Sehr geehrte Damen und Herren,
die Frage wurde im Zusammenhang mit dem Satz „Höre, Israel,
JHWH
ist unser Gott, JHWH ist einzig“ gestellt.
Dieser Aufruf von Moses (5. Mose Kap. 6) wurde im Laufe der Zeit zum
Glaubens-bekenntnis der Juden.
Er beinhaltet das Bekenntnis zum monotheistischen, transzendenten Gott, für
den es nichts Vergleichbares im Universum gibt. Der Vollständigkeit halber
hier der ganze Absatz:
„Höre, Israel, JHWH ist unser Gott, JHWH ist einzig.
Und du sollst JHWH, deinen Gott, liebhaben von ganzem Herzen, von ganzer
Seele, von allem Vermögen. Und diese Worte, die ich dir heute gebiete,
sollen in deinem Herzen sein, und du sollst sie deinen Söhnen
einschärfen und davon reden, wenn du in deinem Hause sitzest oder auf
dem Wege gehst, wenn du dich niederlegst oder aufstehst, und sollst sie
binden zum Zeichen auf deine Hand, und sollen dir ein Denkmal vor deinen
Augen sein, und sollst sie über deines Hauses Pfosten schreiben und an
die Tore.“
Die Frage:
- Wenn
diese Maxime den jüdischen Glauben darstellt, worin unterscheidet er sich
von anderen monotheistischen Religionen?
Antwort:
-
Die Antwort ist
tatsächlich etwas problematisch, sie greift in die jüdische Theologie ein
und bedarf einer gründlichen Erörterung.
Im Talmud finden wir eine bemerkenswerte Stelle, wo es heißt: „Wer den
Götzendienst verleugnet, heißt Jude“.
Was bedeutet dieser Spruch? Zunächst muss auf die Feinheit dieser
Formulierung hingewiesen werden. Es heiß nicht „er ist Jude“, sondern „heißt
Jude“. Das ist so zu verstehen: Zur Zeit des Talmud, in den ersten
Jahrhunderten unserer Zeitrechnung, war der monotheistische Glaube nicht
allzusehr verbreitet. Wer das Heidentum abgelegt und sich dem
monotheistischen Glauben zugewandt hatte, wurde aus jüdischer Sicht in
seiner Bewertung als Mensch einem Juden gleichgestellt, was nicht bedeutete,
dass er damit zwangsläufig zu einem Juden wurde, also in die jüdische
Glaubensgemeinschaft aufgenommen wurde.
-
Der Ausruf
„Höre…“, den die Juden seit mindestens zweieinhalb Jahrtausenden als ihre
engste und direkteste Verbindung zu ihrem Gott bewahrten und den sie noch in
ihren letzten Sekunden vor dem Märtyrertod aus ihren Lippen hauchten, ist
ein Bekenntnis, jedoch nicht der Inhalt des Glaubens. Den Inhalt des
Glaubens leiteten die Schriftgelehrten von der Fortsetzung des zitierten
Bibelverses ab.
-
Da heißt es:
„Und du sollst JHWH, deinen Gott, liebhaben von ganzem Herzen, von ganzer
Seele, von allem Vermögen“.
Nach dem Bekenntnis zum einzigen Gott wird das erste und wichtigste Gebot
verkündet: Du sollst deinen Gott lieben.
Es reicht nicht zu bekennen, dass es den einzigen Gott gibt, dass er Gott
Israels sei und dass man ihn als den sich zugehörigen Gott angenommen habe -
solch ein Lippenbekenntnis kann jeder leisten, es ist unverbindlich und
verpflichtet zu nichts -, ein wichtiger Moment ist hinzugekommen. Der Glaube
Israels ist kein reiner Bekenntnis-Glaube, er ist mit der Pflicht verbunden,
Gott zu lieben. Man könnte sagen, es sei ein Pflicht-Glaube. Wer diese
Pflicht nicht akzeptiert, wer sie nicht als einen wesentlichen Teil des
Glaubens versteht, der hat mit dem Gott Israels lediglich eine verbale,
inhaltsleere Verbindung, der ist, um es pointiert auszudrücken, kein
gläubiger Jude.
-
Haben die
Gelehrten erst das Gebot der Liebe zu Gott aus dem Toratext herausgelesen,
stellt sich die weitere Frage: Was bedeutet die Liebe zu Gott, welchen
Inhalt hat sie und wie wird sie ausgedrückt, wie kommt sie zur Geltung?
Dies ist in diesem theologischen Kontext vielleicht die entscheidende Frage.
Die Liebe zu Gott als bloße Maxime, als abstrakte Forderung ist für die
jüdischen Gelehrten ein semantisches Spiel, fast wie ein Kreuzworträtsel.
Gehen wir davon aus, dass der monotheistisch transzendente Gott weder
sinnlich noch kognitiv für Menschen erfassbar ist, dass er sich jenseits der
menschlichen Vorstellungskraft befindet, ist die Liebe zu ihm weder
vorstellbar noch hat sie eine praktische Relevanz, noch kann sie
verwirklicht werden. Liebe ist nur in Bezug zu Gegenständlichem wie einem
Menschen, oder zu einem Tier, zu Geld, oder zu etwas nicht Konkreten jedoch
Vorstellbaren wie Heimat, Ehre, einem Verstorbenen
möglich. Gott ist wie gesagt nicht vorstellbar, wäre er das, wäre er ein
Götze und nicht Gott.
Was bedeutet nun das Gebot Gott zu lieben? Welchen Inhalt hat
es und worauf bezieht es sich?
-
Die Antwort
darauf finden wir in der Fortsetzung des Toratextes. Nach dem oben zitierten
Satz „Und du sollst JHWH, deinen Gott, liebhaben von ganzem Herzen…“, stellt
sich die simple Frage – wie?
Die Antwort darauf lautet: „Und diese Worte, die ich dir heute gebiete,
sollen in deinem Herzen sein…“. „Diese Worte“ beinhaltet sämtliche Gebote
und Gesetze der Tora, die Gott durch Moses vermittelt hat. Diese müssen
beherzigt, eingehalten und praktiziert werden.
Das ist der Inhalt des Wortes Liebe in der Beziehung zwischen Mensch und
Gott. Um es nochmal anschaulich zu erklären: Viele Menschen, auch Juden, die
behaupten an Gott zu glauben und ihn zu lieben, und dies auch ehrlich so
meinen, jedoch sich der Verpflichtung, Gott durch die Einhaltung seiner
Gebote zu dienen nicht bewusst sind, würden der Frage, was der Glaube für
sie beinhaltet, eine Antwort schuldig bleiben, wenn sie nicht auf eine
kindliche oder heidnische Antwort auswichen.
Der Absatz, der mit dem Wort „Höre“ (hebräisch „Schma“)
beginnt und die Beziehung Gott-Glaube-Jude definiert, stellt in dem Gebot
der Liebe zu Gott einen kategorischen Imperativ auf. Dieser wird weder
begründet noch ist er an eine äußere Bedingung gebunden. Weder droht er den
Nichtbefolgern mit Sanktionen, noch verspricht er eine Belohnung für die,
welche ihn einhalten. Das Gebot ist sozusagen eine absolute Forderung
Gottes.
Der Absatz Schma wurde bereits in alter Zeit in das Gebetbuch
aufgenommen. Dieses Gebet wird zweimal täglich, morgens und abends, rund um
das Jahr gelesen. Der darauf folgende Absatz im täglichen Gebet stammt
ebenfalls aus dem Deuteronomium (5. Mose Kap. 11). Er ähnelt vom Inhalt her
dem ersteren, unterscheidet sich jedoch in der Tendenz wesentlich von ihm
und könnte sogar als sein Widerspruch verstanden werden. Wegen seiner
Wichtigkeit wird er hier vollständig zitiert:
„Werdet ihr nun meine Gebote hören, die ich euch
gebiete, dass ihr JHWH, euren Gott, liebet und ihm dienet von ganzem
Herzen und von ganzer Seele, so will ich eurem Land Regen geben zu
seiner Zeit, Frühregen und Spätregen, dass du einsammelst dein Getreide,
deinen Most und dein Öl, und will deinem Vieh Gras geben auf deinem
Felde, dass ihr esset und satt werdet.
Hütet euch aber, dass sich euer Herz nicht überreden lasse, dass ihr
abweichet und dienet andern Göttern und betet sie an, und dass dann der
Zorn des JHWH ergrimme über euch und schließe den Himmel zu, dass kein
Regen komme und die Erde ihr Gewächs nicht gebe und ihr bald umkommt von
dem guten Lande, das euch JHWH gegeben hat.“
Auch hier, nicht anders als im Abschnitt Schma, besteht das
Gebot, Gott zu lieben, ihm zu dienen und seine Gebote einzuhalten. Der
wesentliche Unterschied besteht in der Betonung der Elemente Lohn und
Strafe. Was bedeutet das?
-
Die Einhaltung
der Gebote soll mit Regen, fruchtbarem Land, reicher Ernte und sattem Vieh
belohnt werden. Die Abkehr von Gott und seinen Geboten wird mit den
schlimmsten Strafen, bis zur Vertreibung aus der Heimat, bedroht.
-
Einfache
Gemüter könnten den Abschnitt „Werdet“ (hebräisch „Wehaja“) so verstehen,
dass der Dienst an Gott dem Dienst an einen irdischen Herrn, einem König
etwa, gleiche. Hat der Jude die Gebote ordentlich eingehalten, kann er seine
Belohnung durch Gott nicht nur erwarten, sondern geradezu einfordern.
Tatsächlich kommen solche Beispiele in der hebräischen Bibel und in der
talmudischen Literatur, ferner auch im täglichen Leben vor.
-
Die
Schriftgelehrten konnten diese Einstellung nicht akzeptieren. Eine
Einstellung, die sich lediglich an dem Absatz Wehaja orientiert, wäre nichts
anderes als Götzendienst. Da sie mit der menschlichen Natur vertraut waren,
sie nicht zu verändern versuchten, sondern ihren Möglichkeiten gerecht
werden wollten, haben sie für den Absatz Wehaja eine plausible Erklärung
gefunden.
Der erste Abschnitt Schma ist der richtige Weg zur Wahrheit und zur
Erkenntnis des Glaubens. Der ist jedoch nicht für alle Menschen gangbar,
eher für die wenigsten. Für die meisten Menschen muss ein einfacher Weg
gefunden werden. Maimonides, der bedeutendste Theologe im Judentum hat dies
so erklärt:
„Da jedoch unsere Weisen erkannten, dass ...
man gewöhnt ist, als Mensch etwas nur mit Rücksicht auf Nutzen oder Schaden
zu tun oder zu unterlassen, und man nicht weiß, wie man … mit der Zumutung
herantrete: Tu dieses, scheue jenes – und zwar ohne Hoffnung auf Lohn oder
Furcht vor Strafe -, so haben unsere Alten dem Volke, damit es beim Glauben
verharre und das Gute übe, gestattet, dass es sich Vorstellungen von
irdischem Lohn für Erfüllung und von äußeren Strafen für Verletzung der
Gebote bilde; damit ermuntern sie die Menge und erziehen sie, bis der
Aufgeklärte das Richtige begreift.“
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Die Idee von
Lohn und Strafe ist also eine erzieherische Maßnahme. Jedoch nicht nur das.
Die Talmudgelehrten haben auch den Satz geprägt, dass man nicht immer etwas
um seiner selbst willen tun muss. Manchmal führt eine Handlung, die zunächst
aus eigennützigen Beweggründen vorgenommen wurde zu einem selbstlosen Zweck.
Im Talmud heißt es:
„R. Jehuda sagte ja im Namen des Rabb, dass man sich stets mit der Tora und
den Geboten (= guten Werken) befasse, auch nicht um ihrer selbst willen,
denn dadurch kommt man dazu, es um ihrer selbst willen zu tun.“
Maimonides meint hierzu: Der vollkommene Mensch tut etwas, um gute Taten zu
verwirklichen, ohne an den zu erwartenden Lohn zu denken. Der gewöhnliche
Mensch, wenn er bei solchen von ihm vollbrachten Taten an den Lohn denkt,
könnte dadurch zur Erkenntnis gelangen, die guten Taten auch selbstlos zu
vollbringen.
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Um diese
Einstellung noch zu verdeutlichen: Nehmen wir als Beispiel einen sich an die
Tradition haltenden Juden, der in einem von frommen Menschen bewohnten
Viertel in Jerusalem wohnt. Um nicht unangenehm aufzufallen, gewöhnt er sich
den Habitus der Frommen an, verhält sich also wie ein frommer Mensch. Er
wird dafür mit dem Wohlwollen seiner Nachbarschaft belohnt und freundlich
von ihr aufgenommen. Er entwickelt ein Interesse an den Menschen und
vertieft sich in deren Denken und Glauben und entdeckt schließlich, dass
diese Frömmigkeit ihn der Erkenntnis Gottes näherbringt, und er wird fromm.
So ungefähr kann man den Satz der Weisen verstehen, dass jemand die Gebote
zunächst nicht um ihrer selbst willen einhält aber es dann mit der Zeit aus
Überzeugung tut. Man könnte auch ein anderes Beispiel nehmen: Jemand wird
Arzt, weil er dadurch zu Geld kommen will. Mit der Zeit entwickelt er die
Leidenschaft, Menschen-leben zu retten, wobei das Erlangen von Reichtum
unwichtig wird.
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Die Tora
ermöglicht in den beiden Abschnitten Schma und Wehaja zwei Wege zum Dienst
an Gott und zur Verwirklichung des Glaubens, sie widersprechen sich nicht,
sie ergänzen sich.
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Sollte der
Eindruck entstanden sein, Lohn und Strafe gebe es in der jüdischen Religion
nicht, würde dieser in der Tora und den Aussagen der Propheten keine
Bestätigung finden. Es gibt die göttliche Vorsehung und die göttliche
Wirkung in die Welt hinein, jedoch die Wege Gottes wie auch seine Existenz
entziehen sich der menschlichen Kenntnis.
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