Sehr
geehrte Damen und Herren, die
Frage steht bereits in der Überschrift und sie ist einfach und eindeutig.
Allerdings sollte der Grund für diese Frage
erörtert werden. Gummibärchen
enthalten eine Substanz, die von Schweinen stammt. Jeder Jude, aber auch
fast jeder Christ weiß, dass die jüdische Religion das Verzehren von Schwein
verbietet. Also wäre die spontane Antwort auf die gestellte Frage (der ich
auch durch Befragung nachgegangen bin), dass die herkömmlich erstellten
Gummibärchen nach dem jüdischen Religionsrecht nicht koscher sind, also
nicht gegessen werden dürfen. Befasst
man sich jedoch eingehend mit dem „Problem Gummibärchen“, ergibt sich sowohl
in tatsächlicher als auch rechtlicher Hinsicht ein ziemlich komplizierter
Sachverhalt. Die verdächtige Substanz
in den Gummibärchen, um die es hier geht, heißt Gelatine. Sie wird aus
folgenden Materialien gewonnen: Bindegewebe (Häute und Knochen) von Rindern,
Schweinen, Fisch oder Geflügel. Durch lange physikalische Verfahren und
chemische Prozesse entsteht am Ende das Material, das bei Lebensmitteln und
pharmazeutischen Produkten (Kapseln) verwendet wird.
Das Herstellungsverfahren ist wichtig für die
Beurteilung durch die Rabbiner, ob dieses Material koscher (rein, tauglich
oder auch geeignet) oder trefe (unrein, nicht koscher) im religiösen Sinn
ist. Antwort:
Die Frage, ob Gelatine koscher ist, wird nicht
von allen Rabbinern gleichlautend beantwortet. Es gibt, wie schon seit
zweitausend Jahren, strengere und mildere Traditionen und Schulen.
- Die mildere Einstellung, die von vielen
Rabbinern vertreten wird, besagt, dass Gelatine, die aus Knochen und Häuten
von nicht koscheren Tieren mittels der oben angedeuteten komplizierten
Verfahren (auf die hier nicht näher eingegangen werden kann) gewonnen wird,
unbedenklich, also koscher ist. Diese Rabbiner stützen sich auf folgende
Begründungen: Gelatine, die aus
trockenen Knochen hergestellt wurde, ist nicht verboten, da die Knochen
nicht als Fleisch gelten und auch keine Nahrung darstellen. Durch die
Bearbeitung der Knochen und der Häute entsteht ein neues Material, das mit
dem ursprünglichen nicht identisch ist und deshalb nicht unter das Verbot
fällt. Eine halachische Regel besagt,
wenn Unkoscheres mit Koscherem vermengt wird, wobei das Unkoschere im
Verhältnis sehr gering ist, nämlich höchstens eins zu sechzig (1 / 60),
verschwindet das Unkoschere in der Menge und zählt nicht.
Eine weitere halachische Regel besagt, dass
etwas, das nicht geeignet ist von einem Hund gefressen zu werden, nicht als
essbares Lebensmittel gilt. Das ist der Fall bei reiner Gelatine.
Manche Rabbiner genehmigen die Gelatine, weil
das ursprüngliche Material den Geschmack verloren hat.
Nach der Halacha werden Verbote, die in der
Tora begründet sind und Verbote, die von den Weisen verordnet wurden, anders
behandelt. Nur Materialien, die der Speise einen spürbaren Geschmack geben,
werden durch das Tora-Gesetz zusammen mit der Speise verboten. Wenn aber ein
Material ohne Geschmack, lediglich zum Zweck der Stärkung beigemischt wird,
ist das Verbot nicht in der Tora begründet, sondern nur durch die Weisen.
Eine Halachische Meta-Regel besagt, dass bei Meinungsverschiedenheiten unter
den Weisen, also wenn Zweifel bestehen, ob man sich nach den Strengeren oder
nach den Erleichternden richtet, die mildere Auslegung gilt.
- Das orthodoxe Judentum legt besonders
strenge Maßstäbe an die Kaschrut an. Mehadrin ist das hebräische Wort für
die besonders strikten Regeln. Lebensmittel der streng orthodoxen Juden
werden mit der Markierung „koscher für mehadrin“ gekennzeichnet. Die
Mehadrin-Orthodoxen akzeptieren die herkömmlich produzierte Gelatine nicht.
Sie argumentieren folgender maßen: Es
könnte sein, dass auf den Knochen ein Rest Fleisch geblieben ist (was sehr
unwahrscheinlich ist). Man kann
andere Gelatine, die aus Fisch- oder Hühnerknochen oder aus Knochen von nach
jüdischen Regeln geschlachteten Rindern gewonnen wird (auch wenn diese sehr
viel teurer ist), verwenden. Die
strengeren Rabbiner akzeptieren auch nicht die Erklärung, es handle sich bei
der Gelatine um eine „neues Material“, denn das Material (die nicht
koscheren Häute und Knochen) wurde zwecks Verwendung in Lebensmitteln
verändert und ist deshalb mit dem ursprünglichen Trefe-Verbot behaftet.
Es werden noch weitere gewichtige Argumente
für das Verbot ins Feld geführt. Wegen der Kompliziertheit und Breite dieser
Begründungen kann hier nicht darauf eingegangen werden.
Nachbemerkung:
Oben habe ich betont, dass die meisten Juden
ein Lebensmittel, das mit einer ursprünglich aus Schweinen stammenden
Komponente vermengt ist als trefe (nicht koscher) ablehnen würden.
Auch manche Rabbiner haben sich ähnlich
geäußert:
- „Es ist sehr empfehlenswert, keine
Gelatine zu essen, die aus nicht koscheren Tieren erzeugt wurde, da diese
naturgemäß viele Fragen bezüglich der Kaschrut aufwirft.“
- „Auch wenn die Speise an sich koscher ist, jedoch eine Komponente enthält,
die vom Schwein stammt, sollte man sie nicht in den Mund nehmen.“
Diese generelle Abneigung gegen alles, was mit Schweinen verbunden ist,
findet man bei Juden im allgemeinen, also auch bei nicht religiösen Juden,
die sich sonst an keine jüdischen Speisegesetze halten.
Woher das kommt?
In der Bibel ist das Schwein neben anderen Tieren als unrein verboten. Das
allein würde die große Abneigung der Juden gegen das Schwein noch nicht
erklären. Das Schwein ist aber im Laufe der Geschichte für die Juden zum
Symbol für das Unreine und für das Ekelerregende geworden. Dies hängt
vermutlich mit geschichtlichen Ereignissen zusammen, die wenn auch nicht
immer historisch verbrieft, großen Einfluss auf die Phantasie und Gemütslage
schon des jüdischen Kindes hatten. Es sind hauptsächlich die Geschichten vom
Märtyrertum der Juden, die gezwungen werden sollten ihrem Gott abzuschwören,
indem sie Schweinefleisch aßen.
Ein besonders eindrucksvolles Beispiel steht im den Apokryphen der
hebräischen Bibel. Da wird berichtet (2. Makkabäer Kap. 7):
„1 Ein andermal geschah es, dass man sieben Brüder mit ihrer Mutter
festnahm. Der König wollte sie zwingen, entgegen dem göttlichen Gesetz
Schweinefleisch zu essen, und ließ sie darum mit Geißeln und Riemen
peitschen.
2 Einer von ihnen ergriff für die anderen das Wort und sagte: Was willst du
uns fragen und von uns wissen? Eher sterben wir, als dass wir die Gesetze
unserer Väter übertreten.“
Alle sieben Brüder weigern sich, vor dem Götzen niederzuknien und
Schweinefleisch zu essen. Sie werden nacheinander auf grausame Weise
umgebracht. Am Ende tötet sich die Mutter selbst, indem sie sich von einem
Dach hinunterstürzt.
Diese Geschichte, die sich vor dem Makkabäer-Aufstand im Jahr 165 v.d.Z.
ereignet haben soll, wird jedes Jahr zur Zeit des Chanukka-Festes, an dem an
den Sieg der Makkabäer erinnert wird, in den Schulen erzählt.
Tatsächlich ist diese Geschichte auch in die christliche Literatur als
Beispiel für das Märtyrertum eingegangen.
Mit freundlichen Grüßen
Bar Rav Nathan |