde. Fast ein Menschenleben hat sie hier verbracht. Sie spricht
Berndeutsch, aber Kenner hören den deutschen Akzent heraus. Jahrelang hat
sie am Dienstagabend in der Universität den Berndeutschkurs besucht, aber
ganz verliert sich die Sprache der Kindheit nicht. Als junger Frau wäre
ihr das weltgewandtere Zürichdeutsch lieber gewesen. Heute ist sie froh,
in einer überschaubaren Welt zu leben.
Ungeduldig wartet sie auf das Ende des Winters. Sie braucht den
Frühling, braucht den Sommer. Täglich sitzt sie im Café an der
Spitalgasse, einem Ort, der ihr das Warten verkürzt. Wenn die Schiffe auf
dem Thunersee von Ostern an wieder regelmäßig verkehren, zieht es die
kleine Frau hinaus. Jeden Tag steigt sie in den Zug nach Spiez, eine
elegante Dame im maßgeschneiderten Kleid.
Beim Einsteigen ist sie freilich auf die Hilfe anderer Fahrgäste
angewiesen, nicht weil sie körperlich behindert wäre. In ihrem Gepäck
befindet sich ein Leierkasten aus abgenutztem, braunem Holz, groß wie ein
Kinderwagen, von einem Baumwolltuch sorgfältig zugedeckt. Sie hat ihn vor
Jahren im Flohmarkt in der alten Reithalle für knappe tausend Franken
erstanden. Das Repertoire ist allerdings bescheiden: "Berliner Luft",
"Nordseewellen", "An der schönen, blauen Donau", sowie das unvermeidliche
"Hofbräuhaus".
Vom Bahnhof Spiez geht die alte Dame zum See hinunter und wählt
das Schiff nach Interlaken. Mit ihrem Leierkasten stellt sie sich an die
Reling, deckt ihn ab und faltet das Tuch sorgfältig zusammen. Dann beginnt
sie zu spielen. Alle Passagiere, Schweizer und auswärtige Touristen, sind
begeistert. Mit verhaltenem Lächeln nimmt sie den vielfältigen Dank
entgegen, aber niemand würde es wagen, ihr Geld anzubieten. Sie spielt zur
Freude müder Wanderer und lärmender Schulklassen, nicht wenige sind durch
ihr Auftreten verunsichert.
In Interlaken verläßt sie mit ihrem Leierkasten für eine Stunde
das Schiff. Nach einem Kaffee, wenn der Ausflugsdampfer ablegt, ist sie
pünktlich wieder zur Stelle. In Spiez bleibt die Dame auf dem Schiff. Sie
spielt unentwegt, während das Boot an den Ortschaften am Thunersee anhält
und Fahrgäste aus- und einsteigen läßt. Kurz vor Thun deckt sie den
Leierkasten zu. Wieder finden sich freundliche Menschen, die ihn ihr in
den Zug tragen helfen.
Durch das frühabendliche Bern schiebt sie ihn bis zur Wohnung an
der Gutenbergstraße. Oftmals geht sie noch in einer Apotheke vorbei, um
sich ein Schlafmittel zu holen.
Ihre Sommerabende sind kurz, denn bis in den späten Herbst hinein
unternimmt sie ihre tägliche Fahrt. Ihre Nachbarn und Bekannten zeigen
sich ihren Ausflügen gegenüber außergewöhnlich tolerant. "Das macht das
Alter", sagen sie. "Jeder pflegt seine Verrücktheiten."
Die alte Dame liegt im Bett, hat die Augen geschlossen, summt
leise das Lied vom Leierkastenmann. Dabei geht sie auf Reisen der
Erinnerung.
Berlin 1937.
Eine junge Frau verläßt die Wohnung ihrer Eltern an der Kantstraße 75 mit
einem kleinen Koffer und der schwarzen Aktentasche des Vaters in der Hand.
Die Fahrkarte in die Emigration wiegt schwer.
Ein letzter Blick zurück auf die Wohnung der Eltern.
Vor dem Haus spielt der Leierkastenmann.

Leah Rauhut-Brungs
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