Sehr
geehrte Damen und Herren,die zu
behandelnde Problematik ist wahrscheinlich nicht allgemein interessant,
dürfte jedoch für die Gemeinden in Deutschland, die mancherorts mit
Mitgliedern nicht besonders gesegnet sind, in einem bestimmten Punkt für
Klarheit sorgen.
Am Schabbat wird während des Gottesdienstes
in der Synagoge aus der Tora vorgelesen. Kürzere Toraabschnitte werden auch
jeweils am Montag und Donnerstag in der Synagoge öffentlich vorgelesen.
Die öffentliche Vorlesung aus den
Torarollen wie auch das öffentliche Gebet (Gemeinde-Gebet) erfordert die
Anwesenheit eines Minjans (Minjan = Zahl, bedeutet im religiösen Kontext
zehn Männer).
Die an mich gestellte Frage bezog sich auf
den folgenden Sachverhalt:
In einer kleinen Gemeinde fanden sich am
Schabbat lediglich acht Männer ein. Es fehlten also zwei Männer für einen
Minjan, der für einen Gemeindegottesdienst notwendig wäre. Ein öffentlicher
Gottesdienst war also nicht möglich. Die Männer sprachen die Gebete
sozusagen privat, jeder für sich selbst. Selbstverständlich wurde auch nicht
aus der Tora vorgelesen, denn dieses ist ohne einen Minjan nicht zulässig.
Als die acht Männer mit ihren Gebeten zu
Ende waren traf es sich, dass zwei weitere Juden in der Synagoge
auftauchten. Eine Wiederholung der gesamten Schabbat-Ordnung kam nicht in
Frage. Man darf die Gebete nämlich nicht zweimal sprechen.
Die Frage, um die es nun ging, war wie
folgt:
- Durfte jetzt, da nun ein Minjan vorhanden
war, aus den Torarollen vorgelesen werden?
- oder war das Vorlesen aus der Tora nicht gestattet, da kein geregelter
Gemeinde-Gottesdienst stattfand?
- Zur Klarheit formuliere ich nochmals die Frage: Darf aus den Torarollen
nur während eines Gemeinde-Gottesdienstes vorgelesen werden?
Antwort:
- Die Frage kann mit einem einzigen Wort
beantwortet werden, und zwar mit Nein! Jedoch will ich die Antwort
begründen.
- Das Vorlesen aus der Tora ist kein Gebet,
es ist eine erzieherische Maßnahme, eine Lehrveranstaltung. Schon von Moses
wird berichtet, dass er aus dem Buch des Bundes vor den Ohren des Volkes las
(Ex. 24, 7). Die Pflicht, die Tora im Sabbatjahr (alle sieben Jahre) einmal
vorzulesen, wird von Moses verkündet (Deut. 31, 12).
- Das Vorlesen aus der Tora als bildende
und erzieherische Tätigkeit wurde sehr viel früher als das Gemeindegebet
eingeführt und hat sich unabhängig davon entwickelt.
- Man geht davon aus, dass die Tradition
des Vorlesens aus der Tora mit Esra (Mitte des 5. Jh. v.d.Zr.) nach der
Rückkehr aus der babylonischen Gefangenschaft begonnen hat (Nehemia 8, 1-8).
- Im Gebet spricht der Mensch zu Gott. Bei
der Toravorlesung spricht Gott zu dem Menschen. Deshalb war es natürlich,
dass im Laufe der Geschichte beide Kultushandlungen im Gottesdienst
integriert wurden, zumal beide Handlungen beim Vorhandensein eines Minjans
vorgenommen werden sollen. Das führt manchmal zu der irrigen Vorstellung,
dass beide Handlungen halachisch zusammengehören, was nicht der Fall ist.
Nachträglich zur Illustration ein ähnliches
Vorkommnis:
Mein Vetter, ein in Israel bekannter
Rabbiner, machte mit Studenten einen Ausflug in den Norden des Landes. Als
die Gruppe sich an einem Montagmorgen zum Gebet versammelte, war in der
Jugendherberge zwar ein Minjan vorhanden, jedoch keine Synagoge und keine
Torarollen. Nach dem Gottesdienst und dem anschließenden Frühstück wanderte
die Gruppe zum nächstliegenden Ort und versammelte sich in der dortigen
Synagoge, um aus den Torarollen vorzulesen. Und zwar, und das möchte ich
hier betonen, ohne die üblichen Gebete des Morgengottesdienstes zu
wiederholen.
Mit freundlichen Grüßen
Bar Rav Nathan |