Sehr geehrte Damen und Herren,
die Frage lautet:
- Welche Gebete müssen Frauen täglich beten?
Antwort:
- Die Frage ist einfach und kurz zu beantworten: Frauen haben
die gleichen Pflichten wie Männer, so steht es im Talmud (mit einigen
Ausnahmen, deren Ausführung hier vernachlässigt werden kann).
- Obwohl die Frage, wie man sieht, leicht zu beantworten war,
birgt sie Detailaspekte, auf die man ausführlicher, wenn auch nicht
erschöpfend, eingehen muss.
- Zunächst müsste man definieren, was ein Gebet beinhaltet, welche Texte
beim Beten als unbedingt notwendig erachtet werden. Die Texte im Gebetbuch
sind ziemlich lang. Für das Morgengebet an einem Wochentag benötigt man
mindestens eine halbe Stunde, am Schabbat ca. zwei Stunden. Das Nachmittags-
und das Abendgebet sind wesentlich kürzer. Es ist deshalb kein Wunder, dass
die meisten Juden, auch diejenigen, die regelmäßig beten, nicht genau
wissen, dass nicht der gesamte im Gebetbuch abgedruckte Text unbedingt
gelesen/aufgesagt werden muss.
- Im Talmud bezieht sich der Begriff Gebet immer auf das
Achtzehn-Gebet.
Das Achtzehn-Gebet, so genannt, weil es ursprünglich achtzehn Segensprüche
enthielt (später fügte man einen hinzu) wird stehend gesprochen (weshalb es
auch im Hebräischen Amida – Stehend genannt wird). Es ist d a s Gebet
schlechthin. Das Lesen des Achtzehn-Gebets dauert nur wenige Minuten. Durch
das tägliche dreimalige Beten des Achtzehn-Gebets (morgens, nachmittags und
abends) hat man die Pflicht des Betens erfüllt. Man sollte natürlich auch
die anderen Texte im Gebetbuch, ob dies Stellen aus der Tora, Psalmen,
Segenssprüche oder spätere Poesien sind lesen, wenn man aber in Eile ist
oder es aus anderen Gründen nicht schafft, kommt man mit dem Achtzehn-Gebet
aus.
- Frauen müssen jedoch nur zweimal am Tag (morgens und nachmittags) beten.
Der Grund hierfür ist, dass die Pflicht zum Beten nur für das Morgen- und
Nachmittagsgebet angeordnet wurde. Die Männer haben freiwillig das
Abendgebet eingeführt. Da Frauen aber diese freiwillige Verpflichtung nicht
eingegangen sind, reicht es, wenn sie zweimal am Tag beten.
- Immer wieder in der langen Geschichte des jüdischen Gottesdienstes haben
die Religionslehrer über die Gebetspflichten der Frauen diskutiert. Viele
von ihnen haben den Frauen Erleichterungen eingeräumt, die vernünftig waren
und den gegebenen Umständen entsprachen. Es wurden hierfür hauptsächlich
zwei Gründe angeführt: (1) Den Frauen braucht man keine Pflicht zum Beten
aufzuerlegen, denn sie haben das natürliche Bedürfnis, sich mit Bitten oder
Gebet an Gott zu wenden und tun es ohnehin. (2) Frauen sind im Haushalt und
mit der Aufzucht der Kinder voll ausgelastet und man sollte es jeweils der
Frau überlassen, wann und wie viel sie betet. Das ist auch einer der Gründe,
weshalb von der Frau nicht verlangt wird, dass sie am Gottesdienst in der
Synagoge teilnimmt. Meines Erachtens hatten die Erleichterungen für die
Frauen einen weiteren nicht unerheblichen Grund, nämlich dass sie oft nicht
lesen konnten. Für die Töchter gab es keine Schulpflicht, im Gegensatz zu
den Söhnen, die seit über zweitausend Jahren nach jüdischem Recht mindestens
das Lesen lernen mussten. Deshalb heißt es auch bei einigen der
Religionsgelehrten, dass die Frau, wenn sie nicht lesen (= beten) kann, ihre
Pflicht auch mit einem einzigen Gebet am Tag erfüllt, und wenn sie überhaupt
nicht beten kann, so reicht auch eine Bitte an Gott, die einem Gebet gleich
kommt.
- An dieser Stelle ist es nicht möglich, das Thema erschöpfend zu behandeln.
Abschließend soll jedoch festgestellt werden: Frauen haben bezüglich des
Betens die gleichen Pflichten wie Männer (so auch Maimonides und der
Schulchan-Aruch). Ausnahmen sind jedoch möglich, und diesbezüglich muss jede
Frau für sich selbst entscheiden, wie oft und welche Texte sie betet. In den
obigen Ausführungen werden Frauen Anhaltspunkte für diese Entscheidung
finden.
Geschichtlicher Rückblick:
Das Gebet ist kein in der Tora angeordnetes Gebot (Mizwa). Es gehörte in der
Frühzeit des israelitischen Volkes nicht zum Ritus und nicht zum
Gottesdienst. Zwar wird an einigen Stellen der Bibel von betenden Personen
berichtet, die sich flehentlich an Gott wandten, jedoch können solche Bitten
nicht als das bezeichnet werden, was wir uns heute unter einem Gebet
vorstellen. Es gibt allerdings eine erwähnenswerte Stelle, auf die sich in
späteren Zeiten die Gelehrten oft beriefen. Es handelt sich um ein Bittgebet
aus der Frühgeschichte, aus der Zeit der Richter und der losen
Stammesverbindungen, noch vor dem Zusammenschlusses zu einem Volk unter
einem König. Es ist die Geschichte der Chana (1. Samuel, Kap. 1), die wegen
ihrer Kinderlosigkeit ihr Herz vor Gott ausschüttet. Nach ihrer Entbindung
mit dem Sohn Samuel bedankt sie sich mit einer wunderschönen Lobpreisung
(Preisungsgebet).
Die Bibel verordnete hauptsächlich die Darbringung von Opfern als
Gottesdienst. Als Jerusalem und mit ihr der Heilige Tempel von Nebukadnezar
dem Babylonier zerstört wurden (-587), war der bis dahin bekannte
Gottesdienst nicht mehr möglich. Anstelle des zerstörten Tempels wurde die
Synagoge, ein Versammlungsort für die Gemeinde, eingerichtet. Anstelle des
Opferns trat das Gebet. Dieses war der persönlichen Entscheidung des
Individuums bzw. dem Vorbeter in der Synagoge überlassen. Die geistlichen
Führer des Volkes (die Männer der Großen Versammlung im 5. – 3. Jh. v.d.Z.)
befürchteten jedoch, dass in der Ermangelung einer festgelegten
Gebetsordnung, das Beten und somit der Gottesdienst in Vergessenheit geraten
würden, deshalb haben sie das einheitliche Gebet festgelegt, nämlich das
Achtzehn-Gebet.
Persönliche Bemerkung:
Die Rubrik "Frag den Rabbi" dient in erster Linie dem Zweck, Menschen bei
der Wahrnehmung und beim Praktizieren ihres Judentums behilflich zu sein.
Das hier behandelte Thema wurde aus dem echten Bedürfnis zur Klärung der
Gebetspflicht angeregt. Besondere Freude bereitete mir die Tatsache, dass
die Frage in diesem Fall von einem dreizehnjährigen Mädchen gestellt wurde.
Ich wünschte, mehr Jugendliche würden über ihr tägliches Verhalten mit Bezug
auf ihre jüdische Identität nachdenken und mir entsprechende Fragen
stellen.
Mit freundlichen Grüßen
Bar Rav Nathan
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