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Das jüdische Volk und sein Gesetz:
Der antidogmatische Charakter des jüdischen Gesetzes

Von Erich Fromm


 

Die religiösen Inhalte der Bibel und der Propheten sind auch die des ganzen späteren Judentums. Man hat immer wieder auf die biblisch-prophetischen Formulierungen zurückgegriffen und in ihnen die eigenen religiösen Inhalte ausgedrückt. Dabei war es für den jüdischen Geschichtskörper aufgrund seiner charakteristischen Korrelation von "Gesellschaftskörper" und "Kultur" weder notwendig noch möglich, eine Dogmatik zu entwickeln.

Allerdings sollte man sich hüten, Dogmen mit gewissen bereits in der Bibel vorkommenden Formulierungen - etwa das "Höre, Israel, der Ewige unser Gott, der Ewige ist einzig" (Dtn 6,4) - zu verwechseln. Solche Formeln enthalten im Unterschied zu Dogmen keine Aussagen über Gott, die geglaubt werden sollen, sondern sind nur Ausdruck der religiösen Grundhaltung des Volkes und zugleich die Voraussetzung für alles andere Gebotene, bei dem es auch nicht um Glauben, sondern um das Handeln geht. H. von Schubert (1919, S. 76f.) sieht demgegenüber das Wesen des Dogmas in nachbiblischer Zeit nicht mehr im Glauben an eine Person begründet; Glaube wird vielmehr "die Zustimmung zu den Aussagen über diese Person".

Noch ein Zweites ist zu bedenken: Natürlich hat jeder Jude und zumal jeder geistige Führer des Volkes seine ihm eigene individuelle Weltanschauung gehabt. Es ist dann nicht verwunderlich, wenn mancher den Anspruch erhebt, seine Weltanschauung im Volke durchsetzen zu wollen. Unter soziologischen Gesichtspunkten ist aber nicht dieser Anspruch wichtig, sondern die Frage, ob er sich tatsächlich durchgesetzt hat, ob also der Glaube des Einzelnen zum Glauben der Gesamtheit geworden ist. Schließlich gilt es zu bedenken, dass der Anspruch auf dogmatische Glaubensbekenntnisse - mit einer Ausnahme vielleicht - erst im Mittelalter erhoben wurde, und zwar aus apologetischen und politischen Gründen im Zusammenhang mit der Abwehr fremder Religionen und Kulturen. Die Glaubensformulierungen wurden - wie in der Philosophie üblich - wie eine Waffe ergriffen, um den Kampf gegen die fremden Gegner möglich zu machen. Das Ganze war eine Art Mimikry, die beim Zusammenstoß mit fremden Kulturen nötig wurde. (Zur Frage der Dogmenbildung vgl. S. Schechter, 1889, S. 48-61 und US-127.)

Etwas Ähnliches wie eine Glaubensformulierung finden wir in der jüdischen Literatur erstmals im Traktat Sanhedrin des Talmud, wo es heißt: "Dies sind die, die keinen Anteil an der kommenden Welt haben, die die Wiederauferstehung der Toten leugnen, die sagen, dass die Tora nicht von Gott gegeben ist, und die Epikuräer." - Abgesehen davon, dass dieser Satz schon seiner Unvollständigkeit wegen nicht als vollständige Dogmatik des Judentums angesehen werden kann, geht aus ihm auch hervor, dass die drei Glaubenserfordernisse aus polemischen Gründen angeführt werden. Auch S. Schechter (1889, S. 58), der den Glaubenscharakter des Judentums verteidigt, muss zugeben: "Wenn die Rabbinen die drei Punkte aufstellten, so muß das irgendeinen historischen Grund gehabt haben." Denn es gibt auch diese Aussagen im Talmud (zit. nach S. Schechter, 1889, S. 57); "Wer den Götzendienst leugnet, wird Jude genannt. Der Jude, auch wenn er gesündigt hat, bleibt Jude."

Von Dogmen im eigentlichen Sinne kann erstmals bei der Sekte der Karäer, die sich vom Judentum abspaltete, gesprochen werden. Wir finden sie im Eschkol Ha-Kofer des Jehuda Hadassi (um 1150 n. Chr.), der sie seinerseits möglicherweise von dem Karäer Josef Alfasir (um 950 n. Chr.) ganz oder teilweise übernommen hat. Auch der Gründer des Karäismus, Anan ben David, hat offenbar eine dogmatische, in Arabisch geschriebene "Summe" verfaßt.

Lassen sich zum ersten Mal Dogmen bei einer vom Judentum abgefallenen Sekte finden, so stellen kurze Zeit später repräsentative Gelehrte des Judentums selbst Dogmen auf. Der Grund hierfür wird, wie auch S. Schechter (1889) annimmt, in den engeren Kontakten der Juden zu neueren philosophischen Schulen und Glaubens-bekenntnissen zu suchen sein, sowie in dem Bemühen einzelner Gelehrter, sich mit diesen Glaubensbekenntnissen und Philosophien persönlich in der Weise auseinanderzusetzen, dass sie die Autorität des Judentums in Form eines theologischen Systems einbringen zu müssen glaubten.

Der erste Vertreter des Judentums, der ein Dogmensystem aufstellte, war der jüdische Religionsphilosoph Maimonides. Er formulierte dreizehn Glaubensartikel, von deren Anerkennung er die Zugehörigkeit zum Judentum abhängig machen wollte. Die Glaubensartikel von Maimonides fanden teilweise Anerkennung, teilweise wurden sie ergänzt oder gekürzt, teilweise wurde ihnen heftig widersprochen. So stellte Nachmanides nur drei Grundprinzipien des Judentums auf (die creatio ex nihilo, die Allwissenheit und die Vorsehung); Rabbi David ben Samuel d'Estella (1320) sprach von sieben Glaubenssätzen, Rabbi David ben Jomtof Bilia fügte den dreizehn von Maimonides weitere dreizehn hinzu. Rabbi Josef kennt nur eine Grundglaubensforderung des Judentums. Endlich vertritt Rabbi Saul aus Berlin (gestorben 1794), ein Kritiker von Maimonides, dass Dogmen überhaupt nur mit Rücksicht auf die Notwendigkeit der Zeit gemacht werden können.

Die Dogmen haben tatsächlich keine weiterreichende Bedeutung bekommen, als individuelle Meinungsäußerungen einzelner Führer des jüdischen Volkes zu sein. Dies beweist vor allem die Tatsache der völligen Verschiedenheit der aufgestellten Dogmen. Während das Gesetz nur wenige eindeutige Kodifikationen gefunden hat, die für das ganze Volk inpraxi verbindlich waren, entstand unter den jüdischen Gelehrten eine große Auseinandersetzung um die Glaubensartikel. Doch darüber ist es nie auch nur zur geringsten nationalen Spaltung und Absonderung gekommen. Es war ein rein theoretischer Streit, der heute nur noch historische und literarische Bedeutung hat. Das jüdische Volk selbst hat die Dogmen längst vergessen mit Ausnahme der dreizehn Glaubensartikel des Maimonides, die - zu einem Gedicht umgearbeitet - nach Beendigung des Gottesdienstes am Abend der Feiertage gesungen werden. Vergleicht man hiermit etwa die Rolle des Glaubensbekenntnisses im Islam oder in der katholischen bzw. protestantischen Kirche, so springt einem der Unterschied sofort in die Augen.

Um den rein theoretischen Charakter der Dogmen und ihre gesellschaftliche Bedeutungslosigkeit im jüdischen Volk zu illustrieren, mag die Kontroverse zwischen Maimonides und Rabbi Abraham ben David typisch sein. Auf die Bemerkung des Maimonides, dass derjenige, der nicht an die völlige Unkörperlichkeit Gottes glaube, keinen Anteil an der zukünftigen Welt habe, bemerkt Rabbi Abraham in seinem Kommentar zum Werk von Maimonides kurz: "Bessere und Größere als Du haben daran geglaubt!"

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Erich Fromm
, Psychoanalytiker und Sozialphilosoph, wurde am 23. März 1900 in Frankfurt am Main geboren. Nach seiner Promotion in Soziologie 1922 in Heidelberg kam er mit der Psychoanalyse Sigmund Freuds in Berührung und wurde Psychoanalytiker. 1933 emigrierte er in die USA, wo er an verschiedenen Instituten lehrte, und anschließend, von 1950 bis 1974, an der Universität von Mexiko City unterrichtete. Er starb 1980 in Locarno in der Schweiz.

haGalil onLine 05-02-2003


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