Das
Antwortschreiben:
Sehr geehrte Damen und Herren,
eine Lehrerin möchte ihren Schülern erklären, warum Juden die
Gegenwart eines Kreuzes meiden.
Vorbemerkung:
- Das Kreuz als solches kommt bereits im Altertum in vielen
Kulturen vor, meistens als Ornament.
- Im alten Rom erlangte das Kreuz eine negative Bedeutung, da
es dort die Todesstrafe durch Kreuzigung gab. Diese Strafe galt primär den
Sklaven, später Rebellen und Staatsfeinden.
- Auch Jesus wurde von den Römern als Staatsfeind gekreuzigt.
Bei den Juden war diese grausame Art der Hinrichtung verpönt (wobei zu jener
Zeit bei den Juden überhaupt keine Todesstrafen ausgesprochen wurden).
- Im 2. Jahrhundert wurde das Kreuz zum Symbol des Glaubens
an Jesus und zum Symbol des Christentums.
Antwort:
- Diese Einführung könnte als eine ausreichende Erklärung für
den Widerstand der Juden gegen das christliche Kreuz angesehen werden. Doch
möchte ich auf zwei Punkte ausführlicher eingehen:
- Das Kreuz, aber insbesondere der Kruzifix als Darstellung
des Gekreuzigten, ist nicht nur ein Symbol, es ist ein Sinnbild der Anbetung
und gilt für die Anhänger des Christentums als heilig. Das Schlagen des
Kreuzzeichens ist eine Zuwendung an den Gottessohn in einer Art Gebet. Das
streng monotheistische Judentum lehnt die Gottgleichheit von Jesus ab, und
es ist den Juden verboten, einen anderen als den einzigen Gott anzubeten.
Sie dürfen sich nicht an einem Ort (im Raum oder im Freien) befinden, wo
einem anderen Gott gedient wird. Es darf auch nicht der Schein entstehen,
dass ein Jude sich mit der Anbetung anderer Götter identifiziert.
- Eine weitere wichtige Frage ergibt sich aus der gemeinsamen
Geschichte (wenn man das so sagen kann) von Juden und Christen. Wie haben
Juden in den vielen Jahrhunderten seit der Begründung des christlichen
Glaubens nicht nur die Träger und Repräsentanten, sondern auch das
"einfache" Volk dieses Glaubens erlebt (man denke nur an die Kreuzzüge)? Die
Verfolgungen, die Juden durch Christen erleiden mussten, haben sich so tief
in das kollektive Bewusstsein (hier kann man diesen Ausdruck anwenden)
niedergesenkt, dass für einen Juden der Umgang mit Christen zunächst
mindestens eine gewisse Vorsicht oder Scheu hervorruft, ehe er eine
Annäherung wagt und sich öffnet. Wenn diese Kurzanalyse überraschen und bei
manchen Menschen auf Unverständnis stoßen sollte, würde ich folgendes raten:
- Insbesondere richtet sich mein Vorschlag an die Lehrerin,
die das Thema "Juden und Christen" behandeln will. Lesen Sie das Buch "Der
Prozess und Tod Jesu aus jüdischer Sicht" von Chaim Cohn. Sie finden auf
meiner
Webseite eine von Jura-Studenten erstellte ausführliche Zusammenfassung
aller Kapitel. Das letzte Kapitel habe ich ungekürzt ins Internet
gestellt. Ich empfehle weiterhin nachdrücklich, als erstes den letzten
Absatz zu lesen. In erstaunlicher Kürze fasst er eine "ganze Welt" von
Gefühlen zusammen, nüchtern und doch ergreifend. Dieser letzte Absatz könnte
ein ausgezeichneter Einstieg in ein Gespräch mit den Schülern sein.
Zur Vereinfachung der Lektüre hier der letzte Absatz:
"Hunderte Generationen von Juden sind in der ganzen
christlichen Welt für ein Verbrechen bestraft worden, dass weder sie noch
ihre Vorfahren begangen haben, obwohl es reine Wahrheit ist, dass ihre
Vorfahren keinen Anteil daran hatten, sondern alles Menschenmögliche
unternahmen, um Jesus, den sie von Herzen liebten und als einen der Ihren
verehrten, vor seinem tragischen Ende durch die Hände der römischen
Unterdrücker zu bewahren. Wenn man überhaupt einen Funken an Trost für diese
Perversion der Gerechtigkeit finden kann, dann in den Worten Jesu selbst:
»Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn ihrer ist
das Himmelreich. Selig seid ihr, wenn euch die Menschen um meinetwillen
schmähen und verfolgen und reden allerlei Übles gegen euch, wenn sie damit
lügen. Seid fröhlich und getrost; es wird euch im Himmel reichlich belohnt
werden« (Mt. 5, 10-12)."
Mit freundlichen Grüßen
Bar Rav Nathan |