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Die Synagoge
Will man wissen,
was die Synagoge, das jüdische G'tteshaus, ist, darf man sie nicht mit
der allgemeinen Vorstellung vergleichen, die man von einem G'tteshaus
aus der näheren Umgebung hat. Zuerst müsste man das Bild der Kirche
völlig aus den Gedanken verbannen. Denn allein ihr Name beinhaltet etwas
ganz anderes: Das griechische Wort "Synagoge" gibt denn auch sinngemäß
den hebräischen Ausdruck Beth haKneseth wie der, was "Haus der
Versammlung", "der Zusammenkunft" bedeutet. Und dieser Begriff bringt
genau das zum Ausdruck, was sie ist. Aber im jüdischen Volksmund hat sie
eine andere, viel treffendere Bezeichnung.
Im Laufe der vielen
Jahrhunderte, als die große Mehrheit der Juden in deutschsprechenden und
slawischen Ländern unterdrückt und immer wieder vertrieben lebte, als
sie aus der allgemeinen Gesellschaft gestoßen wurde und man sie zwang,
abgesondert in eigenen Gegenden und Stadtvierteln zu wohnen, schuf sie
sich allmählich eine eigene Umgangssprache. Von allen europäischen
Sprachen beherrschten die meisten Juden am besten das
Mittelhochdeutsche. Als sich dann in Osteuropa, wo man slawische
Sprachen sprach, jüdische Zentren bildeten, die zunehmend mehr Juden
anzogen, die den Schwierigkeiten entflohen, hielten sie an ihrer
Sprache, dem Mittelhochdeutschen, fest. Sie brachten sie mit sich mit,
bereicherten sie mit Ausdrücken aus der Sprache ihrer neuen Heimat.
Daneben gebrauchten sie auch hebräische Wendungen aus der Bibel,
aramäische aus der Talmudliteratur und neuhebräische aus den
rabbinischen Schriften, und auch sie wurden in ihre tägliche
Umgangsprache eingegliedert. Auf diese Weise wurde das Jiddische
geboren, die Sprache, in der sich die Juden am heimischsten fühlten. Im
Verlauf vieler Jahrhunderte und inmitten der verschiedensten
Landessprachen wurde das Jiddische die Sprache der Juden, an sie
gewöhnten sie sich wie die Menschen in der Provinz oder der Dorfbewohner
an seine Mundart. Und nur in ihr kann man sich voll verständigen, kommt
sich wirklich nahe, spricht die Seele zur Seele. Das ist die eigentliche
Volkssprache. Und in dieser Volkssprache heißt die Synagoge Schul,
d. h. die Schule. Damit ist schon viel gesagt, aber noch nicht alles.
Wo war die Synagoge am
lebendigsten?
Wo lag sie am häufigsten in den Zentren mit einer großen jüdischen
Bevölkerung?
Der Puls des Judentums
schlägt am lebendigsten dort, wo "gelernt" wird. Hat sich an einem Ort
eine Gruppe von Juden niedergelassen, kommen sie schon bald zusammen, um
gemeinsam zu lernen. Sie kaufen Bücher, treffen am Sabbat und am
Feierabend nach der Arbeit zusammen und setzen sich unter dem Vorsitz
desjenigen an einen Tisch, der sich berufen fühlt, sie zu leiten, oder
den sie als dafür geeignet betrachten, und sie fangen an zu lernen. Und
je nach dem Umfang ihrer Vorbildung im Bereich des Judentums studieren
die Teilnehmer die fünf Bücher Moses mit dem allgemein beliebten
Raschi-Kommentar ; den
Schulchan Aruch mit
seinen genauen Anweisungen zum täglichen Leben oder eine seiner
"Kurzfassungen", von denen es mehrere gibt, auch solche, die gar nicht
so kurz sind; die Bibel allgemein, mit oder ohne Kommentaren; die
Mischna, die den Kern des Talmud bildet, aber ohne die
Erläuterungen und Diskussionen, die schon von besonderen Kommentatoren
gesammelt, stark zusammengefasst und niedergeschrieben wurden, oder auch
den Talmud selbst. Den jedoch im allgemeinen weniger häufig, weil
es zumindest in den Ländern des Westens dafür kaum die Instruktoren mit
dem nötigen Fachwissen gibt, genauso wenig wie die dafür vorgebildeten
Zuhörer.
Das Zimmer, in dem
gelernt wird, ist der Ort der Zusammenkunft. Es ist das Beth
Hamidrasch, d. h. das allen zugängliche Unterrichtszimmer. Fast alle
wichtigen jüdischen Zentren, praktisch jede jüdische Gemeinde besitzt
mehrere solcher Unterrichtszimmer, die immer, Tag und Nacht, offen
stehen. Und praktisch halten sich denn auch immer Besucher in ihm auf,
entweder sitzen sie in kleinen Gruppen zusammen, oder es sind
Einzelgänger.
Und gleich wird auch
der Unterrichtssaal zum Gebetshaus. Die Zusammenkünfte, bei denen der
Geist Nahrung erhält, werden so geregelt, dass sie mit den für den
G'ttesdienst bestimmten Zeiten zusammenfallen. Und der G'ttesdienst
findet direkt im Unterrichtssaal statt. Was allerdings nicht bedeuten
soll, dass der G'ttesdienst blosse Zugabe wird. Im Gegenteil, dadurch
wird er erhoben. Seit jeher erfreute sich das Unterrichtszimmer bei den
Juden einer größeren Wertschätzung und war wichtiger für das Judentum
als das Gebetshaus. Wer sich dem Studium widmet, hat viele andere
religiöse Pflichten damit aufgewogen. Denn schon immer wussten die
Juden, dass Wissen auch Macht und Stärke ist. Ja, das Wesen selbst des
Judentums basiert auf dem Studium, auf der Wissenschaft des Judentums.
Wer sich in diese Kultur einlebt, wer sie sich aneignet, der stützt
sich auf sie und überliefert sie auch. Das gilt immer und überall,
insbesondere jedoch zu solchen Zeiten und unter solchen Umständen, in
denen die Juden von anderen, mächtigen Kulturen umgeben sind und
unzählige, vielfache und fremde Strömungen in sich aufnehmen.
So wurde aus dem
Unterrichtszimmer auch die Synagoge, die gleich bedeutend wurde mit dem
Unterrichtssaal. Und deshalb wurde sie im Volksmund als Schul, d.
h. Schule, bezeichnet. Diesen Namen hat sie dann auch beibehalten,
selbst wenn sie in den meisten Fällen schon längst nicht mehr die weiter
oben ausgeführte Aufgabe erfüllt und keine Schul mehr ist.
DAS JÜDISCHE GEBET -
SPRACHE UND FORM
Die Synagoge wird auch
als Beth Tefilla
d. h. Gebetshaus, bezeichnet. Trotzdem ist Beten im allgemein akzeptierten
Sinn nicht das typische Merkmal für den G'ttesdienst in der Synagoge.
Man betrachte zum Beispiel ein Gebetbuch oder Sidur. Es ist auf
hebräisch. Es gibt Ausgaben mit einer deutschen Übersetzung neben dem
Originaltext. Die Ge bete werden jedoch auf hebräisch gesprochen,
insbesondere, wenn es Gebete für die ganze Gemeinde sind. Die Gebete
dürfen nur dann in der Landessprache gesagt werden, wenn der Betende
allein ist, wenn sonst niemand von der Gemeinde anwesend oder er selbst
nicht der Hebräischen Sprache mächtig ist. Damit soll keineswegs
vorgegeben werden, dass jeder Jude und jede Jüdin Hebräisch kann; ganz
im Gegenteil. Ich befürchte, dass das nur für eine Minderheit gilt. Aber
selbst wer einen hebräischen Text übersetzen kann,muss sich noch lange
nicht in den Geist der Sprache versetzt haben, Und viele, die zwar mit
der hebräischen Gedankenwelt vertraut sind, sind in dieser Sprache
jedoch weniger zu Hause als in der, die sie im täglichen Leben
gebrauchen. Trotz dem wurde zu einem bestimmten Zeitpunkt beschlossen,
dass alle G'ttesdienste auf hebräisch gehalten werden. Sollte das etwa
bedeuten, dass damit weniger ein religiöser als vielmehr ein
pädagogischer und national-jüdischer Zweck verfolgt wurde? Der Religion
wäre wahrscheinlich besser mit dem Gebrauch der Umgangssprache gedient.
Ich sage "wäre", denn sofort werden einige das Argument vor bringen,
keine andere Sprache könne die kraftvolle, intensiv warme, andächtige
Ausdruckskraft der Originalsprache der Bibel wiedergeben. Zumindest
sollte man eingestehen, dass diese Wärme und das "Gefühl" für die
Sprache wesentliche Faktoren sind.
Allerdings gibt es
dafür noch einen weiteren Grund. Das Gebet auf hebräisch hat auch einen
lebenswichtigen Beitrag in ganz anderer Hin sicht geleistet. Indem wir
eine Sprache bewahren, bewahren wir auch die Seele ihres Volkes - und
seine Einheit. Der Gebrauch des Hebräischen als die Sprache aller wirkt
wie ein mächtiges Bindemittel. Hebräisch schützt und bewahrt die
jüdische Solidarität. Ebenso kündet und zeugt es von Israels
Zusammenhalt im Exil. Wäre Hebräisch als die Sprache des Gebets
verschwunden, hätten sich die Synagogen in den Ländern der Zerstreuung
voneinander entfernt, damit hätte ein unaufhaltsamer
Assimilationsprozess eingesetzt. Dank des Hebräischen konnte die
Synagoge auch in dieser Hinsicht ihre Stellung als "Schule" der Juden
wahren, als ihr Urquell und deshalb auch als ihr Bollwerk.
Wer den Sidur
durchblättert und einige Seiten liest, wird bald fest Stellen, dass nur
wenige Passagen als Gebete im herkömmlichen Sinn von "Bittgebet.
bezeichnet werden können. Zum grössten Teil besteht der Inhalt aus
Psaltern, wörtlich aus den 150 Psaltern der Bibel zitiert; weiterhin aus
Passagen aus den fünf Büchern Mose; besonders verfassen Hymnen, viele
von ihnen so alt, dass sich ihr Ursprung im Dunkel der Geschichte
verliert, sowie historischen Diskursen und liturgischen Meditationen.
Wirkliche Gebete bilden den geringsten Teil des Textes, der sonst
hauptsächlich Lob und Huldigung und Dank an den König der Könige zum
Inhalt hat, weiterhin Überlegungen über die Herrlichkeit des Schöpfers
und seiner Werke; Betrachtungen über die eigene Schwäche und die
moralische Schwäche und Sündhaftigkeit des sterblichen Menschen im
allgemeinen und schliesslich Versicherungen der ewigen Liebe für unseren
himmlischen Vater.
Alles - oder praktisch
fast alles - ist im Plural geschrieben. Und die wenigen Gesuche oder
Bittgebete, die man findet, wurden allem An schein nach auch in der
Mehrzahl verfasst: von der Gemeinde, zum Wohl der Gemeinde. Das gilt
auch für die vorgeschriebenen Gebete. Private Bittgebete d. h.
vorgeschriebene Gebete in der Einzahl für den einzelnen Menschen - gibt
es nur sehr wenige. Eine Ausnahme ist das Gebet vor dem Schlafengehen.
Aber selbst hier sind nur die ersten ein leitenden Sätze für den allein
Betenden bestimmt. Selbstverständlich wird dieses Gebet nie vor anderen
gesagt. Es ist ausschliesslich für die Abgeschlossenheit unseres
Schlafzimmers bestimmt, für die letzten Augenblicke des stillen
Zwiegesprächs mit G'tt. Denn schon beim Tisch gebet nach dem Essen wird
automatisch vorausgesetzt, dass der Betende zusammen mit anderen G'tt
für die erhaltene Mahlzeit dankt. Alle kollektiven Bedürfnisse werden in
gemeinschaftlichen Begriffen und in der alten Sprache der Gemeinde zum
Ausdruck gebracht. Für die privaten Bittgebete ist keine besondere Form
vorgeschrieben. Hier bringt oder stammelt jeder sein eigenes Anliegen in
der Form vor, wie es ihm über die Lippen kommt. Aber nicht einmal Worte
sind notwendig: auch ein Gedanke reicht schon und manchmal ist ein
Seufzer beredter als Tausende von Worten.
Wer trotzdem in einem
jüdischen Gebetbuch mehrere persönliche Gebete findet, dann zweifelsohne
getrennt in einem Kapitel am Ende. Sie sind jüngeren Datums und nicht
auf hebräisch, und sie kamen hinzu, "um eine lang empfundene Lücke zu
füllen ..."
Wozu dienen nun diese
im Singsang vorgetragenen Psalter, Hymnen, Bibelpassagen, Benediktionen,
dringenden Gesuche und Ermahnungen, die alle von anderen verfasst
wurden? Sie sollen Gedanken und Erinnerungen neu beleben, die
verschüttet oder sogar gestorben sind, und sie erneut auf all die
Vorstellungen und Eindrücke lenken, die vergessen sind oder sogar
auszulöschen drohten. Sie sollen unser religiöses Bewusstsein neu wecken
und ein Empfinden für unsere innere Geistigkeit zurück ins Leben rufen.
Es ist eine Übung: eine Übung in Selbstdisziplin, der eigenen
Erbaulichkeit, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Darüber hinaus
soll auch das Band, der Anschluss zu G'tt, wiederhergestellt werden.
In diesem Sinn hat der
regelmässige Gemeindegottesdienst den Opferdienst und den damit
verbundenen Kult mit seinen Taten und Worten ersetzt. In der Antike
hatten die Opfer im Grunde genommen die gleiche Bedeutung. Die Wurzel
des hebräischen Wortes
Korban ist "sieh nähern", d. h. das Opfer sollte die Verbindung
herstellen, In der (lateinischen) Kirche hat das Wort Opfer eine völlig
andere Bedeutung: dort bedeutet es eine Gabe, ein Geschenk, um (wieder)
die Gunst G'ttes zu gewinnen. Es wäre somit falsch, das hebräische
Korban mit "Opfer" zu übersetzen.
Wenn man den
Gemeindegottesdienst, das gemeinsame Vortragen der vorgeschriebenen
Liturgie, in diesem Licht betrachtet und abhält, wird er ein äusserst
religiöser Akt, eine Übung, religiös zu sein. Deshalb ist die
Synagoge allgemein -und durchaus treffend - mit dem mittel hochdeutschen
(und jiddischen) Wort "Schul" bezeichnet worden.
Wer eine Synagoge mit
den üblichen Vorstellungen betritt, die er von einer Kirche hat, wird
eigenartig fremd berührt sein vom Aussehen der Synagoge innen und ihrer
Einrichtung.
Hier soll noch eine
Anmerkung vorausgeschickt werden: Wenn von der Synagoge die Rede ist,
ist damit die alte, die traditionelle Synagoge gemeint, die sich bis zum
heutigen Tag erhalten hat. Nicht gemeint damit ist die Synagoge, die der
protestantischen Kirche nachempfunden ist und zu Beginn des 19.
Jahrhunderts in Deutschland erstmals gebaut wurde. Das ist keine
Synagoge mehr, sondern der Tempel des Reformjudentums, das dieses
Gebäude denn auch vorwiegend Tempel und nicht mehr Synagoge nennt.
DAS INNERE DER
SYNAGOGE
Betritt man eine
Synagoge, fällt einem sofort auf, dass sie in zwei Teile geteilt ist:
einen für die Männer und der zweite für die Frauen. Die Frauenabteilung
befindet sich meistens auf einer Galerie oder einem Balkon, oder sie
schliesst sich unmittelbar dem Raum für die Männer an, und zwar
ebenerdig oder erhöht oder auch zu beiden Seiten rechts und links. Das
ist jedoch kaum wesentlich und hängt ganz vom Bauentwurf und dem zur
Verfügung stehenden Raum ab. Wie dem auch sei, auf jeden Fall sitzen
Männer und Frauen getrennt. Daraus hat man den Schluss gezogen, im
Judentum sei die Frau minderwertig, und aus diesem Grund sitze sie in
eine Ecke oder auf einen Balkon verbannt. Aber diese Schlussfolgerung
ist falsch. Im Gegenteil, die getrennte Sitzanordnung in der Synagoge
basiert auf einer ganz anderen Idee als der der Unterlegenheit der Frau.
Nebenbei bemerkt gibt es kaum eine andere Gesellschaft, in der die Frau
so in Ehren gehalten wird wie in der jüdischen. Denn sie ist die Herrin
des HAUSES, oder knapp und treffend, wie der Talmud es sagt: Die Frau -
sie ist das HAUS! Und absichtlich steht hier Haus mit Grossbuchstaben.
Leider ist es in unserer Zeit ja so, dass das Heim aufgrund der sozialen
Verhältnisse oder auch Missverhältnisse häufig nicht mehr den Kern der
Gesellschaft bildet. Bei den Juden ist es jedoch immer noch so, und sie
möchten es auch so in der Zukunft sehen. Die Frau ist also voll
verantwortlich für das Heim. Und dort befindet sich auch der eigentliche
Mittelpunkt des religiösen Lebens. Von dort müssen Wärme und
Begeisterung ausstrahlen. Denn das religiöse Leben zu Hause beschränkt
sich nicht nur auf Gebet, Lesen der Bibel und das sorgfältige Einhalten
aller rituellen Vorschriften, die zusammen dazu bestimmt sind, den Herrn
zu Hause zu ehren. Wichtig ist auch die Ergebenheit im Haus, die in ihm
vorherrschende religiöse Stimmung. Aus diesem Grund ist auch die Mutter
voll verantwortlich für die religiöse Erziehung der Kinder, selbst wenn
sie persönlich keinen Anteil an Gebet und G'ttesdienst hat Deshalb ist
ihr ganzes Leben ein einziger anhaltender Dienst an G'tt, der jeden
G'ttesdienst auf wiegt. Und wenn man das eine ganz bewältigen will,
bleibt kaum noch Kraft Für das andere. Wenn die Frau also voll ihre
Aufgabe als Gattin und Mutter erfüllt, ist sie von der Verpflichtung
befreit, auch noch andere Aufgaben während des G'ttesdienstes zu
erfüllen. Deshalb beteiligt sie sich nicht im gleichen Umfang am
öffentlichen Gemeindegottes dienst wie die Männer, der - davon soll noch
später ausführlich die Rede sein - erst durch die aktive Teilnahme aller
Anwesenden diesen Namen verdient. Die aktive Teilnahme ist also Aufgabe
der Männer, während die eigentliche Aufgabe der Frau auf einem anderen
Gebiet liegt. Aus diesem Grund schreibt ihr die religiöse Pflicht nicht
einmal den Synagogenbesuch vor - jedenfalls nicht dann, wenn sie
seinetwegen eine ihrer häuslichen Pflichten vernachlässigen müsste.
Allein schon diese Tatsache, dass sie sich nicht aktiv am G'ttesdienst
beteiligt, dass ihr nicht die gleichen Pflichten wie dem Mann auferlegt
werden, rechtfertigt die getrennte Sitzordnung. Darüber hinaus war man
der Ansicht, dass notwendiger Ernst im G'ttesdienst und die ihm
gebührende Aufmerksamkeit gestört werden, wenn Männer und Frauen im
gleichen Raum zusammensitzen. Mit der Frage, die uns weiter oben
beschäftigte- ob die Frau im Judentum nun als minderwertig gilt oder
nicht -, hat das überhaupt nichts zu tun. Wenn jedoch jemand in dieser
Hinsicht misstrauisch ist und deshalb auch die Trennung anordnet, dann
sind die Männer davon nicht weniger betroffen als die Frauen. Auf keinen
Fall kann daraus die Schlussfolgerung gezogen werden, dass die Frau im
Judentum eine niedrigere Stellung als der Mann einnimmt.
Mitten in der Synagoge
erhebt sich ein Podest. Das ist die Bima, d. h. die Erhöhung.
Gelegentlich wird sie auch als Almemmor bezeichnet, was auf
arabisch das gleiche bedeutet. Von diesem Podium aus wird die Torah, die
an die Menschen gerichtete Lehre, vorgelesen. Und diese Vorlesung ist
der wesentliche Mittelpunkt jedes G'ttesdienstes, zumindest jedes
Hauptgottesdienstes. Sie ist der Grund dafür, warum überhaupt ein
G'ttesdienst abgehalten wird, und deshalb findet er auch stets in
Anwesenheit einer Gruppe statt, wovon noch später die Rede sein soll.
Die Torah ist jedoch
kein Buch, sondern eine
Gesetzesrolle, aus der vorgelesen wird. Jede Synagoge besitzt im
allgemeinen mehrere solcher Schriftrollen. Sie sind der am meisten
geschätzte Besitz der Gemeinde. Und in der Synagoge wird ihnen sogar ein
eigener Platz zugewiesen: die Bundeslade, wie sie in der
Vergangenheit hiess, heute der Torahschrein. Er liegt stets an
der Ostwand des Gebetshauses. Für ihn wurde in die Wand eine Nische
gebaut oder ein Schrank vor die Wand gestellt, und es kann auch ein
Schrank in einer Nische sein. Gemäss seiner heiligen Aufgabe als Hüter
der Torahrollen ist der Torahschrein entsprechend eingerichtet und
geschmückt. Die Juden in Deutschland hängen einen Vorhang vor den
Eingang.
Die Bezeichnungen für
Bundeslade und Vorhang - Aron Hakodesch und Parochet -
gehen noch auf die Lade zurück, in der die steinernen Gesetzestafeln
erst in der
Stiftshütte und dann in Salamos Tempellagen. Damals stand
die Bundeslade im Allerheiligsten, das ein Vorhang vom
Heiligen trennte. Im zweiten Tempel, den Esra baute und der später
Herodes' Tempel hiess, gab es keine Gesetzestafeln mehr.
Vor dem Torahschrein
befindet sich der
Amud, das Bet- oder Lese pult. Hier steht der Vorleser oder Kantor,
der Chasan, der den G'ttes dienst leitet. Auch auf der Bima,
könnte er aus der Torah vorlesen, er muss es aber nicht. Das kann ein
anderer auf sich nehmen, und dieser andere wird dann nicht mehr
Chasan, sondern Koreh, d. h. Vorleser, genannt.
Um die Bima,
herum stehen Bänke für die Synagogenbesucher. Für die Synagogenvorsteher
wird meistens eine Bank ganz in der Nähe der Bima bereitgestellt.
Aber es ist keine Pflicht, keine Vorschrift. Häufig stehen alle Bänke an
der hinteren Wand und blicken nach Osten, ebenso oft stehen sie zur
Mitte, zur Bima, hin angeordnet. Das alles ist jedoch ziemlich
nebensächlich. Neben dem Platz für die Sitzbänke gibt es ausser dem
Lesepult meistens auch noch einen Schrank, in dem die für den G'ttes
dienst benötigten Bücher und Ritualgegenstände aufbewahrt werden.
DIE TORAHVORLESUNG
ANMERKUNGEN ZUM
KALENDER
Innerhalb eines Jahres
werden alle fünf Bücher Mose in einem vorgeschriebenen Zyklus
vorgelesen. Jedes Jahr wird von vorne angefangen. Für jeden Schabbat
eine Passage, einen Wochenabschnitt. Demzufolge werden die fünf Bücher
Mose in genau so viele Abschnitte eingeteilt, wie es im Jahr
Schabbattage gibt. Aber nicht immer ist es die gleiche Anzahl.
Denn der jüdische
Kalender richtet sich nach dem Mond. Jedes Jahr besteht aus Monden, d.
h. Monaten. Ein Monat ist die Zeit, die der Mond benötigt, um seinen
Umlauf um die Erde zu vollziehen, nämlich fast neunundzwanzigeinhalb
Tage. Selbstverständlich kann ein Monat nicht in der Mitte eines Tages
beginnen. Aus diesem Grund hat ein Monat 29 Tage und der nächste 30. In
der Regel hat ein Jahr 12 solcher Monate oder 354 Tage. Deshalb ist es
durchschnittlich 11 Tage kürzer als das gewöhnliche Kalenderjahr, das
sich nach der Sonne richtet. Und selbstverständlich muss auch der
jüdische Kalender die Sonne berück sichtigen. Denn davon hängen ja die
Jahreszeiten, das Wachstum der Pflanzen, die Landwirtschaft ab. Darüber
hinaus sind auch die jüdischen Feiertage, die schon zu biblischen Zeiten
gefeiert wurden, eng damit verbunden. Das Passah-Fest muss im Frühling
gefeiert werden, in dem Monat, in dem in Israel die Ähren reifen.
Das Wochenfest,
Schawuot, als die ersten Früchte in den Tempel gebracht wurden, muss
sieben Wochen später, am fünfzigsten Tag stattfinden, wenn schon der
erste Weizen gereift ist. Und zum Laubhüttenfest, Sukkot, müssen schon
alle Feldfrüchte geerntet worden sein. Deshalb dürfen diese elf Tage,
die dem Mondjahr im Vergleich zum Sonnenjahr fehlen, nicht einfach
unbeachtet gelassen werden. Irgendwie muss man sie ein schieben. Sonst
würde das Passahfest schon nach einigen Jahren im Herbst und das
Laubhüttenfest im Frühling oder Winter gefeiert wer den. Der Unterschied
wird durch das Einschieben eines zusätzlichen Monats wieder wettgemacht
In diesem Fall hat das Jahr dreizehn Monate. Und ein solches Jahr wird
als Schaltjahr bezeichnet. Man kann es auch so ausdrücken: Das jüdische
Jahr hat so viele Monate, wie es Mondmonate in einem Sonnenjahr gibt,
das heisst, zwölf volle Monate und einen angebrochenen. Aus Gründen, die
aus sozialer Sicht und auch von der Ordnung her einleuchten, ist es
jedoch unmöglich, nur diesen einen kleinen Teil als Kurzmonat in ein
Jahr einzuschieben. Er wird zusammen mit den sich anschliessenden Teilen
aufgehoben, bis er schliesslich einen vollen Monat bildet. Innerhalb von
19 Jahren beträgt der Unterschied zwischen Sonnen- und Mondjahren
abgerundet 210 Tage. Deshalb gibt es in einem Zyklus von 19 Jahren
sieben jüdische Schaltjahre.
Aus diesem Grund
ändert sich die Anzahl der Wochen pro fahr genau wie die der
Schabbattage. Die fünf Bücher Mose sind nun jedoch in 54
Wochenabschnitte eingeteilt. Ein gewöhnliches Jahr mit 354 Tagen hat
dagegen nur 50 oder 51 Schabbattage. An Feiertagen werden, auch wenn sie
auf einen Schabbat fallen, die Passagen aus den fünf Büchern Mose
vorgelesen, die sich auf das betreffende Fest beziehen. Der eben falls
fällige Wochenabschnitt wird dann für den ersten freien Schabbat
aufgehoben, der auf das Fest folgt. Deshalb müssen des öfteren zwei
aufeinanderfolgende Abschnitte zusammen vorgelesen werden, und es gibt
denn auch bestimmte Abschnitte, die speziell für diese doppelte
Vorlesung vorgesehen sind.
Die Torahvorlesung ist
gemäss dem Kalender so eingeteilt, dass die gesamten fünf Bücher Mose
mit dem letzten Teil - Moses Segen und Tod - am letzten Tag des letzten
Festes zu Ende gelesen werden, mit dem das Laubhüttenfest und die Folge
der Feste abgeschlossen wird. Am gleichen Tag und sofort nach dieser
letzten Vorlesung wird erneut mit dem 1. Buch Mose begonnen. Das ist in
der Synagoge, im G'ttes dienst ein Ereignis, das ein besonderes Ritual
kennzeichnet. Deshalb wird der letzte Tag des abschliessenden Festes
auch als Simchat Torah, d. h. als Gesetzesfreude, bezeichnet.
Heute erfolgt das
Vorlesen aus der Torah von einem dafür zuständigen Mann, dem Koreh.
Und er kann auch zugleich der Chasan, der Vorbeter sein, muss es
aber nicht sein. Das war aber nicht immer so. In der Vergangenheit wurde
eine bestimmte Anzahl von Männern - diese Zahl änderte sich je nach
Schabbat, Versöhnungstag, anderen Feiertagen, Voll- und Neumond, Gedenk-
und Fastentagen und auch je nach Arbeitstagen nacheinander aufgerufen,
um der Reihe nach einen Absatz des angegebenen Abschnitts aus der Torah
vorzulesen. Wie jedoch schon weiter oben gesagt, besteht der Text in der
Gesetzesrolle nur aus
Konsonanten und nicht
mehr. Es gibt keinerlei phonetische Zeichen und auch keine anderen
Hilfsmittel, nicht einmal die Satzzeichen sind angedeutet. Darüber
hinaus wird der Text nur selten als feierliche Deklamation vorgetragen.
Orientalische Völker singen beim Sprechen im allgemeinen, und das gilt
noch stärker für ihre Gebete. Der im Singsang vorgetragene Bibeltext,
wie er sich bei religiösen Zusammenkünften entwickelt hat, begleitet
denn auch schon seit frühesten Zeiten jedes einzelne Wort in einem
bestimmten Rhythmus. Als die phonetischen Schriftzeichen erfunden
wurden, erdachte man für diesen Vortrag ebenfalls kleine Zeichen.
Sie sind in fast allen
mit Vokalzeichen gedruckten hebräischen Bibeln enthalten. Jedes Zeichen
gibt eine bestimmte Notengruppe an. Anhand dieser Tonzeichen lernt man
die Melodie und behält sie. Und in solch einem Singsang muss auch die
Vorlesung erfolgen. Und das erklärt auch, warum nicht jeder einfach aus
der Gesetzesrolle vorlesen kann. Im Gegenteil. Dazu ist ein allgemein
gutes Gedächtnis erforderlich wie auch ein gutes musikalisches
Gedächtnis. Nicht jeder Synagogenbesucher wird in der Lage sein, einen
willkürlich gewählten Absatz des Wochenabschnittes aus dem Stegreif aus
der Torah vorzulesen, noch dazu mit der richtigen Melodie. Trotzdem
steht jedem die Ehre zu, ebenfalls zur Torah aufgerufen zu werden, und,
wenn es sich um ein besonderes Ereignis handelt, auch schon einmal
ausserhalb der Reihe. Der Aus druck
aufgerufen werden hat einen leicht hebräischen Beiklang. Die Bima
ist ja eine "Erhöhung". Und fast jedes Familienereignis kann solch ein
besonderer Anlass sein: die Geburt eines Kindes, die Beschnei dung, die
Hochzeit, die Trauerfeier bei Todesfällen, Jahrestage Verstorbener, der
Tod von Verwandten und vieles mehr. Schliesslich nimmt die Synagoge teil
am Alltagsleben zu Hause, am ganzen Familienleben. Sollen da etwa nur
Fachmänner aufgerufen werden? Und die, die nichts davon verstehen oder
als solche gelten, einfach übergangen werden? Soll die Torahvorlesung
nur das Vorrecht von Fachleuten sein? Oder sollte man dem einen doch die
Gelegenheit geben, es selbst zu tun, während für andere ein Dritter die
Aufgabe übernehmen sollte? Und gleich zeitig alle anderen beschämen?
Noch dazu angesichts der Torah? Das war natürlich nicht möglich. Deshalb
wurde das Vorlesen durch den Einzelnen selbst abgeschafft, auch für den
grössten Fachmann. Heute kann jeder " aufgerufen werden.. Er sagt den
vorgeschriebenen Lobspruch vor- und hinterher, aber der Koreh
liest vor.
Nur in einigen Fällen
darf der Aufgerufene persönlich seinen Absatz oder einen Teil davon
vorlesen. Ein solcher Fall ist der Junge, der drei zehn Jahre alt
geworden ist und seine Pubertät und somit aus religiöser Sicht seine
Volljährigkeit erreicht hat. Er wird, wenn die erforderliche Anzahl von
Aufgerufenen anwesend ist, zum erstenmal zur Torah auf gerufen. Und er
darf dann auch persönlich der Gemeinde seinen Absatz vorlesen. Den hat
er selbstverständlich vorher gründlich gelernt. Es ist auch
verständlich, dass dieser Auftritt für den Jungen, den Bar Mizwa,
der von jetzt an mündig ist und seine religiösen Pflichten voll erfüllen
muss, ein wichtiges Ereignis ist, dem es nicht an Spannung fehlt. Das
gilt für ihn, seine Mutter, seinen Vater und alle übrigen Verwandten.
Die ganze Gemeinde nimmt daran lebhaft Anteil. Diese Zeremonie
entspricht in ungefähr der Konfirmation in der Kirche. Aber es ist keine
Kleinigkeit, zur Torah aufgerufen zu werden, das erste Mal überhaupt, an
dem man selbst das Wort aussprechen muss!
Ein weiterer Fall
tritt ein, wenn die Aufgerufenen die Ehre haben, zu Simchat Torah
(Gesetzesfreude) den letzten Absatz aus der Torah vor zutragen oder am
gleichen Tag wieder mit dem 1. Buch Mose anzufan gen: Sie dürfen ihren
Absatz aus der Schriftrolle persönlich vorlesen. Im allgemeinen lesen
sie nur die letzten Sätze ihrer
Parascha (Absatz). Aber auch hier wiederholt der Koreh noch einmal
den einen oder ande ren Satz, "um niemanden zu beschämen", denn
möglicherweise war die Vorlesung so schlecht oder so fehlerhaft, dass
der Fachmann noch einmal darübergehen muss. Um, wie gesagt, niemanden zu
beschämen, liest der Koreh den Absatz nochmals vor, gleichgültig, ob der
Vortrag des Laien gut oder schlecht war.
Ausser in diesen
beiden Sonderfällen kann niemand seine Parascha persönlich vortragen.
Selbst wenn ein Koreh in der Synagoge in einem anderen Ort aufgerufen
wird, muss er es sich gefallen lassen, dass der dortige Koreh seinen
Absatz für ihn vorträgt.
Der Vortrag - und das
braucht wohl kaum noch hervorgehoben zu werden - muss ergeben und
sorgfältig erfolgen. Der Koreh zeigt jedes einzelne Wort. Allerdings
nicht einfach mit dem Finger. Als Zeigestock verwendet er einen Stab,
der meistens aus Edelmetall ist und mehr oder weniger kunstvoll
bearbeitet wurde, dessen Ende in einer kleinen Hand mit ausgestrecktem
Zeigefinger ausläuft. Der Aufgerufene liest leise mit, schliesslich ist
es ja sein Absatz. Auch die Anwesenden sollen dem Vortrag folgen, "als
ständen sie beim Sinai und vernähmen die Offenbarung aus G'ttes Mund".
Sie folgen ihm in ihren gedruckten Bibeln, wo die Worte mit phonetischen
Zeichen sowie Lese - und Gesangzeichen versehen sind. Man achtet
sorgfältig auf einen deutlichen, gewissenhaften Vortrag, und wenn er
fehlerlos in Wort und Melodie ist, wird er hoch eingeschätzt.
Andernfalls wurde der G'ttesdienst nicht richtig durchgeführt, und
sinnentstellende Fehler müssen beim nochmaligen Lesen korrigiert werden.
Die Reihenfolge, in
der die Teilnehmer aufgerufen werden, liegt im Ermessen der
Synagogenverwaltung oder ihrer Vorsteher. Darin haben sie ziemlich freie
Hand, wie im Rahmen der Vorschriften im Schulchan Aruch
festgelegt. Darüber hinaus haben sich selbstverständlich auch örtliche
Bräuche entwickelt, denen ebenfalls eine bestimmte Bedeutung zukommt.
Die Synagogenbesucher sind verantwortlich für die Über wachung des
Vortrags. Im allgemeinen vertraut man sie allerdings dem Rabbiner oder
einem anderen Fachkundigen an, der in jedem Fall ent scheidet.
Der Vorsteher steht
bei der Torahvorlesung auf der Bima links vom Koreh; er ist es auch, der
die Gemeindemitglieder der Reihe nach durch den Koreh, den
Synagogendiener oder den dafür Verantwortlichen auf rufen lässt, und
zwar im allgemeinen bei ihrem biblischen Namen auf hebräisch. Der Koreh
selbst steht vor dem Lesepult, auf dem die Geset zesrolle aufgerollt
wird. Der Aufgerufene steht rechts von ihm, und der Rabbiner oder ein
anderer Aufsichtführender steht in den meisten Fäl fen auch rechts.
Die Gemeinde beteiligt
sich so also ständig aktiv an der Torahvorle sung. Aber daneben nimmt
sie an dieser wichtigen Handlung beim G'ttesdienst in der Synagoge auch
noch auf andere Arten teil als den bisher beschriebenen.
DIE BÜCHER DER
PROPHETEN - EHRENÄMTER - MIZWOT
Nur am Schabbatmorgen
wird ein vollständiger Abschnitt aus den fünf Büchern Mose vorgelesen.
Zum G'ttesdienst am Mittag des gleichen Tages wird vom nächsten
Wochenabschnitt nur ein kleiner Teil - im allgemeinen der erste Absatz
oder Parascha - vorgetragen, der dann nur an drei Personen verteilt
wird. Der gleiche Teil kommt im Verlauf der Morgenandacht am Montag und
nochmals am Donnerstag an die Reihe. Dieser Brauch, diese Abschnitte an
den beiden genannten Arbeitstagen zu wiederholen, datiert noch aus der
Zeit, als Esra die Riten neu regelte. In den grösseren Ortschaften in
Israel waren diese Wochentage Markttage, zu denen viele Besucher aus den
umliegenden Regionen eintrafen. An diesen Tagen fanden auch öffentliche
Gerichtssitzungen statt. Das war eine ausgezeichnete Gelegenheit, die
Torah vorzuzeigen und den versammelten Menschen daraus vorzulesen. Das
ist der Ursprung der Krijat Hatora,
d. h. der Torahvorlesung, die sich bis zum heutigen Tag erhalten hat.
Auf das Lesen des
Abschnitts aus den fünf Büchern Mose folgt am Schabbatmorgen und an
Feiertagen stets der Vortrag eines Abschnitts aus den Büchern der
Propheten. Diesen Abschnitt bezeichnet man als Haftara, was
Abschied, Abschluss bedeutet. Man nimmt an, dass dieses Vorlesen aus den
Büchern der Propheten bereits im Land Israel zur Zeit der dortigen
Glaubensverfolgungen noch im Altertum eingeführt wurde. Da es den Juden
untersagt war, aus der Torah vorzulesen, nahmen sie statt dessen einen
entsprechenden Abschnitt aus den Büchern der Propheten. Sie wurden in
regelmässige Abschnitte als Haftara eingeteilt, so dass es für jeden
Abschnitt aus den fünf Büchern Mose einen passenden aus den Büchern der
Propheten gab. Vom Inhalt her hing diese Haftara im allgemeinen mit dem
des entsprechenden Torah-Absatzes zusammen. Oder er bezog sich wie z. B.
an Feiertagen oder bestimmten Schabbattagen auf den Sinn des Feiertags
oder das besondere Wesen des Schabbats. Hier wurde die Haftara also
gemäss der Jahreszeit, des geschichtlichen Anlasses gewählt. Als sich
die Zeiten später wieder besserten und die Juden erneut aus den fünf
Büchern Mose vorlesen durften, wurde das Vorlesen der Torah
selbstverständlich wieder mir allen Ehren eingesetzt. Aber, und das ist
ebenso natürlich, die Haftara wurde nicht aufgegeben. Seither folgt auf
die Torahvorlesung ein Vortrag aus den Büchern der Propheten.
Im Gegensatz zur
Torahvorlesung wird dieser Text nicht aus einer Schriftrolle
vorgetragen. Das geschieht nur ungemein selten und auch dann nur an
bestimmten Orten. Praktisch überall liest man aus einem ganz
gewöhnlichen Buch vor, das genau wie jedes andere Buch gedruckt wurde
und das mit phonetischen Zeichen und Lese- und Gesangzeichen versehen
ist. Auch nimmt die Vorlesung nicht eine bestimmte Person oder der Koreh
vor. Neben diesen Fachleuten gibt es überall kundige Laien, die in der
Lage sind, die Haftara im passenden Singsang vorzutragen. Sie sind im
allgemeinen innerhalb der Gemeinde bekannt, und man ruft sie auf, damit
sie die Vorlesung des Abschnittes beenden. Anschliessend tragen sie den
Absatz aus den Propheten vor, den man ihnen angegeben hat. In manchen
Gemeinden liest das ganze Publikum ziemlich laut mit.
Hier hat auch der
gewöhnliche Synagogenbesucher Gelegenheit, an einem wichtigen Teil des
G'ttesdienstes persönlich aktiv teilzunehmen. Bei Handlungen, die als
Mizwot bezeichnet werden, ist das noch stärker der Fall: damit sind
Handlungen während des G'ttesdienstes gemeint und hier im noch engeren
Sinn gewisse Aufgaben als eine Art Ehrendienst.
Schon vorher wurde
beschrieben, wie kostbar die Gesetzesrolle ist und wie hoch sie in Ehren
gehalten wird, und auch, wie überaus wichtig das Vorlesen daraus als
Mittelpunkt der Andacht ist. Deshalb wäre es undenkbar, das Ausheben der
Torah aus dem Schrein, das Tragen zur Bima und andere für den Vortrag
notwendige Handlungen so einfach ohne jede Feierlichkeit vor sich gehen
zu lassen. So sind Zurücktragen der Torahrolle zum Schrein und viele
andere Handlungen selbstverständlich mit einem gewissen Ritual
verbunden.
Sobald der Vorhang
beiseite geschoben wird und die Türen des Schreins geöffnet werden,
sagen der Kantor und die Gemeinde im Singsang besondere Bibelverse.
Unter Begleitung dieser Verse und Sprüche trägt der Kantor die
Torahrolle zur Bima. Ihm folgen der Rabbiner und der Synagogenvorsteher
und alle anderen, die für die Ehrenämter aus gewählt wurden. Im
feierlichen Aufzug ziehen sie rechts an der ersten Reihe der Bänke
entlang; dabei steht die ganze Gemeinde auf. Wäh rend die Gesetzesrolle
vorbeigetragen wird, nutzen die Andächtigen die Gelegenheit und küssen
das Torahgewand.
Auf der Bima wird der
Schmuck von der Torahrolle genommen, die Hülle abgezogen und das Band,
das die beiden Teile zusammenhält. Am Ende der Vorlesung rollt man die
Rolle um einige Schriftspalten ab, hält sie hoch, damit die Gemeinde sie
sehen kann. Dabei sagt man die Worte: "Dies ist das Gesetz, das Mose den
Kindern Israel vorlegte" (Deutronomium 4,44), denen sich noch weitere
Bibelverse anschliessen. Dann rollt man sie wieder ein, schlägt sie in
die Hülle, bringt den Schmuck wieder an und trägt sie wiederum in einem
feierlichen Aufzug an der rechten, d. h. diesmal der zweiten Seite
entlang, unter Gesang oder Zitieren von Bibelversen und Psalmen bis zum
Torahschrein, wo sie an ihren Platz zurückgestellt wird.
Eine mögliche Regelung
wäre, alle diese Handlungen durch wichtige Personen, den Kantor, Diener,
Synagogenvorsteher oder andere emi nente Personen ausüben zu lassen. Das
würde jedoch der ganzen Art des Ehrendienstes in einer Synagoge
widersprechen. Schliesslich sind es Ehrenämter, und jeder
Synagogenbesucher kann und wird mit ihnen geehrt. Übrigens werden diese
Handlungen nicht irgendwie willkürlich vollzogen. Sie bilden jeweils
eigene Gruppen und haben feste Namen. Ein Ehrenamt beinhaltet zum
Beispiel das Beiseiteschieben des Vor hangs bis zum Zurückstellen der
Torahrolle in den Schrein. Aufheben und Vorzeigen der Rolle ist ein
zweites; Aufrollen, Einschlagen und Schmücken ist ein drittes. Solche
Ehrenämter für den G'ttesdienst sind zahlreich. Aber niemand übt sie
ehrenamtlich aus, denn auf sie hat jeder Anspruch. Auch schon
geringfügige Handlungen gelten als Mizwa, und oft vertraut man sie
kleineren Kindern an. Man lässt sie denn auch auf die Bima kommen und
die Gesetzesrolle dort an den Handgriffen festhalten. Auch beim
Einschlagen dürfen sie behilflich sein. Wie stolz sind sie
anschliessend!
An bestimmten Tagen
wie Feiertagen oder besonderen Schabbattagen werden auch schon einmal
mehrere Abschnitte aus der Torah vorgele sen. Da nun die Torahrolle kein
Buch ist, das sich ohne weiteres blät tern lässt, sondern da sie auf der
einen Seite ab-und an der gegenüberlie genden aufgerollt werden müsste,
was während des G'ttesdienstes viel Lärm und Störung verursachen würde,
liest man nacheinander aus zwei oder drei Gesetzesrollen vor. Hier
wurden die passenden Stellen schon vorher ausgesucht, und man hebt sie
alle zusammen aus dem Torahschrein und bringt sie auch wieder zusammen
zurück. Gleichzei tig erhöht sich die Anzahl der Ehrenämter, und auch
einfache Personen können ins Tragen der zweiten und dritten Torahrolle
einbezogen wer den. Zum Beispiel macht man am Tag der Gesetzesfreude,
Simchat Torah, nach der Abschlussvorlesung und bei ihrem Neubeginn Rund
gänge um die Bima, manchmal drei und manchmal sieben, und zwar während
die Torahrolle aus dem Schrein gehoben und zu ihm zurück gebracht wird.
Jetzt können mehrere Teilnehmer der Reihe nach mit der Ehre beauftragt
werden, die Torahrolle zu tragen. Bei diesen Gele genheiten ist es bei
den Chassidim und bei anderen Juden üblich, die Torahrollen mit einer
Tanzbewegung zu tragen. Die Chatanei Thorah, d. h. Bräutigame des
Gesetzes, die die Rollen tragen dürfen, werden feierlich in die Synagoge
begleitet, und man teilt ihnen an einem Feier tag einen besonderen
Ehrenplatz vor dem Torahschrein zu. Ein Teil der Gebete wird vor dem
geöffneten Torahschrank gesagt, das geschieht vor allem am Neujahrs- und
Versöhnungstag. Gebete zum Wohl der Landesregierung sagt man praktisch
in allen Ländern und bei allen Gelegenheiten.
Auch das Öffnen des
Torahschreins ist eine Mizwa, die eines der Gemeindemitglieder ausführen
kann. Diese Mizwot verteilt weder eine Behörde noch der
Synagogenvorsteher oder irgend jemand anders, der ein wichtiges Amt
bekleidet. Jeder kann dazu aufgerufen werden oder sie für einen anderen
erbitten. Und das ist denn auch im allgemeinen so üblich. Zum Beispiel
hat ein Vater, Bruder, Freund oder Gast Geburts tag oder feiert ein
Familienfest, gedenkt eines verstorbenen lieben Ver wandten, und mit
solch einer Mizwa möchte man ihm besondere Auf merksamkeit erweisen. Sie
kann beim Synagogendiener bestellt werden oder bei demjenigen, der für
diesen Teil des G'ttesdienstes verantwort lich ist. Der Diener fragt im
richtigen Augenblick nach dem Zweck der bestellten und zugeteilten Mizwa
und gibt sie im Namen des Schenkers jenem bekannt, dem diese Ehre zuteil
wurde. Der Aufgerufene erfüllt seine Mizwa und dankt anschliessend dem
Besteller, der im allgemeinen für diese Mizwa einen geringen, nach einem
Tarif festgelegten Betrag an die Gemeinde zahlt.
In den meisten
Synagogen gibt es eine Tafel, auf der die offenen Mizwot angeführt sind.
Der Diener streicht die, die bestellt wurden, und so sieht jeder
Synagogenbesucher sofort, welche Mizwot noch frei sind. Der Vorsteher
hat das Recht, die nicht bestellten Mizwot zu ver schenken. Im
allgemeinen geht er dabei unter den Synagogenbesuchern der Reihe nach
vor. Aber im allgemeinen bleiben nur wenige Mizwot übrig, denn die
Nachfrage ist meistens gross. In den Grossstädten ist es dabei leider
auch schon zu Missbräuchen der Mizwot gekommen. Man feilscht zum Teil um
sie, zwar nicht des Geldes wegen, sondern weil sich die Mitglieder daran
gewöhnt haben und es als Bestandteil ihres Judentums ansehen.
Allerdings sind diese
Ehrenämter kaum je eine bedeutende Ein kunftsquelle für die Gemeinde.
Trotzdem gibt es Gemeinden, die ihre Auslagen nur mit freiwilligen
Beiträgen decken können. Und in diesen Fällen bringen die Mizwot grosse
Summen ein. So gab es zum Beispiel in Frankfurt am Main eine sehr grosse
Synagogengemeinde, und dort wurden beachtliche Beträge allein für das
Recht gespendet, ein Jahr lang für den Wein zuständig zu sein, der bei
dem Ritual zur Begrü ssung von Schabbat und Feiertagen und an ihrem Ende
notwendig ist.
Ausser diesen
Ehrenämtern gibt es in der Synagoge auch noch die Möglichkeit, jemandem
eine kleine Aufmerksamkeit zu erweisen: Der "Aufgerufene", der das Lob
nach der. Torahvorlesung gesagt hat, wird vom Koreh oder dem Diener mit
einem auf hebräisch gesagten Segenswunsch bedacht. Daraufhin steht ihm
das Recht zu, für seine Familienangehörigen oder andere einen ähnlichen
Segen zu sagen. Gleichzeitig spendet man der Gemeinde etwas für die
Armen oder für andere wohltätige Zwecke.
In vielen grösseren
Gemeinden geht man jetzt dazu über, diese Bei träge und diesen
namentlichen Aufruf während des G'ttesdienstes ab zuschaffen, denn wenn
dieser Brauch übertrieben wird, leidet der Ernst der Andacht darunter.
Es ist also nicht so einfach, für den Got tesdienst in der Synagoge das
richtige Mass und den goldenen Mittel weg zu finden. Er ist doch in
seinem Wesen ein Dienst der Gemeinde mit einem bestimmten Ritual.
Gleichzeitig muss auch Wärme zu spü ren sein, die Wärme eines heiteren,
bejahenden G'ttesdienstes, ent sprungen der Gemeinsamkeit und dem
Mitgefühl für den Nächsten. Deshalb darf das Ritual nie erstarren, nie
kalt und förmlich werden, genausowenig darf völlige Grabesstille
herrschen. Wer sich diese grundsätzlichen Vorstellungen und Begriffe vor
Augen hält, wird den G'ttesdienst in der Synagoge richtig verstehen und
Einblick in ihn ge winnen.
DER CHASAN:
KANTOR UND VORBETER
Da der gemeinsame
synagogale Dienst die Regel ist, spielt der Vorleser oder Vorsänger eine
bedeutende Rolle: Er verkörpert sozusagen den G'ttesdienst. Wird der
Chasan (Kantor oder Vorsänger) dabei seiner Aufgabe wirklich gerecht,
bildet er den anziehenden Mittelpunkt der Andachtsübungen.
Auf hebräisch heisst
dieser Kantor oder Vorsänger Chasan oder auch Schaliach Zibur.
Der zweite Ausdruck wird häufiger in der Schriftsprache gebraucht und
bringt die Bedeutung dieses Amtes deutlicher zum Ausdruck. Die
Tätigkeit, die diese Ausdrücke beinhalten, wird durch die gleich
folgende Erklärung verdeutlicht.
Woher das Wort
Chasan genau stammt, kann man heute nicht mehr genau feststellen.
Der Form nach würde der Wortstamm "sehen" bedeuten, womit die Bibel
jemanden mit einem visionären Blicke beschreibt. Sonst kommt das Wort
Chasan in der Bibel weder in seiner gegenwärtigen Bedeutung noch in
irgendeiner anderen vor, denn dieses Amt hat ja zur damaligen Zeit noch
nicht existiert. Allerdings sollte daraus nicht geschlossen werden, dass
es das Wort als solches damals noch nicht gab.
Die Talmudliteratur
kennt das Wort
Chasan in unterschiedlichen Bedeutungen, und zwar einmal als
Gerichtsdiener, verantwortlich für den Vollzug des Urteilsspruchs in
einem Strafprozess; dann wieder als Lehrer für Jugendliche, und
schliesslich als Synagogendiener der über den G'ttesdienst wacht. Aber
noch war er weder der Synagogenvorsteher noch ihr regulärer Vorbeter.
Das wurde er erst sehr viel später, als das Amt geschaffen wurde.
In früheren Zeiten
wurde ein Gemeindemitglied zum Vorbeten auf gefordert, und zu diesem
Zweck nahm er seinen Platz vor dem heiligen Schrein ein. Der Ausdruck
vor dem Schrein herabsteigen lässt darauf schliessen, dass er an einem
erhöhten Ort stand und der Vorbeter auf einer niedrigeren Ebene, was ja
auch heute noch oft der Fall ist. Dazu wird eine mehr humoristische als
exegetisch richtige Verbindung zum Psalm 130,1 hergestellt: "Aus der
Tiefe rufe ich, Herr, zu dir." Häufig musste der zum Vorbeten
Aufgerufene erst dazu überredet werden, denn jeder wollte den Eindruck
geben, er sei bescheiden. Sobald die Aufforderung jedoch von einem
höheren Beamten kam, willigte der Aufgeforderte unverzüglich ein.
Allmählich änderten
sich die Zeiten, und als Vorbeter wurde ein Synagogenbeamter ein
Fachmann, eingestellt. Zu einem späteren Zeit punkt war er
wahrscheinlich der erste feste Gemeindeangestellte, und wegen seines
Amtes traf er dann auch als erster in der Synagoge ein. Ganz beiläufig
gab man ihm dann den schon überall bekannten Titel Chasan,
schliesslich war er der erste und wichtigste Synagogendiener.
Der zweite Ausdruck
ist hier beredter:
Schaliach Zibur bedeutet wörtlich "Gesandter der Gemeinde". Er
leitet die Gemeinde, die sich im Gebet vereinen möchte. Er ist ihr
Sprecher, er führt das Wort für sie, und oft richtet er sich in den
Gebeten im Namen der Gemeinde an G'tt.
Falls man im Judentum
überhaupt von einer "Geistlichkeit" sprechen kann, dann ist der Kantor
in der Synagoge ein Geistlicher. Denn er und nicht der Rabbiner
bekleidet ein ausgesprochen geistliches Amt. Der G'ttesdienstkodex sieht
für das Amt strenge Vorschriften vor, und er schreibt eingehend die
geistigen und Charaktereigenschaften eines Kantors vor, genau wie die
Voraussetzungen, die er in seinem Verhalten erfüllen muss, während er
das Amt ausübt, wie auch in der Vergangenheit. Dagegen wird der Rabbiner
in diesem Zusammenhang nicht er wähnt, denn er ist ja kein
Synagogenbeamter im eigentlichen Sinn des Wortes.
Mit Absicht habe ich
bisher den Leiter des Gemeindegottesdienstes als Vorbeter bezeichnet. Im
Volksmund heisst er Vorleser oder Vorsänger. Tatsächlich ist der
Vorleser jedoch der
Koreh, der Torahkundige, der aus der Gesetzesrolle den
Torahabschnitt in dem ihm eigenen Sing sang vorträgt. Aber auch die
Beamten lassen sich gern als Vorsänger bezeichnen, denn der Gesang ist
ja ein wichtiger Bestandteil der Aufgabe dieses Synagogendieners.
So wie sich im Laufe
der Zeit für die fünf Bücher Mose und die Bücher der Propheten ein
Singsang entwickelte, entstanden auch feste Melodien für bestimmte
Abschnitte des synagogalen Dienstes wie Ge bete, Psalter und auch
Hymnen, die zu festen Zeiten und an bestimm ten Tagen gebetet weiden. So
gibt es zum Beispiel für den Freitagabend eine eigene Melodie, genau wie
für den Schabbatmorgen und -mittag, für das Passahfest sowie die hohen
Feiertage wie Neujahrs- und Versöhnungstag. Diese im grossen und ganzen
festen Melodien bezeichnet man als Chasanut, ein etwas abstrakter
Begriff, der vom Wort
Chasan hergeleitet wurde.
Der jüdischen
Öffentlichkeit sind diese Melodien wohl vertraut, und sie möchte sie
nicht missen. Sie sind denn auch so alt, dass sich ihre Herkunft nicht
mehr feststellen lässt, und ihr Leitmotiv ist praktisch allen Juden
bekannt. Sie sind ein Glied in der Kette, die die Juden eint. Wollte man
diese alten Lieder und Weisen abschaffen, wäre das nicht nur
bedauerlich, sondern auch diese Einheit würde Schaden nehmen.
Zum Beispiel enthält
diese Chasanut ein Lied, mit dem am Freitagabend der Einzug des
Schabbats wie der einer Braut begrüsst wird, und ähnliches gibt es bei
allen Andachtsübungen. Sie ist also ein wichtiger, unschätzbarer
Bestandteil der Tradition. Selbstverständlich gleicht sich die
Chasanut der gesamten jüdischen
Welt nicht haargenau.
Wahrscheinlich gibt es eine Reihe von Melodien, die sich heute kaum noch
ähnlich sind, die aber trotzdem im wesentlichen übereinstimmen. Darüber
hinaus hat sich im Laufe der Zeit auch eine für einen bestimmten Ort
typische Chasanut
herausgebildet, die sich dort einer besonderen Beliebtheit erfreut.
Daneben gibt es im
G'ttesdienst auch eine Reihe von Fragmenten, für die es keine feste
Melodie gibt. In diesem Fall ist der Kantor frei und kann sie nach
Gutdünken vortragen, wie zum Beispiel das Einweihungslied für den
Schabbat. Aber selbst hier gelten gewisse Einschränkungen in bezug auf
die Bedeutung des Tages oder der Jahreszeit. Fällt der Schabbat zum
Beispiel auf den Fastentag am neunten Aw, d. h, den Gedenktag der
Zerstörung des Tempels in Jerusalem und der Vernichtung des jüdischen
Staates, oder kurz vor oder nach ihn, wird das Lied "Komm, mein Freund,
der Braut entgegen! in einem ganz anderen Tonfall gesungen als in den
Wochen darauf. Schliesslich ist die Synagoge das Spiegelbild des ganzen
jüdischen Lebens. Aus diesem Grund unterscheiden sich die Melodien für
die hohen Feiertage stark von jenen zum Passahfest oder zu anderen
freudigen Festen. Text und Inhalt der Lieder spielen eine weit
untergeordnete Rolle.
Moderne Komponisten
haben die Chasanut
sowohl unverändert wie in modernisierter Form aufgezeichnet und die
Melodien, die der Kantor nach eigenem Gutdünken vortragen kann, vertont.
Man erwartet nun vom Kantor, dass ihm nicht nur alle alten und neuen
Melodien vertraut sind, sondern dass sie stets abrufbereit sind. Deshalb
muss er sehr musikalisch sein und ein gutes musikalisches Gedächtnis
besitzen. Darüber hinaus muss er selbstverständlich eine schöne Stimme
haben und ein guter Sänger sein.
Die Aufgaben, die man
vom Chasan in der Synagoge erwartet, sind vielfältig. Zum
Beispiel ist der G'ttesdienst im allgemeinen lang. Und während der
Andacht hat der Kantor fast immer das Wort, sei es, dass er einen Satz
nach dem anderen, einen Abschnitt nach dem anderen für die Gemeinde
vorliest, ihn allein singt oder - und das kommt häufig vor - auch
kantilenenartig vorträgt. Einfaches Aufsagen kennt der jüdische
G'ttesdienst kaum, weil es nicht dem Wesen des Hebräischen entspricht.
Es ist kaum zu
glauben, wie lange der Kantor den G'ttesdienst, wie lange er praktisch
ununterbrochen im Stehen singt und vorträgt. Be sonders im Festmonat
Tischri - September/Oktober -, der mit dem
Neujahrsfest beginnt,
ist sein Dienst schwer, denn jetzt muss er all die alten traditionellen
Melodien vortragen, die jene einzigartige Stimmung schaffen, in der die
Vergangenheit mit der Gegenwart verbunden wird. Der zehnte Tag dieses
Monats ist der Versöhnungstag, der zusammen mit der Andacht am Vorabend
ununterbrochen dem G'ttes dienst in der Synagoge gewidmet ist. An diesem
Tag finden unmittelbar hintereinander fünf G'ttesdienste statt: der
Abend- oder
Kol-Nidre-Dienst,
die Morgenandacht, der
Mussaf oder besondere, zusätzliche Dienst und der Mittags- und der
Schlussdienst. Ein einziger Chasan ist kaum dazu in der Lage, den
G'ttesdienst in allen Fällen allein zu leiten - das kommt gelegentlich
jedoch auch schon einmal vor.
In den meisten Fällen
übernehmen zwei Beamte diese Dienste, und zwar wechseln sie sich ab: Der
eine leitet den G'ttesdienst am Vorabend, der mehrere Stunden dauert;
der zweite die Morgenandacht, die ungefähr vier Stunden anhält. Der
nächste G'ttesdienst dauert wiederum fast vier Stunden lang, und ihm
folgen Mittagsdienst und Schlussgebet, beide je wiederum eineinhalb
Stunden lang. Die gleichen Beamten halten ausserdem noch morgens und
mittags Torahvorlesungen ab. Und, wie schon gesagt, erfolgt das Ganze im
Stehen, und selten wird eine kurze Pause von knapp zehn Minuten
eingelegt.
Es ist also eine
ausserordentliche Ausdauer notwendig. Die Beamten müssen, um stets eine
frische, geschmeidige Stimme zu haben, über eine ungewöhnliche
Gesangstechnik verfügen, erworben durch Ausbildung, die zu der
natürlichen Begabung hinzukommt. Auch darf man nicht vergessen, dass der
Chasan schon kurz nach dem Versöhnungstag entweder am Schabbat oder
zu dem fünf Tage später stattfindenden Laubhüttenfest wieder in Form
sein muss, denn dann steht ihm wiederum eine Woche mit vier oder fünf
grösseren G'ttesdiensten bevor.
Auf diese Weise
entwickelt sich der Chasan zum Berufssänger, und seine
Gesangskunst wird ein fester Bestandteil seines Amtes. Je schöner und
beschwingter er singt, desto mehr haben er und seine Gemeinde davon.
Allerdings drohen dem Chasan in diesem Bereich gewisse Fall
stricke, die zu einem Dilemma führen können. Möglicherweise gewinnt der
Sänger in ihm die Oberhand, so dass er mehr Sänger als Vorbeter ist, und
die Gemeinde folgt ihm dabei eventuell auch noch. Dadurch würde die
Synagoge für den Chasan ein Ort, an dem er " auf tritt", und der
Gemeinde würde sie ein Konzertsaal. Hat der
Chasan jedoch aufgrund seiner musikalischen Leistungen Erfolg bei
seiner Gemeinde, ist für den G'ttesdienst nichts gewonnen. Den goldenen
Mittel weg einzuschlagen ist in diesem Fall tatsächlich ziemlich schwer.
Denn verwandelt der Chasan die Synagoge in einen Konzertsaal,
dann stimmt etwas nicht, und sie verliert ihren Charakter. Und doch kann
das Wesen der Synagoge unverfälscht nur im G'ttesdienst und allein durch
den
Chasan zum Ausdruck gebracht werden. Deshalb geht es nicht anders,
als dass der Chasan ein Sänger mit besonderen Fähigkeiten ist.
Sonst wäre er nicht dazu in der Lage, die ihm anvertrauten wichtigen
Aufgaben in der Synagoge und im religiösen Leben der jüdischen Gemeinde
auf die Dauer durchzuführen. Zu diesem Zweck ist seine Gesangskunst
nicht das vordringlichste. Aber ein guter Kantor muss die Chasanut
kennen und sie kultiviert vortragen können. Zwar stimmt es, dass dem
Vortrag mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird, je schöner seine Stimme und
je reicher seine musikalische Kultur sind. Trotzdem sollten Stimme und
musikalische Begabung den Andachtsübungen untergeordnet sein und sich
dem religiösen Ideal der Synagoge freiwillig unterwerfen.
Den Kantor muss eine
tiefe Religiosität beseelen, und er muss ein tiefes Empfindungsvermögen
besitzen. Er muss es verstehen, seine ganze Seele in seinen Vortrag zu
legen. Er muss die Menschen in der Synagoge mitreissen, sie zutiefst
durch seine beredte Wiedergabe in Gesang und Gebet aus tiefster Seele
berühren. Mit der Ausstrahlung seines Geistes muss er auf die Gemüter
seiner Zuhörer einwirken. Die Gemeinde muss ihren Schaliach Zibur
kennen und wissen, dass er ihr würdiger Gesandter ist, ihr gottgeweihter
Sprecher. Nur auf diese Weise erfüllen er und die Synagoge ihre Pflicht.
MENORA
UND NER TAMID
LEUCHTER UND EWIGE
LAMPE
In der Synagoge gibt
es noch eine Reihe von Gegenständen, die zwar den G'ttesdienst selbst
nicht beeinflussen, aber zu gewissen Zeiten ziehen sie unsere
Aufmerksamkeit auf sich.
In praktisch jeder
Synagoge gibt es eine Lampe, deren Licht ununterbrochen brennt - oder
fast ununterbrochen, denn wer sie betreut, ist auch nur ein Mensch.
Keine Vorschriften
oder Empfehlungen schreiben die Form dieser Lampe genau vor. Deshalb ist
es auch nicht immer eine Hängelampe, sondern gelegentlich auch eine
Wand- oder sonstige Lampe. Ebenso wenig ist der Platz vorgeschrieben, an
dem diese Lampe hängt oder steht. In den meisten Synagogen brennt sie
vor dem Torahschrein, in anderen dagegen über dem Eingang, und in wieder
anderen ist sie an einem Pfeiler angebracht. Manche Synagogen haben
sogar zwei solcher Lampen. Das ist das Ner Tamid, die Ewige
Lampe. Sie heisst ewig, weil ihre Vorgängerin, die historische Lampe,
unablässig mit Öl gespeist wurde, damit sie unaufhörlich brannte. Das
ist das Licht des goldenen Leuchters, der im Zelt der Offenbarung,
in der Stiftshütte, und später im Tempel Salomos und Esras stand.
Dieser Leuchter, die
Menora, stand damals in jenem Teil von Stiftshütte und Tempel, der
als das "Heilige" bezeichnet wurde. Das Licht dieses Leuchters musste
ununterbrochen gespeist weiden, damit es Tag und Nacht brannte.
Dieses Ner Tamid
soll uns an die
Menora in den alten Heiligtümern erinnern. Es soll eine Erinnerung
sein, nicht mehr. Denn die Synagoge enthält ja ebenso wenig einen Altar
wie Schaubrote. Auch besitzt die Lampe nicht einmal die Form der
Menora; wie schon eingangs er-. wähnt, gibt es keine festen Regeln
für ihre Form. Trotzdem verbreitet sie eine auf den Besucher fast
mystisch wirkende Stimmung.
Darüber hinaus
versinnbildlicht das Licht auch die Seele. Und so hat es der Verfasser
der Sprüche gesagt: "Eine Leuchte des Herrn ist des. Menschen Geist"
(Spr.20, 27). In einem jüdischen Haus ist ein Licht:. denn auch das
sichtbare Andenken an einen teuren Toten. Sobald jemand in der Familie
stirbt, wird ein Licht angezündet, das während des zwölf jüdische Monate
währenden Trauerjahres - im allgemeinen im, Wohnzimmer - brennt. In den
Jahren danach wird es stets am Todestag angezündet, und dann heisst es
"Jahrzeit".
Aus diesem Grund
glaubt so mancher, das Ewige Licht in der Synagoge werde zum Andenken an
verstorbene Gemeindemitglieder angezündet. Das ist aber nur dort der
Fall, wo ständig zwei Lichter brennen. Weiterhin hängt das ganz von der
religiösen Einstellung und der Handhabung des G'ttesdienstes in der
betreffenden Synagoge ab.
Aber auch die
Menora in ihrer ursprünglichen Form, wie sie in den alten
Heiligtümern stand, ist nicht völlig aus dem jüdischen Leben
verschwunden. Dieser Leuchter wird zum Fest der Makkabäer, dem Lichter-
oder sogenannten Chanukkafest,
angezündet, von dem noch die Rede sein wird.
DIE
KOHANIM
Das jüdische Volk ist
sehr alt, und seine Geschichte beginnt in der grauen Vorzeit. Aus diesem
Grund gehen jüdische Verwandtschaftsbezeichnungen und Namen oft auf eine
weit entlegene Zeit zurück. Soll etwas auf diesem Gebiet erklärt weiden,
muss man erst einmal einen Abstecher in die ferne Vergangenheit machen.
Der jüdische
Volksstamm kann auf Jahrtausende zurückblicken. Gewisse Teile können
eine so weit in der Geschichte zurückliegende Abstammung durchaus als
unwiderlegbar akzeptieren. Das gilt für die Leviten und alle, die dem
Familienzweig des Hohepriesters Aron angehören. Noch ist nicht bekannt,
wie sich die übrigen Stämme mit anderen und auch untereinander
vermischten. Aber für die Leviten und die Nachkommen Arons, die
Kohanim, d. h, die Priester, steht die reine, direkte Abstammung
über jeden Zweifel fest.
Die Juden, die
Nachkommen des alten Israel, leben heute auf der ganzen Welt zerstreut.
Hier folgt ein kurzer Ausflug in die Geschichte. Nach dem Tod von König
Salomo, ungefähr eintausend Jahre vor unserer Zeitrechnung, spaltete
sich das Volk in zwei getrennte Königreiche. Das Reich im Norden, das
unter Jerobeam vom Haus David abfiel, bezeichneten die Propheten als das
Haus Israel. Es umfasste zehn Stamme, und seine Hauptstadt war Samaria.
Dieses Reich bestand fast 250 Jahre. Im Jahr 722 v. Z. wurde Samaria von
König Sargon von Assyrien erobert. Israel, das Reich mit den zehn
Stämmen, wurde durch Verbannung praktisch ausgelöscht. Es hat keinerlei
Spuren in der Ge schichte hinterlassen. In der Neuzeit hat man
möglicherweise einen Überrest von ihm in Äthiopien entdeckt: die
Falaschas. Inzwischen be müht man sich, die Verbindung zu diesem Zweig
des Volksstammes wieder aufzunehmen.
Die übrigen beiden
Stämme - Juda und Benjamin - bildeten zusammen eine Dynastie, der die
Propheten den Namen Haus Juda gaben. Dieses Reich bestand auf seinem
Boden 400 Jahre lang. Im Jahr 586 v. Z. eroberte der Babylonier
Nebukadnezar II. seine Hauptstadt Jerusalem. Diese Judäer sind die
Juden. Ihre Geschichte reicht bis in die Gegenwart und wird sich
voraussichtlich auch noch in der Zukunft fortsetzen.
In Jerusalem stand der
Tempel, in dem der Stamm Levi diente. Ein besonderer Nachkomme Levis
ist der Zweig von Aron, dem ersten Kohen, d. h. Priester.
Die zwölf Söhne Jakobs
gaben den "Stämmen Israels " ihren Namen. Im Land Kanaan liessen sich
diese Stämme in jeweils eigenen Provinzen nieder. Der Stamm Levi erhielt
keinen Grundbesitz. Statt dessen wurden Joseph, dessen Haus sich in die
beiden Halbstämme Ephraim und Manasse aufspaltete, zwei Provinzen
zugeteilt. Die Leviten wurden mit dem Tempeldienst beauftragt, ebenso
wie mit der Aufrechterhaltung und Pflege des geistigen und religiösen
Lebens im allgemeinen. Aron, Mose Bruder und ein Urenkel Levis, wurde
Hohepriester. Nach ihm wurden seine Söhne Priester, und alle ihre
männlichen Nachkommen blieben und bleiben Kohanim.
Aus dem Besitz, der
den übrigen Stämmen zugeteilt worden war, mussten gewisse Abgaben in
natura an die Leviten und die Söhne Arons geleistet .werden, genau wie
andere geweihte Erträge eingebracht und alles, was für den Unterhalt des
Tempeldienstes gebraucht wurde, geliefert werden musste.
Kurz zusammengefasst
kann gesagt werden, dass die Leviten und Priester im Reich Juda lebten.
Sie zogen zusammen mit dem Judäern in die babylonische Gefangenschaft
und von dort wie alle Juden in die Zerstreuung. In der Geschichte der
Diaspora leben sie weiter und wer den wahrscheinlich auch in Zukunft
weiterleben.
Es ist durchaus
möglich, dass sich auch andere Einwohner dieses Reiches Israel nach Juda
retteten, als ihr eigenes Land zerstört wurde, genauso wie eine ganze
Reihe seiner Einwohner das alte nationale Heiligtum auf dem Zionsberg
wahrscheinlich dem politischen Ersatzheiligtum vorzogen, das Jerobeam in
Dan und Beth EI errichtete. Deshalb stammen die heutigen Juden nicht nur
von Juda und Benjamin ab. Allerdings kann heute niemand mehr sagen,
welchem Stamm er angehört. Einige jüdische Familien glauben, ihren
Stammbaum bis auf das Haus Davids zurückführen zu können. Dagegen können
alle Leviten sich ihrer Abstammung sicher sein. Diese Abstammung ist für
die Nachkommen von Aron unumstösslich, selbst wenn sie sich nicht anhand
von Dokumenten belegen lässt.
Tempelleben und
-dienst waren durch eine Vielzahl vorsorglicher Massnahmen geschützt.
Eine der wichtigsten Voraussetzungen war die sogenannte Reinheit,
d. h. die kultische Reinheit. Damit ist nicht die hygienische Reinheit
gemeint, obwohl sie gelegentlich für die zuerst genannte unumgänglich
ist. Es ist eher eine Weihe, eine Heiligung für das Höhere, das
Abstrakte, das Ideelle. Es ist ein Emporheben aus dem
Irdischen,
Materiellen, Körperlichen, Tierischen: aus dem Unreinen. Der Mensch
verbindet in sich gegensätzliche Elemente auf wunderbare Weise: Sein
Leichnam, seine sterbliche Hülle, kann nicht mehr aus dem Bereich des
"Unreinen" erhöht werden. Wer daran glaubt, irrt sich ganz gewaltig. Im
Leben hat nur das Leben Platz. Im Tod kann nichts mehr gewonnen werden,
weder durch den Verstorbenen noch durch andere für ihn. In diesem Sinn
ist der Tote "unrein ". Das muss man sich stets vor Augen halten.
Deshalb ist der
Leichnam eine Quelle der kultischen Unreinheit. Wer ihn berührt, sich
ihm nähert oder sich unter dem gleichen Dach wie er aufhält, wird selbst
"unrein". Auch wer unter körperlichen Defekten oder Gebrechen leidet,
bei denen sich das Tierische zeigt, gilt als "unrein". In solch einem
Zustand der " Unreinheit.. darf niemand das Heiligtum G'ttes betreten,
noch darf er am Opferdienst teilnehmen. In allen übrigen Bereichen ist
er gleichberechtigt und unterscheidet sich nicht von den anderen.
Aber ein Kohen
darf sich nie an einem Leichnam "verunreinigen". Er darf ihn also nicht
berühren, sich ihm nicht nähern, noch darf er sich unter dem gleichen
Dach befinden. Die einzige Ausnahme ist die nächste Familie: Eltern,
Kinder, Geschwister oder Frau. Oder ein Leichnam, den sonst niemand
anders betreuen würde. In diesem Fall ist die letzte, noch höhere
Pflicht wichtiger als alles andere.
Damit wurde der
Koben durch das Tempelleben sorgfältig von allen anderen
unterschieden und ausgesondert. Selbst nachdem der Tempel untergegangen
war, wurden diese Vorschriften peinlich genau befolgt. Aber auch andere
Vorschriften regeln das Leben der Nachkommen Arons im Alltag für alle
Zeiten. Zum Beispiel sind ihnen gewisse Ehen verboten wie die Heirat mit
einer geschiedenen Frau, die den übrigen Söhnen Israels durchaus erlaubt
ist.
Der Kohen nimmt
im religiösen Leben der Gemeinde eine besondere Stellung ein und erfreut
sich bestimmter Privilegien. In der Synagoge ruft man ihn bei der
Vorlesung aus der Torahrolle als ersten auf, ihm folgt der Levite.
Die Kohanim
segnen die ganze Gemeinde, wie im Numerus, 24-26, angeführt. Heute wird
der Segen in den meisten Gemeinden an Feiertagen und auch schon einmal
am Schabbat gesagt. Sie sagen ihn, nachdem ihnen die Leviten die Hände "
gewaschen", d. h. mit Wasser begossen haben. Für den Segensspruch
stellen sie sich auf den
Duchan, oder Podium vor dem Torahschrein, und wenden ihr Gesicht
der Gemeinde zu. Einem, der kein Kohen ist, würde es nie
einfallen, dieses Podium zu besteigen.
Jede Gemeinde kennt
ihre Kohanim und
Leviten. Wird ein Koben in der Synagoge aufgerufen, kommt zu
seinem Namen stets der Titel Hakohen, d.h. Nachkomme Arons,
hinzu. Dieser Zusatz steht auch in allen Urkunden und Registern. Das
gleiche gilt für die Nachkommen der Leviten, und zwar schon seit uralten
Zeiten bis zum heutigen Tag. Angesichts der bekannten Sorgfalt der
Rabbinate und der intensiven Teilnahme der Juden am synagogalen Leben
während aller Jahrhunderte ist kaum zu bezweifeln, dass die jüdischen
Gemeinden als Kohanim bekannten Menschen denn auch tatsächlich
Nachfahren Arons sind und somit ihre Abstammung auf Jahrtausende
zurückführen können.
Heute gibt es zwar die
kultische Reinheit des Tempellebens nicht mehr. Trotzdem dürfen die
Nachkommen Arons auch heute keinen Leichnam berühren, und die Friedhöfe
sind deshalb so angelegt, dass sie an einer Beeidigung teilnehmen
können, ohne dass sie gegen diese Vorschrift verstossen.
DER PRIESTERSEGEN
Numeri enthält die
Verpflichtung für Aron und seine Söhne, einen Segen über die Kinder
Israel zu sagen. Es ist ein ganz spezifischer Segen, dessen Worte in den
Versen 6,24-25 festgelegt sind: "Der Herr segne dich und behüte dich;
der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig; der
Herr hebe sein Angesicht über dich und gebe dir Frieden."
Wann und zu welchem
Anlass dieser Segen gesagt werden soll, dar über schweigt sich die Bibel
aus. Das wurde als bekannt vorausgesetzt. Das beweist wiederum, dass die
Heilige Schrift von bereits akzeptierten und bekannten Bräuchen ausgeht
und an eine praktizierte Tradition anschliesst. Dieser Segen wurde
selbstverständlich im Heiligtum gesagt, und er war Bestandteil eines
G'ttesdienstes oder bildete seinen Abschluss. Das bestätigt auch das
Deutronomium 10,8 und 21,5; dort erscheint das Segnen in G'ttes Namen im
Zusammenhang mit den Aufgaben, die der Priester im Dienst des Heiligtums
ausführen muss. Der Segen wurde nach den Pflichtopfern gesagt, die
tagtäglich erbracht und am Schabbat und an Feiertagen durch zusätzliche
Opfer erweitert wurden. Diese Vorschrift über den Segensspruch war nicht
nur für Aron und seine Söhne im engeren Sinn bestimmt, sondern galt auch
für seine Nach kommen.
Allerdings war dieser
Segen nicht so untrennbar mit Heiligtum und Opferdienst verbunden, dass
er mit dem Untergang des Tempels und seinen Ehrendiensten ebenfalls
unterging. Er war für die Vergangenheit gültig und ist es in der
Gegenwart und für die Zukunft.
Den Kohanim
wurde diese Segnung eher als Pflicht denn als Vorrecht auferlegt, und
zwar trotz der Tatsache, dass sie eigentlich ein Privileg sein müsste,
weil sie ausschliesslich ihnen vorbehalten ist. Sie müssen sie
einfach sagen.
Allerdings segnen
nicht etwa sie persönlich. Absichtlich heisst es jedes Mal ausdrücklich:
den Segen sagen. Denn die Vorschrift ist ja so formuliert: "So sollt ihr
sagen zu den Kindern Israel ..." Das ist genauso direkt wie die
Offenbarungsworte beim Sinai: "Gedenke des Schabbattages ..." Es ist
deshalb keine Haarspalterei, wenn wir das so interpretieren: "Sagen
musst du ihn, aber auch nur sagen! Es ist jedoch nicht dein
Segen, sondern allein meiner.." Diese Interpretation wird durch den Satz
bestätigt, der gleich auf den Priestersegen folgt: "Denn ihr sollt
meinen Namen auf die Kinder Israel legen, dass ich sie segne." Dieses
Legen des Namens auf das Volk, dieses Übertragen war der feierliche Akt,
darin lag die Segnung. Aus diesem Grund wurde auch G'ttes Name mit
seinen vier Buchstaben voll vom Priester ausgesprochen, etwas, was sonst
dem Hohepriester vorbehalten war, und auch dann nur für den
Versöhnungstag.
Der Priester war also
lediglich ein Sprecher, sonst nichts. Niemand, der gerade das Amt
ausübte, durfte sich dieser Pflicht entziehen, und niemandem konnte die
Erfüllung dieser Pflicht verwehrt werden. Aber etwas Eigenes hatte er
nicht zu sagen, denn es ist eine feste Formel. Deshalb kann er nicht
sagen: "Wir segnen dich im Namen G'ttes", sondern nur: "Der Herr segne
dich ..."
Heute wird der
Priestersegen während des Ehrendienstes zu genau den gleichen Zeiten
gesagt wie einst in der Stiftshütte und im Tempel: eine würdige
Fortsetzung einer alten Tradition. Der feierliche Akt der Segnung durch
die Kohanim findet heute allerdings nur noch an Feier tagen statt
und auch dann nur, wenn männliche Nachkommen Arons
anwesend sind. Sonst
wird der Priestersegen in dieser feierlichen Form ausgelassen. Wird er
nicht zu den festgelegten Zeiten gesagt, schiebt der Kantor ihn in das
Hauptgebet ein, das
Schemone Esre oder Achtzehngebet, und zwar nach einer kurzen
Einleitung: "Segne uns, G'tt unser Herr, G'tt unserer Väter, segne uns
mit dem dreifachen Segen, der geschrieben steht in deiner Torah durch
Moses, deinen Knecht, und gesprochen ward von Aaron und seinen Söhnen,
den Priestern, dei nem geheiligten Stamme, dass er in allen seinen
Aussprüchen in Erfüllung gehe. "Dem schliesst sich der Priestersegen mit
den oben angeführten Worten an.
Heute findet dieser
feierliche Akt in jenem Teil des synagogalen Dienstes statt, in dem im
Hauptgebet der frühere Tempeldienst er wähnt wird. Davor bereiten sich
die Kohanim auf die Erfüllung ihrer Pflicht vor. Ist der Kantor
selbst ein Nachkomme Arons, übernimmt jemand anders in der Zwischenzeit
seine Aufgaben. Allerdings kann niemand dazu gezwungen werden, noch kann
man es jemandem verbieten. Wer am feierlichen Akt nicht teilhaben
möchte, kann die Synagoge während dieser Zeit verlassen. Alle, die die
Aufgabe auf sich nehmen wollen, kommen, nachdem sie die Schuhe
ausgezogen haben, näher, und zwar zwischen Podium und Lesepult, und
lassen sich die Hände waschen. Das ist die Aufgabe der Leviten, die zum
gleichen Stamm gehören und jetzt auf die Erfüllung dieser Aufgabe der
Waschung warten genauso wie ihre Ahnen schon zur Zeit des Tempels. Sind
keine Leviten anwesend, ist es die Aufgabe der Erstgeborenen. Fehlen
auch sie, vollziehen die Priester die Waschung eigenhändig. Kanne und
Schüssel, die dafür verwendet werden, sind oft ein kostbarer Besitz der
Synagoge, gelegentlich auch eine Spende aus der fernen Vergangenheit.
Diese Kannen und Schüsseln sind zum Teil wahre Prachtexemplare.
Nachdem der Kantor mit
dem ersten Wort der Einleitung zum Hauptgebet begonnen hat, steigen die
Priester auf den schon weiter oben erwähnten Duchan. Im Volksmund
wurde vom Wort
Duchan das Zeitwort ducheneu hergeleitet, was Sagen des
Priestersegens auf dem Podium bedeutet.
Die Kohanim
verhüllen das Haupt mit dem
Tallith, d. h, dem Gebetmantel, und wenden das Gesicht dem heiligen
Torahschrank zu, bis der Kantor sie aufruft. Nach einer kurzen Pause
spricht der Kantor leise das einleitende Gebet, und auch alle Priester
sprechen gedämpft ein
kurzes Gebet Kommt der
Kantor schliesslich zum hebräischen Wort für Priester, ruft er laut:
"Kohanim!" Das Wort wird stets im Plural gesagt; ist deshalb nur ein
Priester anwesend, wird nichts gesagt.
Dadurch kommt man der
alten Aufgabe ganz im Sinn der Vorschrift nach: nicht etwa Segnen nach
eigenem Gutdünken, sondern im Auf trag der Gemeinde, wobei dem Aufruf
ihres Gesandten Folge geleistet wird. Und in diesem Sinn werden denn
auch die Bibelworte: "So sollt ihr sagen zu den Kindern Israel!"
verstanden. Sobald nun das Wort
Kohanim ertönt, wenden die Priester der Gemeinde das Gesicht zu und
heben die Hände unter dem Gebetsmantel bis auf Schulterhöhe hoch. Denn
sie legen sie ja im Namen G'ttes - der jetzt als Adonai, d. h.
der Herr, bezeichnet wird - auf die Kinder Israel. Ihre Finger sind
dabei gespreizt, schliesslich halten sie den Segen nicht in den
geschlossenen Händen. Er kann nur aus der Höhe hinabkommen, nicht
dagegen aus ihren Händen. Nachdem sie gemeinsam den einleitenden Spruch
laut gesagt haben, spricht der Kantor die Worte der drei Bibelverse
einzeln vor, die sie Wort für Wort wiederholen: Ihnen werden die Worte
also praktisch in den Mund gelegt.
Zwar geschieht das so,
um Verwirrung zu vermeiden; gleichzeitig beweist es aber auch, dass
ihnen durch diese Pflicht, die kein Privileg ist, keinerlei Sonderrechte
entstehen. Während des ganzen Aktes bleiben ihre Hände mit dem
Tallith, d. h. dem Gebetmantel, bedeckt, und zwar nicht nur wegen
der Feierlichkeit des Aktes, sondern auch, um zu verhindern, dass ein
Gemeindemitglied einen kritischen Blick auf diese Hände wirft. Denn
jeder Nachkomme Arons wird aufgerufen, und je der soll unbefangen den
Duchan besteigen, auch derjenige, an dessen Händen die Arbeit Spuren
hinterlassen hat. Die Kohanim weiden nicht besonders zugelassen,
weder von der Gemeinde noch von den Priester. Die zuerst genannten geben
nichts, und die zweitgenannten erhalten das, was sie empfangen, direkt
von G'tt. Von den Priestern erwar ten darf man lediglich Ergebenheit im
G'ttesdienst, eine gehobene Stimmung und Sanftmut. Die
Gemeindemitglieder müssen keineswegs zu den Priestern emporblicken; sie
nehmen nur eine andächtige Haltung an wie Menschen, die auf einen Segen
warten und ihn gern auf das leicht gebeugte Haupt entgegennehmen
möchten.
Die beiden erhobenen
Hände, deren Daumen sich berühren, sind ein Sinnbild für die Nachkommen
Arons geworden, genau wie die schräg gehaltene Kanne und die Schüssel
darunter, die das Wasser auffängt,
einen Waffenschild für
die Nachkommen aus dem Stamm Levi bilden. Sie sind auf vielen
Gegenständen dargestellt. Sieht man auf einem Sarg die Hände, kann man
daraus schliessen, dass hier ein Sohn Arons begra ben ist; wurden Kanne
und Schüssel auf einen Grabstein gemeisselt, ist es die letzte
Ruhestätte eines Nachkommens von Levi.
Inzwischen braucht
wohl kaum noch ausdrücklich erwähnt zu wer den, dass auch der
Priestersegen nicht etwa einfach laut aufgesagt wird. Dafür gibt es
traditionelle Melodien, deren Singweise den verschiedenen Feiertagen
angepasst ist.
In manchen Gegenden
singen die Kohanim
im Chor, in anderen singt der Kantor, das hängt ganz vom Geschmack der
Gemeinde ab. Auf jeden Fall erklingt nach jedem Satz ein "Amen" als
Antwort zurück. Nach dem Segensspruch wenden die Priester das Gesicht
wiederum dem heiligen Torahschrank zu, nehmen den Gebetmantel vom Haupt
und sagen leise: G'tt, wir haben unsere Pflicht erfüllt, gebe du jetzt
deinen Segen." Damit geht der Priestersegen zu Ende, und der Kantor
spricht die Schlussworte des Hauptgebets.
DIE PREDIGT IN DER
SYNAGOGE
HALACHA
UND
AGGADAH
Auch die Predigt kann
auf ein sich wandelndes Geschick zurückblicken. In der Synagoge selbst
ist sie verhältnismässig jungen Datums, trotz der Tatsache, dass
öffentliche Vorträge über G'ttesdienst und Judentum, die auf der Bibel
beruhen oder mit ihr zusammenhängen d. h. eine Predigt im eigentlichen
Sinn, in Israel in eine weit entfernte Vergangenheit zurückreichen.
Das Judentum wurde in
jedem Bereich, in allen seinen Äusserungen und in seinem ganzen Leben
nach der Lehre immer wieder zu dem in der Heiligen Schrift Geschriebenen
zurückgeführt. Jede rechtliche Bestimmung, jeder feierliche Akt und
jeder Brauch, der nicht direkt und unzweideutig in der Heiligen Schrift
erwähnt wurde, musste sich mindestens aus ihr ergeben, ihr entliehen,
von ihr hergeleitet und erklärt worden sein. Erst dadurch erhielt er
Weihe und Gültigkeit. Nichts durfte vom Ursprung gelöst, nichts in der
Luft hängen bleiben. Schliesslich konnte es nur eine einzige Lehre
geben. Was nicht direkt in der Bibel stand, aber trotzdem im Leben als
theoretische Idee oder praktische Handlung üblich war und von Mund zu
Mund weitergegeben wurde, konnte letzten Endes nur aus einer einzigen
Quelle stammen. Demnach musste es möglich sein, zu ihr zurückzufinden,
um aus ihr schöpfen zu können. Dazu waren Gelehrsamkeit und
Geschicklichkeit notwendig. Sie musste der zukünftige Lehrer bei seiner
Ausbildung er werben. Für den Vortrag in diesem Bereich, insbesondere
was die allgemeine Verständlichkeit dieses Wissens bei öffentlichen
Vorträgen an betraf, war die Rhetorik eine der wichtigsten
Voraussetzungen.
Dieses Verfahren, um
den Zusammenhang zwischen Leben und Lehre freizulegen, also unter
anderem auch das Quellenstudium, wird in der talmudischen Terminologie
als Darasch, d. h. Untersuchung, bezeichnet. Der Gelehrte, der
sie gebraucht und ihre Ergebnisse vorträgt, wird als Darschan, d.
h. Prediger, Erklärer, bezeichnet, und die Rede selbst heisst
Derascha, d. h. Predigt, Ansprache. Im Grunde genommen waren die
berühmten Begründer bekannter Schulen in der sehr weit zurückliegenden
Vergangenheit, die schon vor unserer Zeitrechnung wirkten,
Darschanim.
Als dann die Synagoge
zum Treff- und Mittelpunkt des jüdischen Lebens wurde, ist eine
Derascha dieser Art wahrscheinlich des öfteren in ihr gehalten
worden. Anfangs befasste sie sich vor allem mit praktischen
Angelegenheiten wie rechtliche Richtlinien, Zeremonien und Bräuche, die
das Leben entsprechend fester Grundsätze leiteten: mit der Halacha,
d. h. den religiösen Bestimmungen.
Aus diversen Gründen
weitete sich der Bereich
der Derascha jedoch verhältnismässig schnell aus. Denn auch die
nicht greifbaren Lebensgrundlagen - die Grundsätze, nach denen sich die
greifbare Wirklich keit richten sollte, die Ideen, die in Taten
umgesetzt wurden, sowie die geistigen Begriffe und Werte, die für das
Leben notwendig sind - bedurften einer Aufklärung. Ebenso wenig konnte
das Bedürfnis nach Verinnerlichung und Trost auf die Dauer ausser acht
gelassen werden. So wie die Richtlinien für das tägliche Leben aus der
Bibel stammten, so fand man auch alle Gedanken über das Leben in der
Heiligen Schrift.
Damals war der
Darschan noch nicht regelmässig tätig, noch war er Bestandteil der
Andachtsübungen in der Synagoge. Seine Vorträge hielt er im allgemeinen
auf dazu einberufenen Zusammenkünften im Beth Hamidrasch, d. h,
dem Lehrhaus, oder auch auf anderen Versammlungen; der Vortrag in der
Synagoge während des G'ttesdienstes war die Ausnahme.
Während der ersten
Jahrhunderte, in denen sich diese Deraschim entwickelten,
entstand parallel dazu eine umfassende und wichtige Literatur - der
Midrasch, d. h. die Erklärung halachischer und aggadischer
Schriften; der Name wurde aus dem Wortstamm von Darasch gebildet,
der in dieser merkwürdigen Bibelexegese enthalten ist. Und hier nähert
sich die Derascha auch schon stärker der Predigt in bezug auf
Unterrichtsmaterial und Themenvielfalt. Allerdings wird von Grund auf
unterschiedlich behandelt. Dem Augenschein nach ist die Derascha
die Erklärung von Bibelversen und -zitaten, die tatsächlich oder auch
nur scheinbar erklärt werden müssen. Gewisse Schwierigkeiten liegen
tatsächlich vor, andere werden einfach hineingelegt. Um die
Schwierigkeiten näher zu untersuchen, werden weitere Verse zitiert, die
zu den ersten anscheinend im Widerspruch stehen. Dem folgen weitere
Zitate, die den Widerspruch aufheben. Das Ganze ist stets durchflochten
mit Erzählungen, Allegorien und Symbolen, unter Um ständen auch
ausgesprochen gewagten, in denen Bibelgestalten und himmlische Wesen
eine Rolle spielen. Hier steht die Erklärung im Vordergrund, die Moral
wird in der Behandlung des Textes dagegen sozusagen ganz beiläufig nach
allen Seiten hin verbreitet. In diesem dichterischen
Midrasch ist ein ganzer Schatz tiefer Weisheit verborgen. Er ist
das Wesentliche, die Texterklärung ist dagegen oft nur Nebensache.
Häufig handelt es sich deshalb nicht etwa um eine Auslegung, sondern
eher um ein Hineinlegen von Gedanken, die von ausser halb des Textes
kommen.
Eine solche Behandlung
des Bibeltextes wird als
Aggadah, manch mal auch Haggada bezeichnet. Man sollte sie
nicht mit der Pessah-Haggada verwechseln, der Ostererzählung, die
an den ersten beiden Passahabenden im Familienkreis vorgetragen wird.
Übrigens enthält auch diese Pessah-Haggada aggadischen Stoff.
Dieser Hinweis war notwendig, weil diese Verwechslung häufig vorkommt.
Schliesslich machte
die Derascha ein drittes Entwicklungsstadium durch. Zu einem
späteren Zeitpunkt betrachtete der Darschan so wohl Bibelvers wie
Midrasch als schon festgelegt, als seinen Ausgangspunkt. Damit
eröffneten sich dem gewandten Geist unerschöpfliche Möglichkeiten. Gab
der Midrasch vor, eine Texterklärung zu sein - was er in
Wirklichkeit jedoch keineswegs ist -, die häufig Widersprüche in den
einzelnen Absätzen enthielt, konnte der Redner von jetzt an Text und
Midrasch so behandeln wie anfangs nur den Text allein. Eine so
vorgetragene Derascha nimmt oft eine erstaunliche Form an: Sie
zeichnet sich durch klare Vernunft, viel Witz und einen noch schärferen
Geist aus, der überall sichtbar wird, weiterhin durch Gemütswärme und
Beseeltheit, die gleichzeitig die religiöse Moral mit teilen. Vor allem
das letztgenannte Element trat in der Rede in jener Zeit immer stärker
als beabsichtigter Zweck hervor, und damit näherte sie sich der Predigt.
Aber zu diesem
Zeitpunkt wurde die
Derascha noch nicht in der Synagoge gehalten. Zwar wurden mit der
Zeit einige Schabbattage für Vorträge in der Synagoge vorgesehen,
allerdings beschränkten sie sich noch überwiegend auf halachisches
Material. Auch war es schwierig, solch einen Vortrag in den synagogalen
Dienst einzuschieben. Das galt insbesondere für die Juden in
Deutschland. Im Laufe der Zeit hatten sie ihre Liturgie um neue Zusätze-
Pijutim, ein griechisches Lehnwort für Gedichte - erweitert und
bereichert, die umfassender als die der portugiesischen Juden waren. Für
eine Derascha hatten sie weder Platz noch Zeit, und in der
Synagoge bestand wenig Nachfrage nach ihr. Die Sprache, in der der
Darschan
den Vortrag hielt, war natürlich Jiddisch. Trotzdem wurden die Vorträge
auf hebräisch aufgezeichnet und her ausgegeben. Diese Literatur hat
einen ziemlich eindrucksvollen Umfang angenommen.
Die Französische
Revolution und das Zeitalter Napoleons haben zu einem beträchtlichen
Wandel des jüdischen Lebens - vor allem in Westeuropa - geführt.
Allmählich wurden die Juden als gleichberechtigte Bürger von der
Gesellschaft akzeptiert. Deshalb bemühten sie sich fieberhaft, diese
neuen Bedingungen zu nutzen, sich ihnen würdig zu er weisen und sich in
allen Bereichen dem vorherrschenden Lebensstil an zupassen. So mancher
Fürst strebte nach bestem Können danach, den Juden ein besseres Leben zu
sichern, damit sie ihrem Staat nützlicher wären. Eines der bedeutendsten
Opfer, das sie brachten, war die jiddische Sprache. So mancher Herrscher
ordnete den Gebrauch der Landessprache auch in jüdischen Schulen und
religiösen Lehrvorträgen der Rabbiner an. Im Königreich Westfalen - wo
Napoleons Bruder Jerôme regierte - passte der liberal-religiöse
Hofbankier in Kassel, Israel Jacobson, der dem königlich-westfälischen
Konsistorium der Israeliten vor stand, den gesamten synagogalen Dienst
dem Vorbild des G'ttesdienstes in der evangelischen Kirche an. Er, der
kein Rabbiner war, zog Barett, Talar und Beffchen an und stieg in seiner
Synagoge in Kassel auf die Kanzel (in der gleichen Synagoge liess er
übrigens eine Orgel ein bauen). Jetzt wurden Kanzel und Predigt
Mittelpunkt des G'ttesdienstes. Diese Reform wurde mehr oder weniger
konsequent durchgeführt. Die Synagoge mit Orgel und Chor, in der die
Landessprache das Hebräische fast völlig oder doch grösstenteils
ersetzte, wurde vorwiegend als Tempel bezeichnet. Von dort aus hat sich
die Reform in andere Städte der deutschsprachigen Länder, weiter nach
Amerika und in alle anderen Weltteile ausgebreitet, in die die Juden im
Verlauf der letzten einhundert Jahre eingewandert sind. Der neue
G'ttesdienstvortrag in der Landessprache, der in Form und Sinn fast
völlig der Kirchenpredigt angepasst war, und die modernen jüdischen
Kanzelredner in den Reformtempeln erregten grosses Aufsehen. Auch viele
Nichtjuden kamen, um sie zu hören. Männer wie F. E. D. Schleiermacher,
deutscher Philosoph und evangelischer Theologe, mischten sich oft unter
die Zuhörer jüdischer Prediger, die Anregungen von ihm akzeptierten und
von denen er seinerseits lernte.
Ein bedeutender Teil
des Judentums hat allerdings die ganze Reform, dieses Kind der
Assimilierung, rundweg abgewiesen. Und doch mussten Zugeständnisse
gemacht werden. Die Predigt wurde übernommen, und zwar in der
Landessprache, genau wie die Kanzel in der Synagoge. Und auch der Talar
samt Barett und Beffchen. Daneben hat das orthodoxe Judentum jedoch die
vollständige Liturgie aus der Vergangenheit beibehalten, einschliesslich
den Pijutim und den überlieferten Melodien. Für die Predigt wurde
nichts gestrichen, nicht einmal vorübergehend. Deshalb kann die Predigt
in der orthodoxen Synagoge eigentlich als eine Einfügung betrachtet
werden, keineswegs als ihr wichtigster Teil, und sie steht keineswegs im
Mittelpunkt. Daher gibt es in einer ganzen Reihe von Synagogen, die ohne
eine Predigt im G'ttesdienst geplant worden waren, keine Kanzel, und sie
muss für jede Predigt irgendwie provisorisch aufgestellt werden.
Eine Predigt wird zu
festen Zeiten gehalten, aber nicht an jedem Schabbat. Gibt es keine
Predigt, wird auf jeden Fall gelernt. Denn der Rabbiner mag zwar ein
Prediger sein, zuerst ist er jedoch der Lehrer seiner Gemeinde, ihr
Dozent in den jüdischen Wissenschaften. So wie einst die alte
Derascha schon den Erfordernissen ihrer Zeit angepasst war, so
behandelt auch die Predigt in der Synagoge vor allem jüdische Fragen.
Als eine homiletische Betrachtung ist sie dem Judentum Wegweiser und
Richtlinie für die Gegenwart und die unmittelbar bevorstehende Zukunft.
Hier steht die religiöse Predigt im Vordergrund -genau wie bei den
Propheten, selbst wenn sie sich mit politischen Problemen befassten.
Ebenso wenig ist die
alte Derascha
verschwunden; sie wird allerdings ausserhalb des synagogalen Dienstes
gehalten. |