
Sehr geehrte Damen und Herren,
die Frage bezieht sich auf die Interpretation des biblischen
Verbots der Homosexualität.
Der hebräische Text ist unmissverständlich. Der Beischlaf von
Männern ist verboten und wird unter schwere Strafe gestellt.
Die entsprechende Bestimmung befindet sich im 3. Buch Moses
an zwei Stellen:
Kap. 18, 22: Und einem Mann sollst du nicht beiliegen wie man
einer Frau beiliegt; Gräuel ist dies.
Kap. 20, 13: Und jemand, der einem Mann beiliegt, wie man mit
einer Frau beiliegt, Gräuel haben sie beide begangen; getötet sollen sie
werden.
Mag sein, dass diese Bestimmung heutzutage, besonders unter
nicht-religiösen Menschen, auf Unverständnis stößt. Sie passt auch nicht in
unsere Zeit. Schließlich ist es eine Tatsache, dass die meisten Länder im
20. Jh. in ihren Strafgesetzbüchern das Verbot der Homosexualität aufgehoben
haben. (Allerdings wird die Todesstrafe nach jüdischem Recht seit etwa
zweitausend Jahren nicht mehr vollstreckt.) Trotzdem kann es nicht darum
gehen, die Bibel nach dem gegenwärtigen Zeitgeist umzudeuten. Die Frage, die
gestellt und behandelt werden kann und durchaus auch behandelt werden soll,
ist die folgende:
Warum hat der biblische Gesetzgeber die Homosexualität von
Männern mit schweren Strafen bedroht?
Antwort:
- Fragen wie diese werden manchmal mit dem Hinweis erledigt,
da man nicht genau wisse, wann die Bibel (ob vor dreitausend oder vor
zweitausendfünfhundert Jahren) und unter welchen gesellschaftlichen
Bedingungen (ob von einem Nomaden- oder von einem ansässigen Volk mit einer
zentralen Verwaltungsstadt) verfasst wurde, könne man hierzu nichts Genaues
sagen.
- Der Talmud und die großen Gesetzeskodifikationen (die von
Maimonides und der Schulchan-Aruch) haben sich mit diesem Thema nicht
befasst. Der Text in der Tora ist eindeutig; dem war nichts hinzuzufügen.
- Jedoch würden eine Textanalyse und die Prüfung des historischen und
gesellschaftlichen Rahmens zu interessanten Erkenntnissen führen.
Zunächst einige Feststellungen:
- Die Tora (die fünf Bücher Moses) enthalten Gesetze, Gebote, Hinweise, die
man in zwei Kategorien aufteilen kann. Es handelt sich zum einen um
Bestimmungen, die das Leben in der Gesellschaft ordnen wie z.B. einen
Strafrechtskatalog, die Sklavenordnung, Anordnungen mit zivilrechtlichem
Charakter und ethische Normen (jus humanum). Zum anderen handelt es sich um
Gesetze, die das Verhältnis zwischen dem Menschen und seinem Gott regeln wie
z.B. den Gottesdienst, die Opferordnung, den Kult und Reinheitsverordnungen
(jus divinum).
- Für den gläubigen Juden ist die Tora eine Selbstverständlichkeit. Sie
wurde von Gott, der sich Moses und den israelitischen Stämmen offenbart
hatte, inspiriert. Jedoch für den Bibel- und Religionsforscher ist die Sache
nicht selbstverständlich. Die Welt, in der Moses und die Israeliten mit
ihrem Gott in Erscheinung treten ist nicht ungläubig. Ganz im Gegenteil. Es
herrschen viele religiöse Vorstellungen und viele Götter. Und das Sonderbare
ist, dass in dieser politeistischen Welt die Götter sich meist zu vertragen
scheinen. Sie scheinen jeweils die Existenz der Anderen zu dulden. Die
Menschen haben damit kein Problem. Wenn der jeweilige Volksgott versagt,
geht man zum Siegergott über, um ihm zu dienen. Häufig dient man auch
einigen Göttern gleichzeitig. Sicher ist sicher. In dieser heidnischen Welt
erscheint der Gott der Juden, der den Anspruch erhebt, der einzige Gott zu
sein. Nicht ein oberster Gott, kein Gott über Göttern, sondern nur er allein
hat alles erschaffen, war schon immer da und wird immer da sein. "Es gibt
keinen Gott außer mir" sagt er (Jesaja 45, 21).
- Die monotheistische Idee platzt als eine Revolution in die Welt der Antike
hinein. Die Israeliten scheinen für den neuen Glauben noch nicht reif genug
zu sein. So jedenfalls bekunden die Tora und die anderen Bücher des
hebräischen Testaments. Bei erster Gelegenheit, als Moses, der Prophet
Gottes, sein Volk für vierzig Tage verlässt und sich auf den Berg Sinai
zurückzieht, erwählt das Volk einen neuen Gott, das goldene Kalb. Auch in
der Zeit danach, so berichtet die Bibel, wenden sich die Juden oft von Gott
ab und dienen zuweilen anderen Göttern. Selbst in der Hauptstadt Jerusalem,
wo König Salomo dem Gott der Juden einen Tempel errichtet hat, errichten die
Frauen des Königs ihren fremden Göttern eigene Altäre. Alles in allem hört
man oft, dass die Propheten sich über das seinem Gott gegenüber untreue Volk
Israel beklagen. Wie konnte sich also letzten Endes der biblische Gott bei
den Juden doch durchsetzen?
- Die Tora hat das Problem erkannt und hat auch die entsprechenden
Schutzmechanismen eingebaut. Das Problem lässt sich wie folgt beschreiben:
Die Völker im Lande Kanaan wie auch in ganz Mesopotamien dienten ihren
Göttern (oder Götzen) und hatten ihre Kultbräuche, die sich voneinander
nicht sehr unterschieden. Eine Annäherung der Juden an die Bräuche und an
den Kult der anderen Völker hätte den Unterschied zwischen dem
monotheistischen Gott und den anderen Göttern verwischt, was zur Abkehr von
Gott geführt hätte (was auch, so steht es in der Bibel, nicht selten
geschah). Die Besonderheit des Gottes der Juden und sein alleiniger Anspruch
auf diesen Titel musste durch radikale Maßnahmen dokumentiert und
durchgesetzt werden. Es musste nicht nur eine strenge Linie zwischen dem
jüdischen Glauben und dem Glauben der anderen gezogen werden, sondern auch
zwischen dem jüdischen Volk und den anderen Völkern. Der besondere Glaube an
den monotheistischen Gott musste die anderen Götter ausgrenzen und konnte
auch nur von einem Volk getragen werden, das sich ebenso von den anderen
Völkern unterschied und sich von ihnen abgrenzte.
- Die Schutzmechanismen hat die Tora durch Gesetze eingebaut, die dem
Bereich der Gebote angehören, die die Beziehung vom Menschen zu Gott regeln.
Drei Gesetzeskomplexe sind zu erwähnen: Die Reinheit des Menschen, die nicht
immer Reinlichkeit, sondern eher das Spirituelle bedeutet. Die Heiligkeit
des jüdischen Volkes, die durch die Einhaltung der göttlichen Gebote
erreicht wird. Die absolute Abgrenzung des Kultes und der Gebräuche von den
heidnischen Völkern. Die Gesetze im Bereich der göttlichen Sphäre, jus
divinum, unterscheiden sich vom jus humanum dadurch, dass sie nicht immer
begründet und manchmal logisch nicht nachvollziehbar sind (wie z.B. "Du
sollst nicht kochen ein Böcklein in der Milch seiner Mutter", 2. Moses 23,
19).
- Und nun zum Verbot der männlichen Homosexualität:
Betrachtet man das Verbot im Kontext der Kapitel 18 und 20, fallen folgende
Sätze auf:
18, 3: … ihr sollt nicht tun, was man in Kanaan tut, ... Ihre Bräuche sollt
ihr nicht befolgen.
18. 6-18: Unzucht unter Verwandten
18, 21: Von deinen Nachkommen darfst du keinen für Moloch darbringen.
18, 23: Keinem Vieh darfst du beiwohnen; du würdest dadurch unrein. Keine
Frau darf vor ein Vieh hintreten, um sich mit ihm zu begatten; das wäre eine
schandbare Tat.
18, 24: Ihr sollt euch nicht durch all das verunreinigen; denn durch all das
haben sich die Völker verunreinigt,
20, 2: … der eines seiner Kinder dem Moloch gibt, wird mit dem Tod bestraft.
20, 6: Gegen einen, der sich an Totenbeschwörer und Wahrsager wendet und
sich mit ihnen abgibt, richte ich mein Angesicht und merze ihn aus seinem
Volk aus.
20, 7: Ihr sollt euch heiligen, um heilig zu sein; denn ich bin der Herr,
euer Gott.
20, 15: Ein Mann, der einem Tier beiwohnt, wird mit dem Tod bestraft; auch
das Tier sollt ihr töten.
20, 16: Nähert sich eine Frau einem Tier, um sich mit ihm zu begatten, dann
sollst du die Frau und das Tier töten. Sie werden mit dem Tod bestraft; ihr
Blut soll auf sie kommen.
20, 23: Ihr sollt euch nicht nach den Bräuchen des Volkes richten, das ich
vor euren Augen vertreibe; denn all diese Dinge haben sie getan, so dass es
mich vor ihnen ekelte.
20, 24: Ich bin der Herr, euer Gott, der euch von diesen Völkern
ausgesondert hat.
20, 26: Seid mir geheiligt; denn ich, der Herr, bin heilig und ich habe euch
von all diesen Völkern ausgesondert, damit ihr mir gehört.
Die Homosexualität wie auch das Begatten von Tieren sind aus
dem Aschtarte-Kult und teilweise aus dem Baal-Kult bekannt. Hier fällt
besonders auf, dass auch das Tier, das nichts dafür kann, getötet werden
soll. Dem Moloch Kinder zu opfern war für die Tora eine besondere Gräueltat.
Das Wahrsagen und die Totenbeschwörung gehörten ebenfalls zum Kult der
fremden Götter. Ferner fällt auf, dass die Absonderung von den anderen
Völkern und von deren Bräuchen wie auch die Heiligkeit des jüdischen Volkes
mehrmals betont werden.
In diesem Zusammenhang wurde die Homosexualität verboten.
Schlusswort:
Die Wissenschaft geht davon aus, dass die Homosexualität
mindestens teilweise durch die Anlage bedingt ist. Die so veranlagten
Menschen unter jüdischen Gläubigen leiden selbstverständlich unter dieser
Last.
Die hier vorgetragene Analyse ist jedoch nicht geeignet, das biblische
Verbot zu relativieren. Allein ein Synhedrion, der Rat von einundsiebzig
Gelehrten und Weisen (sollte es jemals wieder zu einer Konstituierung dieses
Rats kommen), könnte das jüdische Recht neuinterpretieren. (Das Synhedrion
existierte von etwa 200 v. bis 400 n.d.Z., s. auch
http://www.juedisches-recht.de/).
Mit freundlichen Grüßen
Bar Rav Nathan
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