Das
Antwortschreiben:
Sehr geehrte Damen und Herren,
es sind zwei Fragen, die mir ein Christ stellt:
- Soll ich zum Judentum wechseln?
- Ist dies überhaupt möglich?
Antwort:
- Bei allem Verständnis für die Nöte eines Christen, der mit
seiner Religion unzufrieden ist und mit seiner Kirche hadert, wird ein
Rabbiner niemals einem Nicht-Juden raten, die jüdische Religion anzunehmen.
- Das Judentum ist nicht auf Missionierung eingestellt. Man
könnte sagen, dass es geradezu anti-missionarisch ist. Das hat nichts damit
zu tun, dass die Juden sich absondern und keinen Außenstehenden in ihren
Reihen haben wollen. Es ist die schwere Bürde, die ein gläubiger Jude zu
tragen hat, die davon abhält, anderen diese zuzumuten. Und hier komme ich
zur zweiten Frage:
- Der Übertritt zum Judentum ist möglich, jedoch nicht
leicht, um nicht zu sagen sehr schwer. Wer die jüdische Religion annehmen
will, von dem wird erwartet, dass er alle Regeln, alle Gesetze, und diese
sind 613, kennt und sie auch einhält. Anders ist es bei einem religiös
indifferenten Juden, der in der Regel nur wenige Gesetze kennt und den man
nicht zwingen kann, sie zu befolgen. Die säkularen Juden stellen eigentlich
die Mehrheit des jüdischen Volkes. Aus christlicher Sicht ist dies nicht
einfach verständlich. Ich will eine Erklärung versuchen:
- Der missionarische Eifer christlicher Geistlicher und
Herrscher ist nur allzu gut bekannt. Um nach christlicher Lehre der Kirche
anzugehören, reichte ein Lippenbekenntnis. Man erinnere sich an die
zwangsweise Christianisierung ganzer Völker. Man denke an Heinrich Heine,
der so wie manch anderer Jude im 19. Jh. zwecks besserer gesellschaftlicher
Startbedingungen zum Christentum übertrat, wobei dieser Akt in der Wohnung
des Pastors bei Anwesenheit eines einzigen Zeugen vollzogen wurde. Wie kam
es zu dem Ausverkauf des christlichen Glaubens als Massenprodukt?
- Als Paulus die Römer, Griechen und Heiden zum Glauben an
Jesus bekehren wollte, entleerte er das damalige Christentum, das ja
zunächst eine Sekte im Rahmen des Judentums war, seiner bisherigen Inhalte.
Diese bestanden aus den mosaischen Gesetzen wie sie in der Tora, den fünf
Büchern Moses des hebräischen Testaments, enthalten sind. Aus dem frühen
Christentum blieben nur der Glaube an Gott und Jesus und ein Bekenntnis zur
amorphen Liebe aller Menschen. Neue Glaubenssätze, die später von den
Kirchenvätern formuliert wurden, kamen hinzu.
- Die jüdische Religion ist eine Gesetzesreligion. Der Glaube
wird nicht als zentrales Element postuliert. Es gibt kein Gebot in der Tora,
das den Glauben ausdrücklich erwähnt. Es kommt nicht auf das an, was der
Mensch in seinem Herzen trägt (was ja ohnehin nicht nachprüfbar ist),
sondern auf seinen Lebenswandel, auf sein Verhalten gegenüber Mensch und
Gott. Hier zwei Beispiele:
- In der Tora verkündet bereits Moses: "Liebe deinen Nächsten
wie dich selbst", diese "Liebe" ist nach jüdischem Verständnis nicht
lediglich ein undefinierbarer Begriff, ein flüchtiges Gefühl. Es wird als
die Verpflichtung verstanden, seinen Nächsten so zu behandeln, wie man
selbst behandelt zu werden wünscht. Das Gebot ist für den Menschen leicht
verständlich und soll im täglichen Leben seine Anwendung finden.
- Auch ist das Gebot Gott zu lieben keine abstrakte
Forderung. Es heißt nämlich "Und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben
mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit deiner ganzen Kraft. Und es
sollen diese Worte, die ich dir heute gebiete, auf deinem Herzen sein. Du
sollst sie deinen Söhnen einschärfen. Du sollst von ihnen reden, wenn du in
deinem Hause weilst und wenn du auf dem Weg gehst, wenn du dich schlafen
legst und wenn du aufstehst" (5. Moses Kap. 6; ähnlich auch 5. Moses 11, 1).
Dazu haben die Weisen vermerkt: Es steht geschrieben, du
sollst deinen Gott lieben, wie soll aber der Mensch zu dieser Liebe kommen?
Wie soll der Mensch wissen, wie er Gott zu lieben hat? Die Antwort liegt in
der Fortsetzung dieses Gebots "und diese Worte, die ich dir gebiete etc.".
Der ganze Absatz muss als eine Einheit betrachtet werden. Der Anfang bedingt
die Fortsetzung. Das bedeutet, dass nur durch das Studium und die Einhaltung
der Gesetze der Mensch die Größe Gottes erkennt und ihn zu lieben lernt.
Nachbemerkung:
Ein unerschöpfliches Thema kann nicht in wenigen Zeilen
abgearbeitet werden. Vielleicht konnte ich jedoch einem Christen wenigstens
die Schwierigkeiten andeuten, die seine Frage aufwarf und mit denen er sich
auseinandersetzen muss.
Mit freundlichen Grüßen
Bar Rav Nathan |