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Koscher leben...
 
 

Die Synagoge

Will man wissen, was die Synagoge, das jüdische G'tteshaus, ist, darf man sie nicht mit der allgemeinen Vorstellung vergleichen, die man von einem G'tteshaus aus der näheren Umgebung hat. Zuerst müsste man das Bild der Kirche völlig aus den Gedanken verbannen. Denn allein ihr Name beinhaltet etwas ganz anderes: Das griechische Wort "Synagoge" gibt denn auch sinngemäß den hebräischen Ausdruck Beth haKneseth wie der, was "Haus der Versammlung", "der Zusammenkunft" bedeutet. Und dieser Begriff bringt genau das zum Ausdruck, was sie ist. Aber im jüdischen Volksmund hat sie eine andere, viel treffendere Bezeichnung.

Im Laufe der vielen Jahrhunderte, als die große Mehrheit der Juden in deutschsprechenden und slawischen Ländern unterdrückt und immer wieder vertrieben lebte, als sie aus der allgemeinen Gesellschaft gestoßen wurde und man sie zwang, abgesondert in eigenen Gegenden und Stadtvierteln zu wohnen, schuf sie sich allmählich eine eigene Umgangssprache. Von allen europäischen Sprachen beherrschten die meisten Juden am besten das Mittelhochdeutsche. Als sich dann in Osteuropa, wo man slawische Sprachen sprach, jüdische Zentren bildeten, die zunehmend mehr Juden anzogen, die den Schwierigkeiten entflohen, hielten sie an ihrer Sprache, dem Mittelhochdeutschen, fest. Sie brachten sie mit sich mit, bereicherten sie mit Ausdrücken aus der Sprache ihrer neuen Heimat. Daneben gebrauchten sie auch hebräische Wendungen aus der Bibel, aramäische aus der Talmudliteratur und neuhebräische aus den rabbinischen Schriften, und auch sie wurden in ihre tägliche Umgangsprache eingegliedert. Auf diese Weise wurde das Jiddische geboren, die Sprache, in der sich die Juden am heimischsten fühlten. Im Verlauf vieler Jahrhunderte und inmitten der verschiedensten Landessprachen wurde das Jiddische die Sprache der Juden, an sie gewöhnten sie sich wie die Menschen in der Provinz oder der Dorfbewohner an seine Mundart. Und nur in ihr kann man sich voll verständigen, kommt sich wirklich nahe, spricht die Seele zur Seele. Das ist die eigentliche Volkssprache. Und in dieser Volkssprache heißt die Synagoge Schul, d. h. die Schule. Damit ist schon viel gesagt, aber noch nicht alles.

Wo war die Synagoge am lebendigsten?
Wo lag sie am häufigsten in den Zentren mit einer großen jüdischen Bevölkerung?

Der Puls des Judentums schlägt am lebendigsten dort, wo "gelernt" wird. Hat sich an einem Ort eine Gruppe von Juden niedergelassen, kommen sie schon bald zusammen, um gemeinsam zu lernen. Sie kaufen Bücher, treffen am Sabbat und am Feierabend nach der Arbeit zusammen und setzen sich unter dem Vorsitz desjenigen an einen Tisch, der sich berufen fühlt, sie zu leiten, oder den sie als dafür geeignet betrachten, und sie fangen an zu lernen. Und je nach dem Umfang ihrer Vorbildung im Bereich des Judentums studieren die Teilnehmer die fünf Bücher Moses mit dem allgemein beliebten Raschi-Kommentar ; den Schulchan Aruch mit seinen genauen Anweisungen zum täglichen Leben oder eine seiner "Kurzfassungen", von denen es mehrere gibt, auch solche, die gar nicht so kurz sind; die Bibel allgemein, mit oder ohne Kommentaren; die Mischna, die den Kern des Talmud bildet, aber ohne die Erläuterungen und Diskussionen, die schon von besonderen Kommentatoren gesammelt, stark zusammengefasst und niedergeschrieben wurden, oder auch den Talmud selbst. Den jedoch im allgemeinen weniger häufig, weil es zumindest in den Ländern des Westens dafür kaum die Instruktoren mit dem nötigen Fachwissen gibt, genauso wenig wie die dafür vorgebildeten Zuhörer.

Das Zimmer, in dem gelernt wird, ist der Ort der Zusammenkunft. Es ist das Beth Hamidrasch, d. h. das allen zugängliche Unterrichtszimmer. Fast alle wichtigen jüdischen Zentren, praktisch jede jüdische Gemeinde besitzt mehrere solcher Unterrichtszimmer, die immer, Tag und Nacht, offen stehen. Und praktisch halten sich denn auch immer Besucher in ihm auf, entweder sitzen sie in kleinen Gruppen zusammen, oder es sind Einzelgänger.

Und gleich wird auch der Unterrichtssaal zum Gebetshaus. Die Zusammenkünfte, bei denen der Geist Nahrung erhält, werden so geregelt, dass sie mit den für den G'ttesdienst bestimmten Zeiten zusammenfallen. Und der G'ttesdienst findet direkt im Unterrichtssaal statt. Was allerdings nicht bedeuten soll, dass der G'ttesdienst blosse Zugabe wird. Im Gegenteil, dadurch wird er erhoben. Seit jeher erfreute sich das Unterrichtszimmer bei den Juden einer größeren Wertschätzung und war wichtiger für das Judentum als das Gebetshaus. Wer sich dem Studium widmet, hat viele andere religiöse Pflichten damit aufgewogen. Denn schon immer wussten die Juden, dass Wissen auch Macht und Stärke ist. Ja, das Wesen selbst des Judentums basiert auf dem Studium, auf der Wissenschaft des Judentums. Wer sich in diese Kultur einlebt, wer sie sich aneignet, der stützt sich auf sie und überliefert sie auch. Das gilt immer und überall, insbesondere jedoch zu solchen Zeiten und unter solchen Umständen, in denen die Juden von anderen, mächtigen Kulturen umgeben sind und unzählige, vielfache und fremde Strömungen in sich aufnehmen.

So wurde aus dem Unterrichtszimmer auch die Synagoge, die gleich bedeutend wurde mit dem Unterrichtssaal. Und deshalb wurde sie im Volksmund als Schul, d. h. Schule, bezeichnet. Diesen Namen hat sie dann auch beibehalten, selbst wenn sie in den meisten Fällen schon längst nicht mehr die weiter oben ausgeführte Aufgabe erfüllt und keine Schul mehr ist.

DAS JÜDISCHE GEBET - SPRACHE UND FORM

Die Synagoge wird auch als Beth Tefilla d. h. Gebetshaus, bezeichnet. Trotzdem ist Beten im allgemein akzeptierten Sinn nicht das typische Merkmal für den G'ttesdienst in der Synagoge. Man betrachte zum Beispiel ein Gebetbuch oder Sidur. Es ist auf hebräisch. Es gibt Ausgaben mit einer deutschen Übersetzung neben dem Originaltext. Die Ge bete werden jedoch auf hebräisch gesprochen, insbesondere, wenn es Gebete für die ganze Gemeinde sind. Die Gebete dürfen nur dann in der Landessprache gesagt werden, wenn der Betende allein ist, wenn sonst niemand von der Gemeinde anwesend oder er selbst nicht der Hebräischen Sprache mächtig ist. Damit soll keineswegs vorgegeben werden, dass jeder Jude und jede Jüdin Hebräisch kann; ganz im Gegenteil. Ich befürchte, dass das nur für eine Minderheit gilt. Aber selbst wer einen hebräischen Text übersetzen kann,muss sich noch lange nicht in den Geist der Sprache versetzt haben, Und viele, die zwar mit der hebräischen Gedankenwelt vertraut sind, sind in dieser Sprache jedoch weniger zu Hause als in der, die sie im täglichen Leben gebrauchen. Trotz dem wurde zu einem bestimmten Zeitpunkt beschlossen, dass alle G'ttesdienste auf hebräisch gehalten werden. Sollte das etwa bedeuten, dass damit weniger ein religiöser als vielmehr ein pädagogischer und national-jüdischer Zweck verfolgt wurde? Der Religion wäre wahrscheinlich besser mit dem Gebrauch der Umgangssprache gedient. Ich sage "wäre", denn sofort werden einige das Argument vor bringen, keine andere Sprache könne die kraftvolle, intensiv warme, andächtige Ausdruckskraft der Originalsprache der Bibel wiedergeben. Zumindest sollte man eingestehen, dass diese Wärme und das "Gefühl" für die Sprache wesentliche Faktoren sind.

Allerdings gibt es dafür noch einen weiteren Grund. Das Gebet auf hebräisch hat auch einen lebenswichtigen Beitrag in ganz anderer Hin sicht geleistet. Indem wir eine Sprache bewahren, bewahren wir auch die Seele ihres Volkes - und seine Einheit. Der Gebrauch des Hebräischen als die Sprache aller wirkt wie ein mächtiges Bindemittel. Hebräisch schützt und bewahrt die jüdische Solidarität. Ebenso kündet und zeugt es von Israels Zusammenhalt im Exil. Wäre Hebräisch als die Sprache des Gebets verschwunden, hätten sich die Synagogen in den Ländern der Zerstreuung voneinander entfernt, damit hätte ein unaufhaltsamer Assimilationsprozess eingesetzt. Dank des Hebräischen konnte die Synagoge auch in dieser Hinsicht ihre Stellung als "Schule" der Juden wahren, als ihr Urquell und deshalb auch als ihr Bollwerk.

Wer den Sidur durchblättert und einige Seiten liest, wird bald fest Stellen, dass nur wenige Passagen als Gebete im herkömmlichen Sinn von "Bittgebet. bezeichnet werden können. Zum grössten Teil besteht der Inhalt aus Psaltern, wörtlich aus den 150 Psaltern der Bibel zitiert; weiterhin aus Passagen aus den fünf Büchern Mose; besonders verfassen Hymnen, viele von ihnen so alt, dass sich ihr Ursprung im Dunkel der Geschichte verliert, sowie historischen Diskursen und liturgischen Meditationen. Wirkliche Gebete bilden den geringsten Teil des Textes, der sonst hauptsächlich Lob und Huldigung und Dank an den König der Könige zum Inhalt hat, weiterhin Überlegungen über die Herrlichkeit des Schöpfers und seiner Werke; Betrachtungen über die eigene Schwäche und die moralische Schwäche und Sündhaftigkeit des sterblichen Menschen im allgemeinen und schliesslich Versicherungen der ewigen Liebe für unseren himmlischen Vater.

Alles - oder praktisch fast alles - ist im Plural geschrieben. Und die wenigen Gesuche oder Bittgebete, die man findet, wurden allem An schein nach auch in der Mehrzahl verfasst: von der Gemeinde, zum Wohl der Gemeinde. Das gilt auch für die vorgeschriebenen Gebete. Private Bittgebete d. h. vorgeschriebene Gebete in der Einzahl für den einzelnen Menschen - gibt es nur sehr wenige. Eine Ausnahme ist das Gebet vor dem Schlafengehen. Aber selbst hier sind nur die ersten ein leitenden Sätze für den allein Betenden bestimmt. Selbstverständlich wird dieses Gebet nie vor anderen gesagt. Es ist ausschliesslich für die Abgeschlossenheit unseres Schlafzimmers bestimmt, für die letzten Augenblicke des stillen Zwiegesprächs mit G'tt. Denn schon beim Tisch gebet nach dem Essen wird automatisch vorausgesetzt, dass der Betende zusammen mit anderen G'tt für die erhaltene Mahlzeit dankt. Alle kollektiven Bedürfnisse werden in gemeinschaftlichen Begriffen und in der alten Sprache der Gemeinde zum Ausdruck gebracht. Für die privaten Bittgebete ist keine besondere Form vorgeschrieben. Hier bringt oder stammelt jeder sein eigenes Anliegen in der Form vor, wie es ihm über die Lippen kommt. Aber nicht einmal Worte sind notwendig: auch ein Gedanke reicht schon und manchmal ist ein Seufzer beredter als Tausende von Worten.

Wer trotzdem in einem jüdischen Gebetbuch mehrere persönliche Gebete findet, dann zweifelsohne getrennt in einem Kapitel am Ende. Sie sind jüngeren Datums und nicht auf hebräisch, und sie kamen hinzu, "um eine lang empfundene Lücke zu füllen ..."

Wozu dienen nun diese im Singsang vorgetragenen Psalter, Hymnen, Bibelpassagen, Benediktionen, dringenden Gesuche und Ermahnungen, die alle von anderen verfasst wurden? Sie sollen Gedanken und Erinnerungen neu beleben, die verschüttet oder sogar gestorben sind, und sie erneut auf all die Vorstellungen und Eindrücke lenken, die vergessen sind oder sogar auszulöschen drohten. Sie sollen unser religiöses Bewusstsein neu wecken und ein Empfinden für unsere innere Geistigkeit zurück ins Leben rufen. Es ist eine Übung: eine Übung in Selbstdisziplin, der eigenen Erbaulichkeit, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Darüber hinaus soll auch das Band, der Anschluss zu G'tt, wiederhergestellt werden.

In diesem Sinn hat der regelmässige Gemeindegottesdienst den Opferdienst und den damit verbundenen Kult mit seinen Taten und Worten ersetzt. In der Antike hatten die Opfer im Grunde genommen die gleiche Bedeutung. Die Wurzel des hebräischen Wortes Korban ist "sieh nähern", d. h. das Opfer sollte die Verbindung herstellen, In der (lateinischen) Kirche hat das Wort Opfer eine völlig andere Bedeutung: dort bedeutet es eine Gabe, ein Geschenk, um (wieder) die Gunst G'ttes zu gewinnen. Es wäre somit falsch, das hebräische Korban mit "Opfer" zu übersetzen.

Wenn man den Gemeindegottesdienst, das gemeinsame Vortragen der vorgeschriebenen Liturgie, in diesem Licht betrachtet und abhält, wird er ein äusserst religiöser Akt, eine Übung, religiös zu sein. Deshalb ist die Synagoge allgemein -und durchaus treffend - mit dem mittel hochdeutschen (und jiddischen) Wort "Schul" bezeichnet worden.

Wer eine Synagoge mit den üblichen Vorstellungen betritt, die er von einer Kirche hat, wird eigenartig fremd berührt sein vom Aussehen der Synagoge innen und ihrer Einrichtung.

Hier soll noch eine Anmerkung vorausgeschickt werden: Wenn von der Synagoge die Rede ist, ist damit die alte, die traditionelle Synagoge gemeint, die sich bis zum heutigen Tag erhalten hat. Nicht gemeint damit ist die Synagoge, die der protestantischen Kirche nachempfunden ist und zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Deutschland erstmals gebaut wurde. Das ist keine Synagoge mehr, sondern der Tempel des Reformjudentums, das dieses Gebäude denn auch vorwiegend Tempel und nicht mehr Synagoge nennt.

 

DAS INNERE DER SYNAGOGE

Betritt man eine Synagoge, fällt einem sofort auf, dass sie in zwei Teile geteilt ist: einen für die Männer und der zweite für die Frauen. Die Frauenabteilung befindet sich meistens auf einer Galerie oder einem Balkon, oder sie schliesst sich unmittelbar dem Raum für die Männer an, und zwar ebenerdig oder erhöht oder auch zu beiden Seiten rechts und links. Das ist jedoch kaum wesentlich und hängt ganz vom Bauentwurf und dem zur Verfügung stehenden Raum ab. Wie dem auch sei, auf jeden Fall sitzen Männer und Frauen getrennt. Daraus hat man den Schluss gezogen, im Judentum sei die Frau minderwertig, und aus diesem Grund sitze sie in eine Ecke oder auf einen Balkon verbannt. Aber diese Schlussfolgerung ist falsch. Im Gegenteil, die getrennte Sitzanordnung in der Synagoge basiert auf einer ganz anderen Idee als der der Unterlegenheit der Frau. Nebenbei bemerkt gibt es kaum eine andere Gesellschaft, in der die Frau so in Ehren gehalten wird wie in der jüdischen. Denn sie ist die Herrin des HAUSES, oder knapp und treffend, wie der Talmud es sagt: Die Frau - sie ist das HAUS! Und absichtlich steht hier Haus mit Grossbuchstaben. Leider ist es in unserer Zeit ja so, dass das Heim aufgrund der sozialen Verhältnisse oder auch Missverhältnisse häufig nicht mehr den Kern der Gesellschaft bildet. Bei den Juden ist es jedoch immer noch so, und sie möchten es auch so in der Zukunft sehen. Die Frau ist also voll verantwortlich für das Heim. Und dort befindet sich auch der eigentliche Mittelpunkt des religiösen Lebens. Von dort müssen Wärme und Begeisterung ausstrahlen. Denn das religiöse Leben zu Hause beschränkt sich nicht nur auf Gebet, Lesen der Bibel und das sorgfältige Einhalten aller rituellen Vorschriften, die zusammen dazu bestimmt sind, den Herrn zu Hause zu ehren. Wichtig ist auch die Ergebenheit im Haus, die in ihm vorherrschende religiöse Stimmung. Aus diesem Grund ist auch die Mutter voll verantwortlich für die religiöse Erziehung der Kinder, selbst wenn sie persönlich keinen Anteil an Gebet und G'ttesdienst hat Deshalb ist ihr ganzes Leben ein einziger anhaltender Dienst an G'tt, der jeden G'ttesdienst auf wiegt. Und wenn man das eine ganz bewältigen will, bleibt kaum noch Kraft Für das andere. Wenn die Frau also voll ihre Aufgabe als Gattin und Mutter erfüllt, ist sie von der Verpflichtung befreit, auch noch andere Aufgaben während des G'ttesdienstes zu erfüllen. Deshalb beteiligt sie sich nicht im gleichen Umfang am öffentlichen Gemeindegottes dienst wie die Männer, der - davon soll noch später ausführlich die Rede sein - erst durch die aktive Teilnahme aller Anwesenden diesen Namen verdient. Die aktive Teilnahme ist also Aufgabe der Männer, während die eigentliche Aufgabe der Frau auf einem anderen Gebiet liegt. Aus diesem Grund schreibt ihr die religiöse Pflicht nicht einmal den Synagogenbesuch vor - jedenfalls nicht dann, wenn sie seinetwegen eine ihrer häuslichen Pflichten vernachlässigen müsste. Allein schon diese Tatsache, dass sie sich nicht aktiv am G'ttesdienst beteiligt, dass ihr nicht die gleichen Pflichten wie dem Mann auferlegt werden, rechtfertigt die getrennte Sitzordnung. Darüber hinaus war man der Ansicht, dass notwendiger Ernst im G'ttesdienst und die ihm gebührende Aufmerksamkeit gestört werden, wenn Männer und Frauen im gleichen Raum zusammensitzen. Mit der Frage, die uns weiter oben beschäftigte- ob die Frau im Judentum nun als minderwertig gilt oder nicht -, hat das überhaupt nichts zu tun. Wenn jedoch jemand in dieser Hinsicht misstrauisch ist und deshalb auch die Trennung anordnet, dann sind die Männer davon nicht weniger betroffen als die Frauen. Auf keinen Fall kann daraus die Schlussfolgerung gezogen werden, dass die Frau im Judentum eine niedrigere Stellung als der Mann einnimmt.

Mitten in der Synagoge erhebt sich ein Podest. Das ist die Bima, d. h. die Erhöhung. Gelegentlich wird sie auch als Almemmor bezeichnet, was auf arabisch das gleiche bedeutet. Von diesem Podium aus wird die Torah, die an die Menschen gerichtete Lehre, vorgelesen. Und diese Vorlesung ist der wesentliche Mittelpunkt jedes G'ttesdienstes, zumindest jedes Hauptgottesdienstes. Sie ist der Grund dafür, warum überhaupt ein G'ttesdienst abgehalten wird, und deshalb findet er auch stets in Anwesenheit einer Gruppe statt, wovon noch später die Rede sein soll.

Die Torah ist jedoch kein Buch, sondern eine Gesetzesrolle, aus der vorgelesen wird. Jede Synagoge besitzt im allgemeinen mehrere solcher Schriftrollen. Sie sind der am meisten geschätzte Besitz der Gemeinde. Und in der Synagoge wird ihnen sogar ein eigener Platz zugewiesen: die Bundeslade, wie sie in der Vergangenheit hiess, heute der Torahschrein. Er liegt stets an der Ostwand des Gebetshauses. Für ihn wurde in die Wand eine Nische gebaut oder ein Schrank vor die Wand gestellt, und es kann auch ein Schrank in einer Nische sein. Gemäss seiner heiligen Aufgabe als Hüter der Torahrollen ist der Torahschrein entsprechend eingerichtet und geschmückt. Die Juden in Deutschland hängen einen Vorhang vor den Eingang.

Die Bezeichnungen für Bundeslade und Vorhang - Aron Hakodesch und Parochet - gehen noch auf die Lade zurück, in der die steinernen Gesetzestafeln erst in der Stiftshütte und dann in Salamos Tempellagen. Damals stand die Bundeslade im Allerheiligsten, das ein Vorhang vom Heiligen trennte. Im zweiten Tempel, den Esra baute und der später Herodes' Tempel hiess, gab es keine Gesetzestafeln mehr.

Vor dem Torahschrein befindet sich der Amud, das Bet- oder Lese pult. Hier steht der Vorleser oder Kantor, der Chasan, der den G'ttes dienst leitet. Auch auf der Bima, könnte er aus der Torah vorlesen, er muss es aber nicht. Das kann ein anderer auf sich nehmen, und dieser andere wird dann nicht mehr Chasan, sondern Koreh, d. h. Vorleser, genannt.

Um die Bima, herum stehen Bänke für die Synagogenbesucher. Für die Synagogenvorsteher wird meistens eine Bank ganz in der Nähe der Bima bereitgestellt. Aber es ist keine Pflicht, keine Vorschrift. Häufig stehen alle Bänke an der hinteren Wand und blicken nach Osten, ebenso oft stehen sie zur Mitte, zur Bima, hin angeordnet. Das alles ist jedoch ziemlich nebensächlich. Neben dem Platz für die Sitzbänke gibt es ausser dem Lesepult meistens auch noch einen Schrank, in dem die für den G'ttes dienst benötigten Bücher und Ritualgegenstände aufbewahrt werden.

 

DIE TORAHVORLESUNG

ANMERKUNGEN ZUM KALENDER

Innerhalb eines Jahres werden alle fünf Bücher Mose in einem vorgeschriebenen Zyklus vorgelesen. Jedes Jahr wird von vorne angefangen. Für jeden Schabbat eine Passage, einen Wochenabschnitt. Demzufolge werden die fünf Bücher Mose in genau so viele Abschnitte eingeteilt, wie es im Jahr Schabbattage gibt. Aber nicht immer ist es die gleiche Anzahl.

Denn der jüdische Kalender richtet sich nach dem Mond. Jedes Jahr besteht aus Monden, d. h. Monaten. Ein Monat ist die Zeit, die der Mond benötigt, um seinen Umlauf um die Erde zu vollziehen, nämlich fast neunundzwanzigeinhalb Tage. Selbstverständlich kann ein Monat nicht in der Mitte eines Tages beginnen. Aus diesem Grund hat ein Monat 29 Tage und der nächste 30. In der Regel hat ein Jahr 12 solcher Monate oder 354 Tage. Deshalb ist es durchschnittlich 11 Tage kürzer als das gewöhnliche Kalenderjahr, das sich nach der Sonne richtet. Und selbstverständlich muss auch der jüdische Kalender die Sonne berück sichtigen. Denn davon hängen ja die Jahreszeiten, das Wachstum der Pflanzen, die Landwirtschaft ab. Darüber hinaus sind auch die jüdischen Feiertage, die schon zu biblischen Zeiten gefeiert wurden, eng damit verbunden. Das Passah-Fest muss im Frühling gefeiert werden, in dem Monat, in dem in Israel die Ähren reifen.

Das Wochenfest, Schawuot, als die ersten Früchte in den Tempel gebracht wurden, muss sieben Wochen später, am fünfzigsten Tag stattfinden, wenn schon der erste Weizen gereift ist. Und zum Laubhüttenfest, Sukkot, müssen schon alle Feldfrüchte geerntet worden sein. Deshalb dürfen diese elf Tage, die dem Mondjahr im Vergleich zum Sonnenjahr fehlen, nicht einfach unbeachtet gelassen werden. Irgendwie muss man sie ein schieben. Sonst würde das Passahfest schon nach einigen Jahren im Herbst und das Laubhüttenfest im Frühling oder Winter gefeiert wer den. Der Unterschied wird durch das Einschieben eines zusätzlichen Monats wieder wettgemacht In diesem Fall hat das Jahr dreizehn Monate. Und ein solches Jahr wird als Schaltjahr bezeichnet. Man kann es auch so ausdrücken: Das jüdische Jahr hat so viele Monate, wie es Mondmonate in einem Sonnenjahr gibt, das heisst, zwölf volle Monate und einen angebrochenen. Aus Gründen, die aus sozialer Sicht und auch von der Ordnung her einleuchten, ist es jedoch unmöglich, nur diesen einen kleinen Teil als Kurzmonat in ein Jahr einzuschieben. Er wird zusammen mit den sich anschliessenden Teilen aufgehoben, bis er schliesslich einen vollen Monat bildet. Innerhalb von 19 Jahren beträgt der Unterschied zwischen Sonnen- und Mondjahren abgerundet 210 Tage. Deshalb gibt es in einem Zyklus von 19 Jahren sieben jüdische Schaltjahre.

Aus diesem Grund ändert sich die Anzahl der Wochen pro fahr genau wie die der Schabbattage. Die fünf Bücher Mose sind nun jedoch in 54 Wochenabschnitte eingeteilt. Ein gewöhnliches Jahr mit 354 Tagen hat dagegen nur 50 oder 51 Schabbattage. An Feiertagen werden, auch wenn sie auf einen Schabbat fallen, die Passagen aus den fünf Büchern Mose vorgelesen, die sich auf das betreffende Fest beziehen. Der eben falls fällige Wochenabschnitt wird dann für den ersten freien Schabbat aufgehoben, der auf das Fest folgt. Deshalb müssen des öfteren zwei aufeinanderfolgende Abschnitte zusammen vorgelesen werden, und es gibt denn auch bestimmte Abschnitte, die speziell für diese doppelte Vorlesung vorgesehen sind.

Die Torahvorlesung ist gemäss dem Kalender so eingeteilt, dass die gesamten fünf Bücher Mose mit dem letzten Teil - Moses Segen und Tod - am letzten Tag des letzten Festes zu Ende gelesen werden, mit dem das Laubhüttenfest und die Folge der Feste abgeschlossen wird. Am gleichen Tag und sofort nach dieser letzten Vorlesung wird erneut mit dem 1. Buch Mose begonnen. Das ist in der Synagoge, im G'ttes dienst ein Ereignis, das ein besonderes Ritual kennzeichnet. Deshalb wird der letzte Tag des abschliessenden Festes auch als Simchat Torah, d. h. als Gesetzesfreude, bezeichnet.

Heute erfolgt das Vorlesen aus der Torah von einem dafür zuständigen Mann, dem Koreh. Und er kann auch zugleich der Chasan, der Vorbeter sein, muss es aber nicht sein. Das war aber nicht immer so. In der Vergangenheit wurde eine bestimmte Anzahl von Männern - diese Zahl änderte sich je nach Schabbat, Versöhnungstag, anderen Feiertagen, Voll- und Neumond, Gedenk- und Fastentagen und auch je nach Arbeitstagen nacheinander aufgerufen, um der Reihe nach einen Absatz des angegebenen Abschnitts aus der Torah vorzulesen. Wie jedoch schon weiter oben gesagt, besteht der Text in der Gesetzesrolle nur aus

Konsonanten und nicht mehr. Es gibt keinerlei phonetische Zeichen und auch keine anderen Hilfsmittel, nicht einmal die Satzzeichen sind angedeutet. Darüber hinaus wird der Text nur selten als feierliche Deklamation vorgetragen. Orientalische Völker singen beim Sprechen im allgemeinen, und das gilt noch stärker für ihre Gebete. Der im Singsang vorgetragene Bibeltext, wie er sich bei religiösen Zusammenkünften entwickelt hat, begleitet denn auch schon seit frühesten Zeiten jedes einzelne Wort in einem bestimmten Rhythmus. Als die phonetischen Schriftzeichen erfunden wurden, erdachte man für diesen Vortrag ebenfalls kleine Zeichen.

Sie sind in fast allen mit Vokalzeichen gedruckten hebräischen Bibeln enthalten. Jedes Zeichen gibt eine bestimmte Notengruppe an. Anhand dieser Tonzeichen lernt man die Melodie und behält sie. Und in solch einem Singsang muss auch die Vorlesung erfolgen. Und das erklärt auch, warum nicht jeder einfach aus der Gesetzesrolle vorlesen kann. Im Gegenteil. Dazu ist ein allgemein gutes Gedächtnis erforderlich wie auch ein gutes musikalisches Gedächtnis. Nicht jeder Synagogenbesucher wird in der Lage sein, einen willkürlich gewählten Absatz des Wochenabschnittes aus dem Stegreif aus der Torah vorzulesen, noch dazu mit der richtigen Melodie. Trotzdem steht jedem die Ehre zu, ebenfalls zur Torah aufgerufen zu werden, und, wenn es sich um ein besonderes Ereignis handelt, auch schon einmal ausserhalb der Reihe. Der Aus druck aufgerufen werden hat einen leicht hebräischen Beiklang. Die Bima ist ja eine "Erhöhung". Und fast jedes Familienereignis kann solch ein besonderer Anlass sein: die Geburt eines Kindes, die Beschnei dung, die Hochzeit, die Trauerfeier bei Todesfällen, Jahrestage Verstorbener, der Tod von Verwandten und vieles mehr. Schliesslich nimmt die Synagoge teil am Alltagsleben zu Hause, am ganzen Familienleben. Sollen da etwa nur Fachmänner aufgerufen werden? Und die, die nichts davon verstehen oder als solche gelten, einfach übergangen werden? Soll die Torahvorlesung nur das Vorrecht von Fachleuten sein? Oder sollte man dem einen doch die Gelegenheit geben, es selbst zu tun, während für andere ein Dritter die Aufgabe übernehmen sollte? Und gleich zeitig alle anderen beschämen? Noch dazu angesichts der Torah? Das war natürlich nicht möglich. Deshalb wurde das Vorlesen durch den Einzelnen selbst abgeschafft, auch für den grössten Fachmann. Heute kann jeder " aufgerufen werden.. Er sagt den vorgeschriebenen Lobspruch vor- und hinterher, aber der Koreh liest vor.

Nur in einigen Fällen darf der Aufgerufene persönlich seinen Absatz oder einen Teil davon vorlesen. Ein solcher Fall ist der Junge, der drei zehn Jahre alt geworden ist und seine Pubertät und somit aus religiöser Sicht seine Volljährigkeit erreicht hat. Er wird, wenn die erforderliche Anzahl von Aufgerufenen anwesend ist, zum erstenmal zur Torah auf gerufen. Und er darf dann auch persönlich der Gemeinde seinen Absatz vorlesen. Den hat er selbstverständlich vorher gründlich gelernt. Es ist auch verständlich, dass dieser Auftritt für den Jungen, den Bar Mizwa, der von jetzt an mündig ist und seine religiösen Pflichten voll erfüllen muss, ein wichtiges Ereignis ist, dem es nicht an Spannung fehlt. Das gilt für ihn, seine Mutter, seinen Vater und alle übrigen Verwandten. Die ganze Gemeinde nimmt daran lebhaft Anteil. Diese Zeremonie entspricht in ungefähr der Konfirmation in der Kirche. Aber es ist keine Kleinigkeit, zur Torah aufgerufen zu werden, das erste Mal überhaupt, an dem man selbst das Wort aussprechen muss!

Ein weiterer Fall tritt ein, wenn die Aufgerufenen die Ehre haben, zu Simchat Torah (Gesetzesfreude) den letzten Absatz aus der Torah vor zutragen oder am gleichen Tag wieder mit dem 1. Buch Mose anzufan gen: Sie dürfen ihren Absatz aus der Schriftrolle persönlich vorlesen. Im allgemeinen lesen sie nur die letzten Sätze ihrer Parascha (Absatz). Aber auch hier wiederholt der Koreh noch einmal den einen oder ande ren Satz, "um niemanden zu beschämen", denn möglicherweise war die Vorlesung so schlecht oder so fehlerhaft, dass der Fachmann noch einmal darübergehen muss. Um, wie gesagt, niemanden zu beschämen, liest der Koreh den Absatz nochmals vor, gleichgültig, ob der Vortrag des Laien gut oder schlecht war.

Ausser in diesen beiden Sonderfällen kann niemand seine Parascha persönlich vortragen. Selbst wenn ein Koreh in der Synagoge in einem anderen Ort aufgerufen wird, muss er es sich gefallen lassen, dass der dortige Koreh seinen Absatz für ihn vorträgt.

Der Vortrag - und das braucht wohl kaum noch hervorgehoben zu werden - muss ergeben und sorgfältig erfolgen. Der Koreh zeigt jedes einzelne Wort. Allerdings nicht einfach mit dem Finger. Als Zeigestock verwendet er einen Stab, der meistens aus Edelmetall ist und mehr oder weniger kunstvoll bearbeitet wurde, dessen Ende in einer kleinen Hand mit ausgestrecktem Zeigefinger ausläuft. Der Aufgerufene liest leise mit, schliesslich ist es ja sein Absatz. Auch die Anwesenden sollen dem Vortrag folgen, "als ständen sie beim Sinai und vernähmen die Offenbarung aus G'ttes Mund". Sie folgen ihm in ihren gedruckten Bibeln, wo die Worte mit phonetischen Zeichen sowie Lese - und Gesangzeichen versehen sind. Man achtet sorgfältig auf einen deutlichen, gewissenhaften Vortrag, und wenn er fehlerlos in Wort und Melodie ist, wird er hoch eingeschätzt. Andernfalls wurde der G'ttesdienst nicht richtig durchgeführt, und sinnentstellende Fehler müssen beim nochmaligen Lesen korrigiert werden.

Die Reihenfolge, in der die Teilnehmer aufgerufen werden, liegt im Ermessen der Synagogenverwaltung oder ihrer Vorsteher. Darin haben sie ziemlich freie Hand, wie im Rahmen der Vorschriften im Schulchan Aruch festgelegt. Darüber hinaus haben sich selbstverständlich auch örtliche Bräuche entwickelt, denen ebenfalls eine bestimmte Bedeutung zukommt. Die Synagogenbesucher sind verantwortlich für die Über wachung des Vortrags. Im allgemeinen vertraut man sie allerdings dem Rabbiner oder einem anderen Fachkundigen an, der in jedem Fall ent scheidet.

Der Vorsteher steht bei der Torahvorlesung auf der Bima links vom Koreh; er ist es auch, der die Gemeindemitglieder der Reihe nach durch den Koreh, den Synagogendiener oder den dafür Verantwortlichen auf rufen lässt, und zwar im allgemeinen bei ihrem biblischen Namen auf hebräisch. Der Koreh selbst steht vor dem Lesepult, auf dem die Geset zesrolle aufgerollt wird. Der Aufgerufene steht rechts von ihm, und der Rabbiner oder ein anderer Aufsichtführender steht in den meisten Fäl fen auch rechts.

Die Gemeinde beteiligt sich so also ständig aktiv an der Torahvorle sung. Aber daneben nimmt sie an dieser wichtigen Handlung beim G'ttesdienst in der Synagoge auch noch auf andere Arten teil als den bisher beschriebenen.

 

DIE BÜCHER DER PROPHETEN - EHRENÄMTER - MIZWOT

Nur am Schabbatmorgen wird ein vollständiger Abschnitt aus den fünf Büchern Mose vorgelesen. Zum G'ttesdienst am Mittag des gleichen Tages wird vom nächsten Wochenabschnitt nur ein kleiner Teil - im allgemeinen der erste Absatz oder Parascha - vorgetragen, der dann nur an drei Personen verteilt wird. Der gleiche Teil kommt im Verlauf der Morgenandacht am Montag und nochmals am Donnerstag an die Reihe. Dieser Brauch, diese Abschnitte an den beiden genannten Arbeitstagen zu wiederholen, datiert noch aus der Zeit, als Esra die Riten neu regelte. In den grösseren Ortschaften in Israel waren diese Wochentage Markttage, zu denen viele Besucher aus den umliegenden Regionen eintrafen. An diesen Tagen fanden auch öffentliche Gerichtssitzungen statt. Das war eine ausgezeichnete Gelegenheit, die Torah vorzuzeigen und den versammelten Menschen daraus vorzulesen. Das ist der Ursprung der Krijat Hatora, d. h. der Torahvorlesung, die sich bis zum heutigen Tag erhalten hat.

Auf das Lesen des Abschnitts aus den fünf Büchern Mose folgt am Schabbatmorgen und an Feiertagen stets der Vortrag eines Abschnitts aus den Büchern der Propheten. Diesen Abschnitt bezeichnet man als Haftara, was Abschied, Abschluss bedeutet. Man nimmt an, dass dieses Vorlesen aus den Büchern der Propheten bereits im Land Israel zur Zeit der dortigen Glaubensverfolgungen noch im Altertum eingeführt wurde. Da es den Juden untersagt war, aus der Torah vorzulesen, nahmen sie statt dessen einen entsprechenden Abschnitt aus den Büchern der Propheten. Sie wurden in regelmässige Abschnitte als Haftara eingeteilt, so dass es für jeden Abschnitt aus den fünf Büchern Mose einen passenden aus den Büchern der Propheten gab. Vom Inhalt her hing diese Haftara im allgemeinen mit dem des entsprechenden Torah-Absatzes zusammen. Oder er bezog sich wie z. B. an Feiertagen oder bestimmten Schabbattagen auf den Sinn des Feiertags oder das besondere Wesen des Schabbats. Hier wurde die Haftara also gemäss der Jahreszeit, des geschichtlichen Anlasses gewählt. Als sich die Zeiten später wieder besserten und die Juden erneut aus den fünf Büchern Mose vorlesen durften, wurde das Vorlesen der Torah selbstverständlich wieder mir allen Ehren eingesetzt. Aber, und das ist ebenso natürlich, die Haftara wurde nicht aufgegeben. Seither folgt auf die Torahvorlesung ein Vortrag aus den Büchern der Propheten.

Im Gegensatz zur Torahvorlesung wird dieser Text nicht aus einer Schriftrolle vorgetragen. Das geschieht nur ungemein selten und auch dann nur an bestimmten Orten. Praktisch überall liest man aus einem ganz gewöhnlichen Buch vor, das genau wie jedes andere Buch gedruckt wurde und das mit phonetischen Zeichen und Lese- und Gesangzeichen versehen ist. Auch nimmt die Vorlesung nicht eine bestimmte Person oder der Koreh vor. Neben diesen Fachleuten gibt es überall kundige Laien, die in der Lage sind, die Haftara im passenden Singsang vorzutragen. Sie sind im allgemeinen innerhalb der Gemeinde bekannt, und man ruft sie auf, damit sie die Vorlesung des Abschnittes beenden. Anschliessend tragen sie den Absatz aus den Propheten vor, den man ihnen angegeben hat. In manchen Gemeinden liest das ganze Publikum ziemlich laut mit.

Hier hat auch der gewöhnliche Synagogenbesucher Gelegenheit, an einem wichtigen Teil des G'ttesdienstes persönlich aktiv teilzunehmen. Bei Handlungen, die als Mizwot bezeichnet werden, ist das noch stärker der Fall: damit sind Handlungen während des G'ttesdienstes gemeint und hier im noch engeren Sinn gewisse Aufgaben als eine Art Ehrendienst.

Schon vorher wurde beschrieben, wie kostbar die Gesetzesrolle ist und wie hoch sie in Ehren gehalten wird, und auch, wie überaus wichtig das Vorlesen daraus als Mittelpunkt der Andacht ist. Deshalb wäre es undenkbar, das Ausheben der Torah aus dem Schrein, das Tragen zur Bima und andere für den Vortrag notwendige Handlungen so einfach ohne jede Feierlichkeit vor sich gehen zu lassen. So sind Zurücktragen der Torahrolle zum Schrein und viele andere Handlungen selbstverständlich mit einem gewissen Ritual verbunden.

Sobald der Vorhang beiseite geschoben wird und die Türen des Schreins geöffnet werden, sagen der Kantor und die Gemeinde im Singsang besondere Bibelverse. Unter Begleitung dieser Verse und Sprüche trägt der Kantor die Torahrolle zur Bima. Ihm folgen der Rabbiner und der Synagogenvorsteher und alle anderen, die für die Ehrenämter aus gewählt wurden. Im feierlichen Aufzug ziehen sie rechts an der ersten Reihe der Bänke entlang; dabei steht die ganze Gemeinde auf. Wäh rend die Gesetzesrolle vorbeigetragen wird, nutzen die Andächtigen die Gelegenheit und küssen das Torahgewand.

Auf der Bima wird der Schmuck von der Torahrolle genommen, die Hülle abgezogen und das Band, das die beiden Teile zusammenhält. Am Ende der Vorlesung rollt man die Rolle um einige Schriftspalten ab, hält sie hoch, damit die Gemeinde sie sehen kann. Dabei sagt man die Worte: "Dies ist das Gesetz, das Mose den Kindern Israel vorlegte" (Deutronomium 4,44), denen sich noch weitere Bibelverse anschliessen. Dann rollt man sie wieder ein, schlägt sie in die Hülle, bringt den Schmuck wieder an und trägt sie wiederum in einem feierlichen Aufzug an der rechten, d. h. diesmal der zweiten Seite entlang, unter Gesang oder Zitieren von Bibelversen und Psalmen bis zum Torahschrein, wo sie an ihren Platz zurückgestellt wird.

Eine mögliche Regelung wäre, alle diese Handlungen durch wichtige Personen, den Kantor, Diener, Synagogenvorsteher oder andere emi nente Personen ausüben zu lassen. Das würde jedoch der ganzen Art des Ehrendienstes in einer Synagoge widersprechen. Schliesslich sind es Ehrenämter, und jeder Synagogenbesucher kann und wird mit ihnen geehrt. Übrigens werden diese Handlungen nicht irgendwie willkürlich vollzogen. Sie bilden jeweils eigene Gruppen und haben feste Namen. Ein Ehrenamt beinhaltet zum Beispiel das Beiseiteschieben des Vor hangs bis zum Zurückstellen der Torahrolle in den Schrein. Aufheben und Vorzeigen der Rolle ist ein zweites; Aufrollen, Einschlagen und Schmücken ist ein drittes. Solche Ehrenämter für den G'ttesdienst sind zahlreich. Aber niemand übt sie ehrenamtlich aus, denn auf sie hat jeder Anspruch. Auch schon geringfügige Handlungen gelten als Mizwa, und oft vertraut man sie kleineren Kindern an. Man lässt sie denn auch auf die Bima kommen und die Gesetzesrolle dort an den Handgriffen festhalten. Auch beim Einschlagen dürfen sie behilflich sein. Wie stolz sind sie anschliessend!

An bestimmten Tagen wie Feiertagen oder besonderen Schabbattagen werden auch schon einmal mehrere Abschnitte aus der Torah vorgele sen. Da nun die Torahrolle kein Buch ist, das sich ohne weiteres blät tern lässt, sondern da sie auf der einen Seite ab-und an der gegenüberlie genden aufgerollt werden müsste, was während des G'ttesdienstes viel Lärm und Störung verursachen würde, liest man nacheinander aus zwei oder drei Gesetzesrollen vor. Hier wurden die passenden Stellen schon vorher ausgesucht, und man hebt sie alle zusammen aus dem Torahschrein und bringt sie auch wieder zusammen zurück. Gleichzei tig erhöht sich die Anzahl der Ehrenämter, und auch einfache Personen können ins Tragen der zweiten und dritten Torahrolle einbezogen wer den. Zum Beispiel macht man am Tag der Gesetzesfreude, Simchat Torah, nach der Abschlussvorlesung und bei ihrem Neubeginn Rund gänge um die Bima, manchmal drei und manchmal sieben, und zwar während die Torahrolle aus dem Schrein gehoben und zu ihm zurück gebracht wird. Jetzt können mehrere Teilnehmer der Reihe nach mit der Ehre beauftragt werden, die Torahrolle zu tragen. Bei diesen Gele genheiten ist es bei den Chassidim und bei anderen Juden üblich, die Torahrollen mit einer Tanzbewegung zu tragen. Die Chatanei Thorah, d. h. Bräutigame des Gesetzes, die die Rollen tragen dürfen, werden feierlich in die Synagoge begleitet, und man teilt ihnen an einem Feier tag einen besonderen Ehrenplatz vor dem Torahschrein zu. Ein Teil der Gebete wird vor dem geöffneten Torahschrank gesagt, das geschieht vor allem am Neujahrs- und Versöhnungstag. Gebete zum Wohl der Landesregierung sagt man praktisch in allen Ländern und bei allen Gelegenheiten.

Auch das Öffnen des Torahschreins ist eine Mizwa, die eines der Gemeindemitglieder ausführen kann. Diese Mizwot verteilt weder eine Behörde noch der Synagogenvorsteher oder irgend jemand anders, der ein wichtiges Amt bekleidet. Jeder kann dazu aufgerufen werden oder sie für einen anderen erbitten. Und das ist denn auch im allgemeinen so üblich. Zum Beispiel hat ein Vater, Bruder, Freund oder Gast Geburts tag oder feiert ein Familienfest, gedenkt eines verstorbenen lieben Ver wandten, und mit solch einer Mizwa möchte man ihm besondere Auf merksamkeit erweisen. Sie kann beim Synagogendiener bestellt werden oder bei demjenigen, der für diesen Teil des G'ttesdienstes verantwort lich ist. Der Diener fragt im richtigen Augenblick nach dem Zweck der bestellten und zugeteilten Mizwa und gibt sie im Namen des Schenkers jenem bekannt, dem diese Ehre zuteil wurde. Der Aufgerufene erfüllt seine Mizwa und dankt anschliessend dem Besteller, der im allgemeinen für diese Mizwa einen geringen, nach einem Tarif festgelegten Betrag an die Gemeinde zahlt.

In den meisten Synagogen gibt es eine Tafel, auf der die offenen Mizwot angeführt sind. Der Diener streicht die, die bestellt wurden, und so sieht jeder Synagogenbesucher sofort, welche Mizwot noch frei sind. Der Vorsteher hat das Recht, die nicht bestellten Mizwot zu ver schenken. Im allgemeinen geht er dabei unter den Synagogenbesuchern der Reihe nach vor. Aber im allgemeinen bleiben nur wenige Mizwot übrig, denn die Nachfrage ist meistens gross. In den Grossstädten ist es dabei leider auch schon zu Missbräuchen der Mizwot gekommen. Man feilscht zum Teil um sie, zwar nicht des Geldes wegen, sondern weil sich die Mitglieder daran gewöhnt haben und es als Bestandteil ihres Judentums ansehen.

Allerdings sind diese Ehrenämter kaum je eine bedeutende Ein kunftsquelle für die Gemeinde. Trotzdem gibt es Gemeinden, die ihre Auslagen nur mit freiwilligen Beiträgen decken können. Und in diesen Fällen bringen die Mizwot grosse Summen ein. So gab es zum Beispiel in Frankfurt am Main eine sehr grosse Synagogengemeinde, und dort wurden beachtliche Beträge allein für das Recht gespendet, ein Jahr lang für den Wein zuständig zu sein, der bei dem Ritual zur Begrü ssung von Schabbat und Feiertagen und an ihrem Ende notwendig ist.

Ausser diesen Ehrenämtern gibt es in der Synagoge auch noch die Möglichkeit, jemandem eine kleine Aufmerksamkeit zu erweisen: Der "Aufgerufene", der das Lob nach der. Torahvorlesung gesagt hat, wird vom Koreh oder dem Diener mit einem auf hebräisch gesagten Segenswunsch bedacht. Daraufhin steht ihm das Recht zu, für seine Familienangehörigen oder andere einen ähnlichen Segen zu sagen. Gleichzeitig spendet man der Gemeinde etwas für die Armen oder für andere wohltätige Zwecke.

In vielen grösseren Gemeinden geht man jetzt dazu über, diese Bei träge und diesen namentlichen Aufruf während des G'ttesdienstes ab zuschaffen, denn wenn dieser Brauch übertrieben wird, leidet der Ernst der Andacht darunter. Es ist also nicht so einfach, für den Got tesdienst in der Synagoge das richtige Mass und den goldenen Mittel weg zu finden. Er ist doch in seinem Wesen ein Dienst der Gemeinde mit einem bestimmten Ritual. Gleichzeitig muss auch Wärme zu spü ren sein, die Wärme eines heiteren, bejahenden G'ttesdienstes, ent sprungen der Gemeinsamkeit und dem Mitgefühl für den Nächsten. Deshalb darf das Ritual nie erstarren, nie kalt und förmlich werden, genausowenig darf völlige Grabesstille herrschen. Wer sich diese grundsätzlichen Vorstellungen und Begriffe vor Augen hält, wird den G'ttesdienst in der Synagoge richtig verstehen und Einblick in ihn ge winnen.

 

DER CHASAN: KANTOR UND VORBETER

Da der gemeinsame synagogale Dienst die Regel ist, spielt der Vorleser oder Vorsänger eine bedeutende Rolle: Er verkörpert sozusagen den G'ttesdienst. Wird der Chasan (Kantor oder Vorsänger) dabei seiner Aufgabe wirklich gerecht, bildet er den anziehenden Mittelpunkt der Andachtsübungen.

Auf hebräisch heisst dieser Kantor oder Vorsänger Chasan oder auch Schaliach Zibur. Der zweite Ausdruck wird häufiger in der Schriftsprache gebraucht und bringt die Bedeutung dieses Amtes deutlicher zum Ausdruck. Die Tätigkeit, die diese Ausdrücke beinhalten, wird durch die gleich folgende Erklärung verdeutlicht.

Woher das Wort Chasan genau stammt, kann man heute nicht mehr genau feststellen. Der Form nach würde der Wortstamm "sehen" bedeuten, womit die Bibel jemanden mit einem visionären Blicke beschreibt. Sonst kommt das Wort Chasan in der Bibel weder in seiner gegenwärtigen Bedeutung noch in irgendeiner anderen vor, denn dieses Amt hat ja zur damaligen Zeit noch nicht existiert. Allerdings sollte daraus nicht geschlossen werden, dass es das Wort als solches damals noch nicht gab.

Die Talmudliteratur kennt das Wort Chasan in unterschiedlichen Bedeutungen, und zwar einmal als Gerichtsdiener, verantwortlich für den Vollzug des Urteilsspruchs in einem Strafprozess; dann wieder als Lehrer für Jugendliche, und schliesslich als Synagogendiener der über den G'ttesdienst wacht. Aber noch war er weder der Synagogenvorsteher noch ihr regulärer Vorbeter. Das wurde er erst sehr viel später, als das Amt geschaffen wurde.

In früheren Zeiten wurde ein Gemeindemitglied zum Vorbeten auf gefordert, und zu diesem Zweck nahm er seinen Platz vor dem heiligen Schrein ein. Der Ausdruck vor dem Schrein herabsteigen lässt darauf schliessen, dass er an einem erhöhten Ort stand und der Vorbeter auf einer niedrigeren Ebene, was ja auch heute noch oft der Fall ist. Dazu wird eine mehr humoristische als exegetisch richtige Verbindung zum Psalm 130,1 hergestellt: "Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir." Häufig musste der zum Vorbeten Aufgerufene erst dazu überredet werden, denn jeder wollte den Eindruck geben, er sei bescheiden. Sobald die Aufforderung jedoch von einem höheren Beamten kam, willigte der Aufgeforderte unverzüglich ein.

Allmählich änderten sich die Zeiten, und als Vorbeter wurde ein Synagogenbeamter ein Fachmann, eingestellt. Zu einem späteren Zeit punkt war er wahrscheinlich der erste feste Gemeindeangestellte, und wegen seines Amtes traf er dann auch als erster in der Synagoge ein. Ganz beiläufig gab man ihm dann den schon überall bekannten Titel Chasan, schliesslich war er der erste und wichtigste Synagogendiener.

Der zweite Ausdruck ist hier beredter: Schaliach Zibur bedeutet wörtlich "Gesandter der Gemeinde". Er leitet die Gemeinde, die sich im Gebet vereinen möchte. Er ist ihr Sprecher, er führt das Wort für sie, und oft richtet er sich in den Gebeten im Namen der Gemeinde an G'tt.

Falls man im Judentum überhaupt von einer "Geistlichkeit" sprechen kann, dann ist der Kantor in der Synagoge ein Geistlicher. Denn er und nicht der Rabbiner bekleidet ein ausgesprochen geistliches Amt. Der G'ttesdienstkodex sieht für das Amt strenge Vorschriften vor, und er schreibt eingehend die geistigen und Charaktereigenschaften eines Kantors vor, genau wie die Voraussetzungen, die er in seinem Verhalten erfüllen muss, während er das Amt ausübt, wie auch in der Vergangenheit. Dagegen wird der Rabbiner in diesem Zusammenhang nicht er wähnt, denn er ist ja kein Synagogenbeamter im eigentlichen Sinn des Wortes.

Mit Absicht habe ich bisher den Leiter des Gemeindegottesdienstes als Vorbeter bezeichnet. Im Volksmund heisst er Vorleser oder Vorsänger. Tatsächlich ist der Vorleser jedoch der Koreh, der Torahkundige, der aus der Gesetzesrolle den Torahabschnitt in dem ihm eigenen Sing sang vorträgt. Aber auch die Beamten lassen sich gern als Vorsänger bezeichnen, denn der Gesang ist ja ein wichtiger Bestandteil der Aufgabe dieses Synagogendieners.

So wie sich im Laufe der Zeit für die fünf Bücher Mose und die Bücher der Propheten ein Singsang entwickelte, entstanden auch feste Melodien für bestimmte Abschnitte des synagogalen Dienstes wie Ge bete, Psalter und auch Hymnen, die zu festen Zeiten und an bestimm ten Tagen gebetet weiden. So gibt es zum Beispiel für den Freitagabend eine eigene Melodie, genau wie für den Schabbatmorgen und -mittag, für das Passahfest sowie die hohen Feiertage wie Neujahrs- und Versöhnungstag. Diese im grossen und ganzen festen Melodien bezeichnet man als Chasanut, ein etwas abstrakter Begriff, der vom Wort Chasan hergeleitet wurde.

Der jüdischen Öffentlichkeit sind diese Melodien wohl vertraut, und sie möchte sie nicht missen. Sie sind denn auch so alt, dass sich ihre Herkunft nicht mehr feststellen lässt, und ihr Leitmotiv ist praktisch allen Juden bekannt. Sie sind ein Glied in der Kette, die die Juden eint. Wollte man diese alten Lieder und Weisen abschaffen, wäre das nicht nur bedauerlich, sondern auch diese Einheit würde Schaden nehmen.

Zum Beispiel enthält diese Chasanut ein Lied, mit dem am Freitagabend der Einzug des Schabbats wie der einer Braut begrüsst wird, und ähnliches gibt es bei allen Andachtsübungen. Sie ist also ein wichtiger, unschätzbarer Bestandteil der Tradition. Selbstverständlich gleicht sich die Chasanut der gesamten jüdischen

Welt nicht haargenau. Wahrscheinlich gibt es eine Reihe von Melodien, die sich heute kaum noch ähnlich sind, die aber trotzdem im wesentlichen übereinstimmen. Darüber hinaus hat sich im Laufe der Zeit auch eine für einen bestimmten Ort typische Chasanut herausgebildet, die sich dort einer besonderen Beliebtheit erfreut.

Daneben gibt es im G'ttesdienst auch eine Reihe von Fragmenten, für die es keine feste Melodie gibt. In diesem Fall ist der Kantor frei und kann sie nach Gutdünken vortragen, wie zum Beispiel das Einweihungslied für den Schabbat. Aber selbst hier gelten gewisse Einschränkungen in bezug auf die Bedeutung des Tages oder der Jahreszeit. Fällt der Schabbat zum Beispiel auf den Fastentag am neunten Aw, d. h, den Gedenktag der Zerstörung des Tempels in Jerusalem und der Vernichtung des jüdischen Staates, oder kurz vor oder nach ihn, wird das Lied "Komm, mein Freund, der Braut entgegen! in einem ganz anderen Tonfall gesungen als in den Wochen darauf. Schliesslich ist die Synagoge das Spiegelbild des ganzen jüdischen Lebens. Aus diesem Grund unterscheiden sich die Melodien für die hohen Feiertage stark von jenen zum Passahfest oder zu anderen freudigen Festen. Text und Inhalt der Lieder spielen eine weit untergeordnete Rolle.

Moderne Komponisten haben die Chasanut sowohl unverändert wie in modernisierter Form aufgezeichnet und die Melodien, die der Kantor nach eigenem Gutdünken vortragen kann, vertont. Man erwartet nun vom Kantor, dass ihm nicht nur alle alten und neuen Melodien vertraut sind, sondern dass sie stets abrufbereit sind. Deshalb muss er sehr musikalisch sein und ein gutes musikalisches Gedächtnis besitzen. Darüber hinaus muss er selbstverständlich eine schöne Stimme haben und ein guter Sänger sein.

Die Aufgaben, die man vom Chasan in der Synagoge erwartet, sind vielfältig. Zum Beispiel ist der G'ttesdienst im allgemeinen lang. Und während der Andacht hat der Kantor fast immer das Wort, sei es, dass er einen Satz nach dem anderen, einen Abschnitt nach dem anderen für die Gemeinde vorliest, ihn allein singt oder - und das kommt häufig vor - auch kantilenenartig vorträgt. Einfaches Aufsagen kennt der jüdische G'ttesdienst kaum, weil es nicht dem Wesen des Hebräischen entspricht.

Es ist kaum zu glauben, wie lange der Kantor den G'ttesdienst, wie lange er praktisch ununterbrochen im Stehen singt und vorträgt. Be sonders im Festmonat Tischri - September/Oktober -, der mit dem

Neujahrsfest beginnt, ist sein Dienst schwer, denn jetzt muss er all die alten traditionellen Melodien vortragen, die jene einzigartige Stimmung schaffen, in der die Vergangenheit mit der Gegenwart verbunden wird. Der zehnte Tag dieses Monats ist der Versöhnungstag, der zusammen mit der Andacht am Vorabend ununterbrochen dem G'ttes dienst in der Synagoge gewidmet ist. An diesem Tag finden unmittelbar hintereinander fünf G'ttesdienste statt: der Abend- oder Kol-Nidre-Dienst,

die Morgenandacht, der Mussaf oder besondere, zusätzliche Dienst und der Mittags- und der Schlussdienst. Ein einziger Chasan ist kaum dazu in der Lage, den G'ttesdienst in allen Fällen allein zu leiten - das kommt gelegentlich jedoch auch schon einmal vor.

In den meisten Fällen übernehmen zwei Beamte diese Dienste, und zwar wechseln sie sich ab: Der eine leitet den G'ttesdienst am Vorabend, der mehrere Stunden dauert; der zweite die Morgenandacht, die ungefähr vier Stunden anhält. Der nächste G'ttesdienst dauert wiederum fast vier Stunden lang, und ihm folgen Mittagsdienst und Schlussgebet, beide je wiederum eineinhalb Stunden lang. Die gleichen Beamten halten ausserdem noch morgens und mittags Torahvorlesungen ab. Und, wie schon gesagt, erfolgt das Ganze im Stehen, und selten wird eine kurze Pause von knapp zehn Minuten eingelegt.

Es ist also eine ausserordentliche Ausdauer notwendig. Die Beamten müssen, um stets eine frische, geschmeidige Stimme zu haben, über eine ungewöhnliche Gesangstechnik verfügen, erworben durch Ausbildung, die zu der natürlichen Begabung hinzukommt. Auch darf man nicht vergessen, dass der Chasan schon kurz nach dem Versöhnungstag entweder am Schabbat oder zu dem fünf Tage später stattfindenden Laubhüttenfest wieder in Form sein muss, denn dann steht ihm wiederum eine Woche mit vier oder fünf grösseren G'ttesdiensten bevor.

Auf diese Weise entwickelt sich der Chasan zum Berufssänger, und seine Gesangskunst wird ein fester Bestandteil seines Amtes. Je schöner und beschwingter er singt, desto mehr haben er und seine Gemeinde davon. Allerdings drohen dem Chasan in diesem Bereich gewisse Fall stricke, die zu einem Dilemma führen können. Möglicherweise gewinnt der Sänger in ihm die Oberhand, so dass er mehr Sänger als Vorbeter ist, und die Gemeinde folgt ihm dabei eventuell auch noch. Dadurch würde die Synagoge für den Chasan ein Ort, an dem er " auf tritt", und der Gemeinde würde sie ein Konzertsaal. Hat der Chasan jedoch aufgrund seiner musikalischen Leistungen Erfolg bei seiner Gemeinde, ist für den G'ttesdienst nichts gewonnen. Den goldenen Mittel weg einzuschlagen ist in diesem Fall tatsächlich ziemlich schwer. Denn verwandelt der Chasan die Synagoge in einen Konzertsaal, dann stimmt etwas nicht, und sie verliert ihren Charakter. Und doch kann das Wesen der Synagoge unverfälscht nur im G'ttesdienst und allein durch den Chasan zum Ausdruck gebracht werden. Deshalb geht es nicht anders, als dass der Chasan ein Sänger mit besonderen Fähigkeiten ist. Sonst wäre er nicht dazu in der Lage, die ihm anvertrauten wichtigen Aufgaben in der Synagoge und im religiösen Leben der jüdischen Gemeinde auf die Dauer durchzuführen. Zu diesem Zweck ist seine Gesangskunst nicht das vordringlichste. Aber ein guter Kantor muss die Chasanut kennen und sie kultiviert vortragen können. Zwar stimmt es, dass dem Vortrag mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird, je schöner seine Stimme und je reicher seine musikalische Kultur sind. Trotzdem sollten Stimme und musikalische Begabung den Andachtsübungen untergeordnet sein und sich dem religiösen Ideal der Synagoge freiwillig unterwerfen.

Den Kantor muss eine tiefe Religiosität beseelen, und er muss ein tiefes Empfindungsvermögen besitzen. Er muss es verstehen, seine ganze Seele in seinen Vortrag zu legen. Er muss die Menschen in der Synagoge mitreissen, sie zutiefst durch seine beredte Wiedergabe in Gesang und Gebet aus tiefster Seele berühren. Mit der Ausstrahlung seines Geistes muss er auf die Gemüter seiner Zuhörer einwirken. Die Gemeinde muss ihren Schaliach Zibur kennen und wissen, dass er ihr würdiger Gesandter ist, ihr gottgeweihter Sprecher. Nur auf diese Weise erfüllen er und die Synagoge ihre Pflicht.

 

MENORA UND NER TAMID

LEUCHTER UND EWIGE LAMPE

In der Synagoge gibt es noch eine Reihe von Gegenständen, die zwar den G'ttesdienst selbst nicht beeinflussen, aber zu gewissen Zeiten ziehen sie unsere Aufmerksamkeit auf sich.

In praktisch jeder Synagoge gibt es eine Lampe, deren Licht ununterbrochen brennt - oder fast ununterbrochen, denn wer sie betreut, ist auch nur ein Mensch.

Keine Vorschriften oder Empfehlungen schreiben die Form dieser Lampe genau vor. Deshalb ist es auch nicht immer eine Hängelampe, sondern gelegentlich auch eine Wand- oder sonstige Lampe. Ebenso wenig ist der Platz vorgeschrieben, an dem diese Lampe hängt oder steht. In den meisten Synagogen brennt sie vor dem Torahschrein, in anderen dagegen über dem Eingang, und in wieder anderen ist sie an einem Pfeiler angebracht. Manche Synagogen haben sogar zwei solcher Lampen. Das ist das Ner Tamid, die Ewige Lampe. Sie heisst ewig, weil ihre Vorgängerin, die historische Lampe, unablässig mit Öl gespeist wurde, damit sie unaufhörlich brannte. Das ist das Licht des goldenen Leuchters, der im Zelt der Offenbarung, in der Stiftshütte, und später im Tempel Salomos und Esras stand.

Dieser Leuchter, die Menora, stand damals in jenem Teil von Stiftshütte und Tempel, der als das "Heilige" bezeichnet wurde. Das Licht dieses Leuchters musste ununterbrochen gespeist weiden, damit es Tag und Nacht brannte.

Dieses Ner Tamid soll uns an die Menora in den alten Heiligtümern erinnern. Es soll eine Erinnerung sein, nicht mehr. Denn die Synagoge enthält ja ebenso wenig einen Altar wie Schaubrote. Auch besitzt die Lampe nicht einmal die Form der Menora; wie schon eingangs er-. wähnt, gibt es keine festen Regeln für ihre Form. Trotzdem verbreitet sie eine auf den Besucher fast mystisch wirkende Stimmung.

Darüber hinaus versinnbildlicht das Licht auch die Seele. Und so hat es der Verfasser der Sprüche gesagt: "Eine Leuchte des Herrn ist des. Menschen Geist" (Spr.20, 27). In einem jüdischen Haus ist ein Licht:. denn auch das sichtbare Andenken an einen teuren Toten. Sobald jemand in der Familie stirbt, wird ein Licht angezündet, das während des zwölf jüdische Monate währenden Trauerjahres - im allgemeinen im, Wohnzimmer - brennt. In den Jahren danach wird es stets am Todestag angezündet, und dann heisst es "Jahrzeit".

Aus diesem Grund glaubt so mancher, das Ewige Licht in der Synagoge werde zum Andenken an verstorbene Gemeindemitglieder angezündet. Das ist aber nur dort der Fall, wo ständig zwei Lichter brennen. Weiterhin hängt das ganz von der religiösen Einstellung und der Handhabung des G'ttesdienstes in der betreffenden Synagoge ab.

Aber auch die Menora in ihrer ursprünglichen Form, wie sie in den alten Heiligtümern stand, ist nicht völlig aus dem jüdischen Leben verschwunden. Dieser Leuchter wird zum Fest der Makkabäer, dem Lichter- oder sogenannten Chanukkafest, angezündet, von dem noch die Rede sein wird.

 

DIE KOHANIM

Das jüdische Volk ist sehr alt, und seine Geschichte beginnt in der grauen Vorzeit. Aus diesem Grund gehen jüdische Verwandtschaftsbezeichnungen und Namen oft auf eine weit entlegene Zeit zurück. Soll etwas auf diesem Gebiet erklärt weiden, muss man erst einmal einen Abstecher in die ferne Vergangenheit machen.

Der jüdische Volksstamm kann auf Jahrtausende zurückblicken. Gewisse Teile können eine so weit in der Geschichte zurückliegende Abstammung durchaus als unwiderlegbar akzeptieren. Das gilt für die Leviten und alle, die dem Familienzweig des Hohepriesters Aron angehören. Noch ist nicht bekannt, wie sich die übrigen Stämme mit anderen und auch untereinander vermischten. Aber für die Leviten und die Nachkommen Arons, die Kohanim, d. h, die Priester, steht die reine, direkte Abstammung über jeden Zweifel fest.

Die Juden, die Nachkommen des alten Israel, leben heute auf der ganzen Welt zerstreut. Hier folgt ein kurzer Ausflug in die Geschichte. Nach dem Tod von König Salomo, ungefähr eintausend Jahre vor unserer Zeitrechnung, spaltete sich das Volk in zwei getrennte Königreiche. Das Reich im Norden, das unter Jerobeam vom Haus David abfiel, bezeichneten die Propheten als das Haus Israel. Es umfasste zehn Stamme, und seine Hauptstadt war Samaria. Dieses Reich bestand fast 250 Jahre. Im Jahr 722 v. Z. wurde Samaria von König Sargon von Assyrien erobert. Israel, das Reich mit den zehn Stämmen, wurde durch Verbannung praktisch ausgelöscht. Es hat keinerlei Spuren in der Ge schichte hinterlassen. In der Neuzeit hat man möglicherweise einen Überrest von ihm in Äthiopien entdeckt: die Falaschas. Inzwischen be müht man sich, die Verbindung zu diesem Zweig des Volksstammes wieder aufzunehmen.

Die übrigen beiden Stämme - Juda und Benjamin - bildeten zusammen eine Dynastie, der die Propheten den Namen Haus Juda gaben. Dieses Reich bestand auf seinem Boden 400 Jahre lang. Im Jahr 586 v. Z. eroberte der Babylonier Nebukadnezar II. seine Hauptstadt Jerusalem. Diese Judäer sind die Juden. Ihre Geschichte reicht bis in die Gegenwart und wird sich voraussichtlich auch noch in der Zukunft fortsetzen.

In Jerusalem stand der Tempel, in dem der Stamm Levi diente. Ein besonderer Nachkomme Levis ist der Zweig von Aron, dem ersten Kohen, d. h. Priester.

Die zwölf Söhne Jakobs gaben den "Stämmen Israels " ihren Namen. Im Land Kanaan liessen sich diese Stämme in jeweils eigenen Provinzen nieder. Der Stamm Levi erhielt keinen Grundbesitz. Statt dessen wurden Joseph, dessen Haus sich in die beiden Halbstämme Ephraim und Manasse aufspaltete, zwei Provinzen zugeteilt. Die Leviten wurden mit dem Tempeldienst beauftragt, ebenso wie mit der Aufrechterhaltung und Pflege des geistigen und religiösen Lebens im allgemeinen. Aron, Mose Bruder und ein Urenkel Levis, wurde Hohepriester. Nach ihm wurden seine Söhne Priester, und alle ihre männlichen Nachkommen blieben und bleiben Kohanim.

Aus dem Besitz, der den übrigen Stämmen zugeteilt worden war, mussten gewisse Abgaben in natura an die Leviten und die Söhne Arons geleistet .werden, genau wie andere geweihte Erträge eingebracht und alles, was für den Unterhalt des Tempeldienstes gebraucht wurde, geliefert werden musste.

Kurz zusammengefasst kann gesagt werden, dass die Leviten und Priester im Reich Juda lebten. Sie zogen zusammen mit dem Judäern in die babylonische Gefangenschaft und von dort wie alle Juden in die Zerstreuung. In der Geschichte der Diaspora leben sie weiter und wer den wahrscheinlich auch in Zukunft weiterleben.

Es ist durchaus möglich, dass sich auch andere Einwohner dieses Reiches Israel nach Juda retteten, als ihr eigenes Land zerstört wurde, genauso wie eine ganze Reihe seiner Einwohner das alte nationale Heiligtum auf dem Zionsberg wahrscheinlich dem politischen Ersatzheiligtum vorzogen, das Jerobeam in Dan und Beth EI errichtete. Deshalb stammen die heutigen Juden nicht nur von Juda und Benjamin ab. Allerdings kann heute niemand mehr sagen, welchem Stamm er angehört. Einige jüdische Familien glauben, ihren Stammbaum bis auf das Haus Davids zurückführen zu können. Dagegen können alle Leviten sich ihrer Abstammung sicher sein. Diese Abstammung ist für die Nachkommen von Aron unumstösslich, selbst wenn sie sich nicht anhand von Dokumenten belegen lässt.

Tempelleben und -dienst waren durch eine Vielzahl vorsorglicher Massnahmen geschützt. Eine der wichtigsten Voraussetzungen war die sogenannte Reinheit, d. h. die kultische Reinheit. Damit ist nicht die hygienische Reinheit gemeint, obwohl sie gelegentlich für die zuerst genannte unumgänglich ist. Es ist eher eine Weihe, eine Heiligung für das Höhere, das Abstrakte, das Ideelle. Es ist ein Emporheben aus dem

Irdischen, Materiellen, Körperlichen, Tierischen: aus dem Unreinen. Der Mensch verbindet in sich gegensätzliche Elemente auf wunderbare Weise: Sein Leichnam, seine sterbliche Hülle, kann nicht mehr aus dem Bereich des "Unreinen" erhöht werden. Wer daran glaubt, irrt sich ganz gewaltig. Im Leben hat nur das Leben Platz. Im Tod kann nichts mehr gewonnen werden, weder durch den Verstorbenen noch durch andere für ihn. In diesem Sinn ist der Tote "unrein ". Das muss man sich stets vor Augen halten.

Deshalb ist der Leichnam eine Quelle der kultischen Unreinheit. Wer ihn berührt, sich ihm nähert oder sich unter dem gleichen Dach wie er aufhält, wird selbst "unrein". Auch wer unter körperlichen Defekten oder Gebrechen leidet, bei denen sich das Tierische zeigt, gilt als "unrein". In solch einem Zustand der " Unreinheit.. darf niemand das Heiligtum G'ttes betreten, noch darf er am Opferdienst teilnehmen. In allen übrigen Bereichen ist er gleichberechtigt und unterscheidet sich nicht von den anderen.

Aber ein Kohen darf sich nie an einem Leichnam "verunreinigen". Er darf ihn also nicht berühren, sich ihm nicht nähern, noch darf er sich unter dem gleichen Dach befinden. Die einzige Ausnahme ist die nächste Familie: Eltern, Kinder, Geschwister oder Frau. Oder ein Leichnam, den sonst niemand anders betreuen würde. In diesem Fall ist die letzte, noch höhere Pflicht wichtiger als alles andere.

Damit wurde der Koben durch das Tempelleben sorgfältig von allen anderen unterschieden und ausgesondert. Selbst nachdem der Tempel untergegangen war, wurden diese Vorschriften peinlich genau befolgt. Aber auch andere Vorschriften regeln das Leben der Nachkommen Arons im Alltag für alle Zeiten. Zum Beispiel sind ihnen gewisse Ehen verboten wie die Heirat mit einer geschiedenen Frau, die den übrigen Söhnen Israels durchaus erlaubt ist.

Der Kohen nimmt im religiösen Leben der Gemeinde eine besondere Stellung ein und erfreut sich bestimmter Privilegien. In der Synagoge ruft man ihn bei der Vorlesung aus der Torahrolle als ersten auf, ihm folgt der Levite.

Die Kohanim segnen die ganze Gemeinde, wie im Numerus, 24-26, angeführt. Heute wird der Segen in den meisten Gemeinden an Feiertagen und auch schon einmal am Schabbat gesagt. Sie sagen ihn, nachdem ihnen die Leviten die Hände " gewaschen", d. h. mit Wasser begossen haben. Für den Segensspruch stellen sie sich auf den Duchan, oder Podium vor dem Torahschrein, und wenden ihr Gesicht der Gemeinde zu. Einem, der kein Kohen ist, würde es nie einfallen, dieses Podium zu besteigen.

Jede Gemeinde kennt ihre Kohanim und Leviten. Wird ein Koben in der Synagoge aufgerufen, kommt zu seinem Namen stets der Titel Hakohen, d.h. Nachkomme Arons, hinzu. Dieser Zusatz steht auch in allen Urkunden und Registern. Das gleiche gilt für die Nachkommen der Leviten, und zwar schon seit uralten Zeiten bis zum heutigen Tag. Angesichts der bekannten Sorgfalt der Rabbinate und der intensiven Teilnahme der Juden am synagogalen Leben während aller Jahrhunderte ist kaum zu bezweifeln, dass die jüdischen Gemeinden als Kohanim bekannten Menschen denn auch tatsächlich Nachfahren Arons sind und somit ihre Abstammung auf Jahrtausende zurückführen können.

Heute gibt es zwar die kultische Reinheit des Tempellebens nicht mehr. Trotzdem dürfen die Nachkommen Arons auch heute keinen Leichnam berühren, und die Friedhöfe sind deshalb so angelegt, dass sie an einer Beeidigung teilnehmen können, ohne dass sie gegen diese Vorschrift verstossen.

 

DER PRIESTERSEGEN

Numeri enthält die Verpflichtung für Aron und seine Söhne, einen Segen über die Kinder Israel zu sagen. Es ist ein ganz spezifischer Segen, dessen Worte in den Versen 6,24-25 festgelegt sind: "Der Herr segne dich und behüte dich; der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig; der Herr hebe sein Angesicht über dich und gebe dir Frieden."

Wann und zu welchem Anlass dieser Segen gesagt werden soll, dar über schweigt sich die Bibel aus. Das wurde als bekannt vorausgesetzt. Das beweist wiederum, dass die Heilige Schrift von bereits akzeptierten und bekannten Bräuchen ausgeht und an eine praktizierte Tradition anschliesst. Dieser Segen wurde selbstverständlich im Heiligtum gesagt, und er war Bestandteil eines G'ttesdienstes oder bildete seinen Abschluss. Das bestätigt auch das Deutronomium 10,8 und 21,5; dort erscheint das Segnen in G'ttes Namen im Zusammenhang mit den Aufgaben, die der Priester im Dienst des Heiligtums ausführen muss. Der Segen wurde nach den Pflichtopfern gesagt, die tagtäglich erbracht und am Schabbat und an Feiertagen durch zusätzliche Opfer erweitert wurden. Diese Vorschrift über den Segensspruch war nicht nur für Aron und seine Söhne im engeren Sinn bestimmt, sondern galt auch für seine Nach kommen.

Allerdings war dieser Segen nicht so untrennbar mit Heiligtum und Opferdienst verbunden, dass er mit dem Untergang des Tempels und seinen Ehrendiensten ebenfalls unterging. Er war für die Vergangenheit gültig und ist es in der Gegenwart und für die Zukunft.

Den Kohanim wurde diese Segnung eher als Pflicht denn als Vorrecht auferlegt, und zwar trotz der Tatsache, dass sie eigentlich ein Privileg sein müsste, weil sie ausschliesslich ihnen vorbehalten ist. Sie müssen sie einfach sagen.

Allerdings segnen nicht etwa sie persönlich. Absichtlich heisst es jedes Mal ausdrücklich: den Segen sagen. Denn die Vorschrift ist ja so formuliert: "So sollt ihr sagen zu den Kindern Israel ..." Das ist genauso direkt wie die Offenbarungsworte beim Sinai: "Gedenke des Schabbattages ..." Es ist deshalb keine Haarspalterei, wenn wir das so interpretieren: "Sagen musst du ihn, aber auch nur sagen! Es ist jedoch nicht dein Segen, sondern allein meiner.." Diese Interpretation wird durch den Satz bestätigt, der gleich auf den Priestersegen folgt: "Denn ihr sollt meinen Namen auf die Kinder Israel legen, dass ich sie segne." Dieses Legen des Namens auf das Volk, dieses Übertragen war der feierliche Akt, darin lag die Segnung. Aus diesem Grund wurde auch G'ttes Name mit seinen vier Buchstaben voll vom Priester ausgesprochen, etwas, was sonst dem Hohepriester vorbehalten war, und auch dann nur für den Versöhnungstag.

Der Priester war also lediglich ein Sprecher, sonst nichts. Niemand, der gerade das Amt ausübte, durfte sich dieser Pflicht entziehen, und niemandem konnte die Erfüllung dieser Pflicht verwehrt werden. Aber etwas Eigenes hatte er nicht zu sagen, denn es ist eine feste Formel. Deshalb kann er nicht sagen: "Wir segnen dich im Namen G'ttes", sondern nur: "Der Herr segne dich ..."

Heute wird der Priestersegen während des Ehrendienstes zu genau den gleichen Zeiten gesagt wie einst in der Stiftshütte und im Tempel: eine würdige Fortsetzung einer alten Tradition. Der feierliche Akt der Segnung durch die Kohanim findet heute allerdings nur noch an Feier tagen statt und auch dann nur, wenn männliche Nachkommen Arons

anwesend sind. Sonst wird der Priestersegen in dieser feierlichen Form ausgelassen. Wird er nicht zu den festgelegten Zeiten gesagt, schiebt der Kantor ihn in das Hauptgebet ein, das Schemone Esre oder Achtzehngebet, und zwar nach einer kurzen Einleitung: "Segne uns, G'tt unser Herr, G'tt unserer Väter, segne uns mit dem dreifachen Segen, der geschrieben steht in deiner Torah durch Moses, deinen Knecht, und gesprochen ward von Aaron und seinen Söhnen, den Priestern, dei nem geheiligten Stamme, dass er in allen seinen Aussprüchen in Erfüllung gehe. "Dem schliesst sich der Priestersegen mit den oben angeführten Worten an.

Heute findet dieser feierliche Akt in jenem Teil des synagogalen Dienstes statt, in dem im Hauptgebet der frühere Tempeldienst er wähnt wird. Davor bereiten sich die Kohanim auf die Erfüllung ihrer Pflicht vor. Ist der Kantor selbst ein Nachkomme Arons, übernimmt jemand anders in der Zwischenzeit seine Aufgaben. Allerdings kann niemand dazu gezwungen werden, noch kann man es jemandem verbieten. Wer am feierlichen Akt nicht teilhaben möchte, kann die Synagoge während dieser Zeit verlassen. Alle, die die Aufgabe auf sich nehmen wollen, kommen, nachdem sie die Schuhe ausgezogen haben, näher, und zwar zwischen Podium und Lesepult, und lassen sich die Hände waschen. Das ist die Aufgabe der Leviten, die zum gleichen Stamm gehören und jetzt auf die Erfüllung dieser Aufgabe der Waschung warten genauso wie ihre Ahnen schon zur Zeit des Tempels. Sind keine Leviten anwesend, ist es die Aufgabe der Erstgeborenen. Fehlen auch sie, vollziehen die Priester die Waschung eigenhändig. Kanne und Schüssel, die dafür verwendet werden, sind oft ein kostbarer Besitz der Synagoge, gelegentlich auch eine Spende aus der fernen Vergangenheit. Diese Kannen und Schüsseln sind zum Teil wahre Prachtexemplare.

Nachdem der Kantor mit dem ersten Wort der Einleitung zum Hauptgebet begonnen hat, steigen die Priester auf den schon weiter oben erwähnten Duchan. Im Volksmund wurde vom Wort Duchan das Zeitwort ducheneu hergeleitet, was Sagen des Priestersegens auf dem Podium bedeutet.

Die Kohanim verhüllen das Haupt mit dem Tallith, d. h, dem Gebetmantel, und wenden das Gesicht dem heiligen Torahschrank zu, bis der Kantor sie aufruft. Nach einer kurzen Pause spricht der Kantor leise das einleitende Gebet, und auch alle Priester sprechen gedämpft ein

kurzes Gebet Kommt der Kantor schliesslich zum hebräischen Wort für Priester, ruft er laut: "Kohanim!" Das Wort wird stets im Plural gesagt; ist deshalb nur ein Priester anwesend, wird nichts gesagt.

Dadurch kommt man der alten Aufgabe ganz im Sinn der Vorschrift nach: nicht etwa Segnen nach eigenem Gutdünken, sondern im Auf trag der Gemeinde, wobei dem Aufruf ihres Gesandten Folge geleistet wird. Und in diesem Sinn werden denn auch die Bibelworte: "So sollt ihr sagen zu den Kindern Israel!" verstanden. Sobald nun das Wort Kohanim ertönt, wenden die Priester der Gemeinde das Gesicht zu und heben die Hände unter dem Gebetsmantel bis auf Schulterhöhe hoch. Denn sie legen sie ja im Namen G'ttes - der jetzt als Adonai, d. h. der Herr, bezeichnet wird - auf die Kinder Israel. Ihre Finger sind dabei gespreizt, schliesslich halten sie den Segen nicht in den geschlossenen Händen. Er kann nur aus der Höhe hinabkommen, nicht dagegen aus ihren Händen. Nachdem sie gemeinsam den einleitenden Spruch laut gesagt haben, spricht der Kantor die Worte der drei Bibelverse einzeln vor, die sie Wort für Wort wiederholen: Ihnen werden die Worte also praktisch in den Mund gelegt.

Zwar geschieht das so, um Verwirrung zu vermeiden; gleichzeitig beweist es aber auch, dass ihnen durch diese Pflicht, die kein Privileg ist, keinerlei Sonderrechte entstehen. Während des ganzen Aktes bleiben ihre Hände mit dem Tallith, d. h. dem Gebetmantel, bedeckt, und zwar nicht nur wegen der Feierlichkeit des Aktes, sondern auch, um zu verhindern, dass ein Gemeindemitglied einen kritischen Blick auf diese Hände wirft. Denn jeder Nachkomme Arons wird aufgerufen, und je der soll unbefangen den Duchan besteigen, auch derjenige, an dessen Händen die Arbeit Spuren hinterlassen hat. Die Kohanim weiden nicht besonders zugelassen, weder von der Gemeinde noch von den Priester. Die zuerst genannten geben nichts, und die zweitgenannten erhalten das, was sie empfangen, direkt von G'tt. Von den Priestern erwar ten darf man lediglich Ergebenheit im G'ttesdienst, eine gehobene Stimmung und Sanftmut. Die Gemeindemitglieder müssen keineswegs zu den Priestern emporblicken; sie nehmen nur eine andächtige Haltung an wie Menschen, die auf einen Segen warten und ihn gern auf das leicht gebeugte Haupt entgegennehmen möchten.

Die beiden erhobenen Hände, deren Daumen sich berühren, sind ein Sinnbild für die Nachkommen Arons geworden, genau wie die schräg gehaltene Kanne und die Schüssel darunter, die das Wasser auffängt,

einen Waffenschild für die Nachkommen aus dem Stamm Levi bilden. Sie sind auf vielen Gegenständen dargestellt. Sieht man auf einem Sarg die Hände, kann man daraus schliessen, dass hier ein Sohn Arons begra ben ist; wurden Kanne und Schüssel auf einen Grabstein gemeisselt, ist es die letzte Ruhestätte eines Nachkommens von Levi.

Inzwischen braucht wohl kaum noch ausdrücklich erwähnt zu wer den, dass auch der Priestersegen nicht etwa einfach laut aufgesagt wird. Dafür gibt es traditionelle Melodien, deren Singweise den verschiedenen Feiertagen angepasst ist.

In manchen Gegenden singen die Kohanim im Chor, in anderen singt der Kantor, das hängt ganz vom Geschmack der Gemeinde ab. Auf jeden Fall erklingt nach jedem Satz ein "Amen" als Antwort zurück. Nach dem Segensspruch wenden die Priester das Gesicht wiederum dem heiligen Torahschrank zu, nehmen den Gebetmantel vom Haupt und sagen leise: G'tt, wir haben unsere Pflicht erfüllt, gebe du jetzt deinen Segen." Damit geht der Priestersegen zu Ende, und der Kantor spricht die Schlussworte des Hauptgebets.

 

DIE PREDIGT IN DER SYNAGOGE

HALACHA UND AGGADAH

Auch die Predigt kann auf ein sich wandelndes Geschick zurückblicken. In der Synagoge selbst ist sie verhältnismässig jungen Datums, trotz der Tatsache, dass öffentliche Vorträge über G'ttesdienst und Judentum, die auf der Bibel beruhen oder mit ihr zusammenhängen d. h. eine Predigt im eigentlichen Sinn, in Israel in eine weit entfernte Vergangenheit zurückreichen.

Das Judentum wurde in jedem Bereich, in allen seinen Äusserungen und in seinem ganzen Leben nach der Lehre immer wieder zu dem in der Heiligen Schrift Geschriebenen zurückgeführt. Jede rechtliche Bestimmung, jeder feierliche Akt und jeder Brauch, der nicht direkt und unzweideutig in der Heiligen Schrift erwähnt wurde, musste sich mindestens aus ihr ergeben, ihr entliehen, von ihr hergeleitet und erklärt worden sein. Erst dadurch erhielt er Weihe und Gültigkeit. Nichts durfte vom Ursprung gelöst, nichts in der Luft hängen bleiben. Schliesslich konnte es nur eine einzige Lehre geben. Was nicht direkt in der Bibel stand, aber trotzdem im Leben als theoretische Idee oder praktische Handlung üblich war und von Mund zu Mund weitergegeben wurde, konnte letzten Endes nur aus einer einzigen Quelle stammen. Demnach musste es möglich sein, zu ihr zurückzufinden, um aus ihr schöpfen zu können. Dazu waren Gelehrsamkeit und Geschicklichkeit notwendig. Sie musste der zukünftige Lehrer bei seiner Ausbildung er werben. Für den Vortrag in diesem Bereich, insbesondere was die allgemeine Verständlichkeit dieses Wissens bei öffentlichen Vorträgen an betraf, war die Rhetorik eine der wichtigsten Voraussetzungen.

Dieses Verfahren, um den Zusammenhang zwischen Leben und Lehre freizulegen, also unter anderem auch das Quellenstudium, wird in der talmudischen Terminologie als Darasch, d. h. Untersuchung, bezeichnet. Der Gelehrte, der sie gebraucht und ihre Ergebnisse vorträgt, wird als Darschan, d. h. Prediger, Erklärer, bezeichnet, und die Rede selbst heisst Derascha, d. h. Predigt, Ansprache. Im Grunde genommen waren die berühmten Begründer bekannter Schulen in der sehr weit zurückliegenden Vergangenheit, die schon vor unserer Zeitrechnung wirkten, Darschanim.

Als dann die Synagoge zum Treff- und Mittelpunkt des jüdischen Lebens wurde, ist eine Derascha dieser Art wahrscheinlich des öfteren in ihr gehalten worden. Anfangs befasste sie sich vor allem mit praktischen Angelegenheiten wie rechtliche Richtlinien, Zeremonien und Bräuche, die das Leben entsprechend fester Grundsätze leiteten: mit der Halacha, d. h. den religiösen Bestimmungen.

Aus diversen Gründen weitete sich der Bereich der Derascha jedoch verhältnismässig schnell aus. Denn auch die nicht greifbaren Lebensgrundlagen - die Grundsätze, nach denen sich die greifbare Wirklich keit richten sollte, die Ideen, die in Taten umgesetzt wurden, sowie die geistigen Begriffe und Werte, die für das Leben notwendig sind - bedurften einer Aufklärung. Ebenso wenig konnte das Bedürfnis nach Verinnerlichung und Trost auf die Dauer ausser acht gelassen werden. So wie die Richtlinien für das tägliche Leben aus der Bibel stammten, so fand man auch alle Gedanken über das Leben in der Heiligen Schrift.

Damals war der Darschan noch nicht regelmässig tätig, noch war er Bestandteil der Andachtsübungen in der Synagoge. Seine Vorträge hielt er im allgemeinen auf dazu einberufenen Zusammenkünften im Beth Hamidrasch, d. h, dem Lehrhaus, oder auch auf anderen Versammlungen; der Vortrag in der Synagoge während des G'ttesdienstes war die Ausnahme.

Während der ersten Jahrhunderte, in denen sich diese Deraschim entwickelten, entstand parallel dazu eine umfassende und wichtige Literatur - der Midrasch, d. h. die Erklärung halachischer und aggadischer Schriften; der Name wurde aus dem Wortstamm von Darasch gebildet, der in dieser merkwürdigen Bibelexegese enthalten ist. Und hier nähert sich die Derascha auch schon stärker der Predigt in bezug auf Unterrichtsmaterial und Themenvielfalt. Allerdings wird von Grund auf unterschiedlich behandelt. Dem Augenschein nach ist die Derascha die Erklärung von Bibelversen und -zitaten, die tatsächlich oder auch nur scheinbar erklärt werden müssen. Gewisse Schwierigkeiten liegen tatsächlich vor, andere werden einfach hineingelegt. Um die Schwierigkeiten näher zu untersuchen, werden weitere Verse zitiert, die zu den ersten anscheinend im Widerspruch stehen. Dem folgen weitere Zitate, die den Widerspruch aufheben. Das Ganze ist stets durchflochten mit Erzählungen, Allegorien und Symbolen, unter Um ständen auch ausgesprochen gewagten, in denen Bibelgestalten und himmlische Wesen eine Rolle spielen. Hier steht die Erklärung im Vordergrund, die Moral wird in der Behandlung des Textes dagegen sozusagen ganz beiläufig nach allen Seiten hin verbreitet. In diesem dichterischen Midrasch ist ein ganzer Schatz tiefer Weisheit verborgen. Er ist das Wesentliche, die Texterklärung ist dagegen oft nur Nebensache. Häufig handelt es sich deshalb nicht etwa um eine Auslegung, sondern eher um ein Hineinlegen von Gedanken, die von ausser halb des Textes kommen.

Eine solche Behandlung des Bibeltextes wird als Aggadah, manch mal auch Haggada bezeichnet. Man sollte sie nicht mit der Pessah-Haggada verwechseln, der Ostererzählung, die an den ersten beiden Passahabenden im Familienkreis vorgetragen wird. Übrigens enthält auch diese Pessah-Haggada aggadischen Stoff. Dieser Hinweis war notwendig, weil diese Verwechslung häufig vorkommt.

Schliesslich machte die Derascha ein drittes Entwicklungsstadium durch. Zu einem späteren Zeitpunkt betrachtete der Darschan so wohl Bibelvers wie Midrasch als schon festgelegt, als seinen Ausgangspunkt. Damit eröffneten sich dem gewandten Geist unerschöpfliche Möglichkeiten. Gab der Midrasch vor, eine Texterklärung zu sein - was er in Wirklichkeit jedoch keineswegs ist -, die häufig Widersprüche in den einzelnen Absätzen enthielt, konnte der Redner von jetzt an Text und Midrasch so behandeln wie anfangs nur den Text allein. Eine so vorgetragene Derascha nimmt oft eine erstaunliche Form an: Sie zeichnet sich durch klare Vernunft, viel Witz und einen noch schärferen Geist aus, der überall sichtbar wird, weiterhin durch Gemütswärme und Beseeltheit, die gleichzeitig die religiöse Moral mit teilen. Vor allem das letztgenannte Element trat in der Rede in jener Zeit immer stärker als beabsichtigter Zweck hervor, und damit näherte sie sich der Predigt.

Aber zu diesem Zeitpunkt wurde die Derascha noch nicht in der Synagoge gehalten. Zwar wurden mit der Zeit einige Schabbattage für Vorträge in der Synagoge vorgesehen, allerdings beschränkten sie sich noch überwiegend auf halachisches Material. Auch war es schwierig, solch einen Vortrag in den synagogalen Dienst einzuschieben. Das galt insbesondere für die Juden in Deutschland. Im Laufe der Zeit hatten sie ihre Liturgie um neue Zusätze- Pijutim, ein griechisches Lehnwort für Gedichte - erweitert und bereichert, die umfassender als die der portugiesischen Juden waren. Für eine Derascha hatten sie weder Platz noch Zeit, und in der Synagoge bestand wenig Nachfrage nach ihr. Die Sprache, in der der Darschan den Vortrag hielt, war natürlich Jiddisch. Trotzdem wurden die Vorträge auf hebräisch aufgezeichnet und her ausgegeben. Diese Literatur hat einen ziemlich eindrucksvollen Umfang angenommen.

Die Französische Revolution und das Zeitalter Napoleons haben zu einem beträchtlichen Wandel des jüdischen Lebens - vor allem in Westeuropa - geführt. Allmählich wurden die Juden als gleichberechtigte Bürger von der Gesellschaft akzeptiert. Deshalb bemühten sie sich fieberhaft, diese neuen Bedingungen zu nutzen, sich ihnen würdig zu er weisen und sich in allen Bereichen dem vorherrschenden Lebensstil an zupassen. So mancher Fürst strebte nach bestem Können danach, den Juden ein besseres Leben zu sichern, damit sie ihrem Staat nützlicher wären. Eines der bedeutendsten Opfer, das sie brachten, war die jiddische Sprache. So mancher Herrscher ordnete den Gebrauch der Landessprache auch in jüdischen Schulen und religiösen Lehrvorträgen der Rabbiner an. Im Königreich Westfalen - wo Napoleons Bruder Jerôme regierte - passte der liberal-religiöse Hofbankier in Kassel, Israel Jacobson, der dem königlich-westfälischen Konsistorium der Israeliten vor stand, den gesamten synagogalen Dienst dem Vorbild des G'ttesdienstes in der evangelischen Kirche an. Er, der kein Rabbiner war, zog Barett, Talar und Beffchen an und stieg in seiner Synagoge in Kassel auf die Kanzel (in der gleichen Synagoge liess er übrigens eine Orgel ein bauen). Jetzt wurden Kanzel und Predigt Mittelpunkt des G'ttesdienstes. Diese Reform wurde mehr oder weniger konsequent durchgeführt. Die Synagoge mit Orgel und Chor, in der die Landessprache das Hebräische fast völlig oder doch grösstenteils ersetzte, wurde vorwiegend als Tempel bezeichnet. Von dort aus hat sich die Reform in andere Städte der deutschsprachigen Länder, weiter nach Amerika und in alle anderen Weltteile ausgebreitet, in die die Juden im Verlauf der letzten einhundert Jahre eingewandert sind. Der neue G'ttesdienstvortrag in der Landessprache, der in Form und Sinn fast völlig der Kirchenpredigt angepasst war, und die modernen jüdischen Kanzelredner in den Reformtempeln erregten grosses Aufsehen. Auch viele Nichtjuden kamen, um sie zu hören. Männer wie F. E. D. Schleiermacher, deutscher Philosoph und evangelischer Theologe, mischten sich oft unter die Zuhörer jüdischer Prediger, die Anregungen von ihm akzeptierten und von denen er seinerseits lernte.

Ein bedeutender Teil des Judentums hat allerdings die ganze Reform, dieses Kind der Assimilierung, rundweg abgewiesen. Und doch mussten Zugeständnisse gemacht werden. Die Predigt wurde übernommen, und zwar in der Landessprache, genau wie die Kanzel in der Synagoge. Und auch der Talar samt Barett und Beffchen. Daneben hat das orthodoxe Judentum jedoch die vollständige Liturgie aus der Vergangenheit beibehalten, einschliesslich den Pijutim und den überlieferten Melodien. Für die Predigt wurde nichts gestrichen, nicht einmal vorübergehend. Deshalb kann die Predigt in der orthodoxen Synagoge eigentlich als eine Einfügung betrachtet werden, keineswegs als ihr wichtigster Teil, und sie steht keineswegs im Mittelpunkt. Daher gibt es in einer ganzen Reihe von Synagogen, die ohne eine Predigt im G'ttesdienst geplant worden waren, keine Kanzel, und sie muss für jede Predigt irgendwie provisorisch aufgestellt werden.

Eine Predigt wird zu festen Zeiten gehalten, aber nicht an jedem Schabbat. Gibt es keine Predigt, wird auf jeden Fall gelernt. Denn der Rabbiner mag zwar ein Prediger sein, zuerst ist er jedoch der Lehrer seiner Gemeinde, ihr Dozent in den jüdischen Wissenschaften. So wie einst die alte Derascha schon den Erfordernissen ihrer Zeit angepasst war, so behandelt auch die Predigt in der Synagoge vor allem jüdische Fragen. Als eine homiletische Betrachtung ist sie dem Judentum Wegweiser und Richtlinie für die Gegenwart und die unmittelbar bevorstehende Zukunft. Hier steht die religiöse Predigt im Vordergrund -genau wie bei den Propheten, selbst wenn sie sich mit politischen Problemen befassten.

Ebenso wenig ist die alte Derascha verschwunden; sie wird allerdings ausserhalb des synagogalen Dienstes gehalten.

 



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