Das
Antwortschreiben:
Sehr geehrte Damen und Herren,
die Zusammenfassung einer Frage lautet etwa wie folgt:
Ausgehend von der Tatsache, dass das Christentum eine vom jüdischen Glauben
abgespaltene Sekte sei und daher eine Kirche auch von Juden als ein
Gotteshaus betrachtet werden sollte und es ferner für Juden eine Pflicht
sei, beim Besuch einer Synagoge, eines Gotteshauses, den Kopf zu bedecken,
wäre es doch angebracht, wenn Juden auch beim Besuch einer Kirche den Kopf
bedeckten. Oder aber geböte die Achtung vor dem Haus als christlichem
Sakralort wiederum die Barhäuptigkeit?
Diese Frage beinhaltet einige Themenkomplexe:
Die Kopfbedeckung:
In der hebräischen Bibel findet man keinen Hinweis auf eine
Pflicht zur Bedeckung des Kopfes. Trotzdem wird der Brauch, den Kopf zu
bedecken, von frommen Juden so streng wie ein biblisches Gebot gehandhabt.
Erste Hinweise zum Tragen einer Kopfbedeckung finden wir im Talmud (Kid. 31
a). Da wird von Rav Hunna, dem Sohn des Rav Jehoschua berichtet, der aus
Ehrfurcht vor Gott barhäuptig nicht weiter als vier Ellen schritt. Das Thema
löste im Laufe der Jahrhunderte viele Interpretationen und Stellungnahmen
aus. Letzten Endes hat sich der alte Brauch des Rav Hunna etabliert. Ein
orthodoxer Jude achtet darauf, keinen Augenblick seines täglichen Lebens
barhäuptig zu bleiben, und die Kopfbedeckung ist beim Betreten einer
Synagoge oder bei anderen Kulthandlungen für jeden Juden verbindlich.
Das Christentum eine jüdische Sekte?
Dass Jesus ein gläubiger Jude (gar ein Rabbi?) war, wird
heute kaum noch bestritten. Dass die christliche Kirche ihre Wurzeln im
jüdischen Monotheismus hat, ist ebenso bekannt. Der Weg jedoch, den die
christliche Kirche in den ersten Jahrhunderten seit ihrer Gründung genommen
hat, hat sie so weit vom Judentum weggeführt, dass Gemeinsamkeiten im
Glauben (wenn man vom Glauben an den einzigen Gott absieht, und selbst da
hat das Dogma über die Dreifaltigkeit eine Bresche geschlagen), die die
beiden Religionen aneinander näher bringen könnten, nicht mehr vorhanden
sind. Weder ist das Christentum eine jüdische Sekte, noch ist der jüdische
Glaube mit der christlichen Kirche verwandt. Jedenfalls ist das die
Einstellung der jüdischen Orthodoxie.
Die Kirche als Gotteshaus
Eine Kirche ist selbstverständlich ein Gotteshaus wie jedes
andere Gebäude, in dem zu Gott gebetet und ihm gedient wird. Das kann und
wird auch kein Jude bestreiten. Bedenkt man aber, was die Kirche viele
Jahrhunderte lang für Juden bedeuteten, welcher Hass ihnen gegenüber dort
gepredigt wurde, welche Verfolgungen von da ausgingen, und zwar in allen
Ländern Europas und aus allen christlichen Kirchen, wird man gewahr, welchen
Symbolcharakter die Kirchengebäude für Juden haben.
Besuch von Juden in einer Kirche:
Die Frage, ob ein Jude beim Besuch einer Kirche eine
Kopfbedeckung tragen soll, ergibt sich insofern nicht, da ein orthodoxer
Jude eine Kirche nicht betreten würde, auch nicht aus kunstgeschichtlichem
Interesse. Juden, die eine Kirche besuchen, haben deshalb ohnehin kein
Problem damit, die Entblößung des Kopfes als Sitte zu befolgen.
Mit freundlichen Grüßen
Bar Rav Nathan |