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Kapitel 3. / Das jüdische Volk und sein Gesetz:
Von der Form im allgemeinen und dem jüdischen Gesetz im besonderen

Gesetz und Umwelt:
Die Möglichkeit  des Menschen sich zu vervollkommnen

Von Erich Fromm


 

Das Gesetz will Möglichkeiten schaffen, zum Ziel zu kommen, doch ist es nicht selbst das Ziel. Es ist, wie das Wort "Halacha" besagt, ein Weg. Dies bedeutet auch, dass man ohne ihn zum Ziel der Erkenntnis Gottes kommen kann. Er ist gewiss nicht das Ziel selbst. Er will vielmehr gegangen sein, wobei er ein Schaffen des Menschen verlangt.

*) Halakhah, von hebr. "haloch", gehen

Während nun aber nur wenige sich den Weg zum Ziel selbst bahnen können, ist der einmal gebahnte Weg für die Gesamtheit des Volkes gangbar. Das Gesetz will die Umwelt verändern, nicht unmittelbar die Menschen. Dies wird wohl am deutlichsten beim Sabbatgesetz. Es ist in dem Gesetz - was sehr wohl denkbar wäre - nicht vorgeschrieben, welcher Stimmung der Jude am Sabbat sein soll, welcher Geist ihn beseelen und wie die Art seiner Freude und seiner Ruhe sein soll. Aber es wird ihm bis ins Einzelne befohlen, was er zu tun und zu lassen hat. Es verbietet nicht nur allgemein, dass er irgendwelche Arbeit verrichtet, sondern bis in kleinste Kleinigkeiten wird kasuistisch festgestellt, was erlaubt und was verboten ist. So ist dem Juden nicht nur verboten, zu kaufen und zu verkaufen, selbst das Berühren des Geldes und aller irgendwie werktäglichen Gegenstände ist ihm untersagt. Das Gesetz verändert die Umwelt des Juden am Sabbat. Es trennt ihn radikal von der werktäglichen Welt, die ihn sonst umgibt, und will ihm so die Möglichkeit zur inneren schöpferischen Ruhe geben. Das Gesetz will die Umwelt verändern, um dem Menschen die Möglichkeit zu geben, sich selbst zu ändern.

Träger des Gesetzes als ganzes ist das Volk. Die Ausübung des einzelnen Gesetzes ist dem Einzelnen, der Männergemeinschaft und der Familie übertragen. Die Stellung von Mann und Frau zum Gesetz ist verschieden. Für die Frau gilt das Gesetz mit Ausnahme all jener Pflichten, die an eine bestimmte Zeit gebunden sind. Dies hat wohl seinen Grund darin, dass gerade jene Gesetze, die an eine bestimmte Zeit gebunden sind, den Sinn haben, den Menschen aus seiner Zeitgebundenheit herauszureißen und ihn so zum Beherrscher der Zeit zu machen. Diese Notwendigkeit besteht für den Mann bei weitem mehr als für die Frau.

Soweit Gesetze nur den einzelnen betreffen und ihn nicht gleichzeitig als Glied der Männergemeinschaft erfassen, sind sie an Gelegenheiten geknüpft, die ihrer Eigenart nach auch jeweils nur den einzelnen betreffen wie etwa die Reinheitsgesetze, die Gesetze für die Eheschließung oder für den Todesfall.

Das Gesetz, dessen eigentlicher Träger die Männergemeinschaft ist, ist das Gebet. Es gilt zwar, dass auch der einzelne es mit einigen Abänderungen verrichten darf, doch ist seine eigentliche Stätte die Gemeinde der zehn Männer. In der Gemeinde ruht Gottes Herrlichkeit und in ihr drückt sich der gesellschaftliche Charakter des Judentums am deutlichsten aus. Dies wird vor allem am Versöhnungstag deutlich. Diesen Tag verbringt die Gemeinde, von Abend zu Abend fastend und betend, in ihre Sterbekleider gehüllt, um an ihm zu Gott zurückzukehren. Der Versöhnungstag hat ein bestimmtes Datum im Jahr. Doch wenn immer eine Gemeinde beschließt, in Gemeinschaft "die Rückkehr zu vollziehen" und diesen Tag zu feiern, ist ihr dies möglich und gestattet, weil nicht der bestimmte Termin, sondern die Tatsache der Rückkehr der Gemeinde wesentlich ist. Der Talmud sagt, dass viele Vergehen, die durch die Buße des einzelnen keine Versöhnung finden können, erst in der Rückkehr der Gemeinde ihre individuelle Sühne und Aufhebung finden.

Als Trägerin des Gesetzes steht die Familie der Gemeinschaft der Männer gegenüber. Für sie ist wohl die Feier des Seder, die Erinnerungsfeier an die Befreiung aus Ägypten, besonders typisch. Alle nationale Schönheit und Größe ist hier zusammengefasst, damit ihr im Kreis der Familie gedankt wird. Dies wird bereits im biblischen Gebot deutlich: "Da sprach Gott zu Aaron und Moses in Ägypten folgendermaßen: 'Der gegenwärtige Monat soll für euch der Anfangsmonat sein, als erster unter den Monaten des Jahres soll er euch gelten. Sprecht zur ganzen Gemeinde Israels folgendermaßen: Am zehnten des gegenwärtigen Monats, da sollen sie sich je ein Stück Kleinvieh für jede Familie anschaffen.'" (Ex 12,1-3)
Auch am Chanukkafest, dem fest zur Erinnerung an die siegreichen Kämpfe der Makkabäer und der Einweihung des Tempels, befiehlt der Talmud, dass es in besonderer Weise in der Familie gefeiert werde.

Es lässt sich sagen, dass das, was seinen Grund in den individuellen Beziehungen zwischen Mensch und Gott hat, wie das Gebet, in die Gemeinschaft der Männer hineinverlegt wird und dass umgekehrt das, was seinen Grund im Gemeinschaftlichen, rationalen hat, im Kreis der Familie beheimatet ist. Durch diese Wechselbindung wurde die Verschmelzung des Volkskörpers mit dem Gesetz und damit mit dem religiösen Inhalt befestigt und verstärkt.

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Seit frühester Zeit hat sich das Judentum in unterschiedlichen Gesellschaften behauptet. Erich Fromm untersucht  die Faktoren, aus denen das "Jüdische Gesetz" des Zusammenlebens entstand.
Erich Fromm
, Psychoanalytiker und Sozialphilosoph, wurde am 23. März 1900 in Frankfurt am Main geboren. Nach seiner Promotion in Soziologie 1922 in Heidelberg kam er mit der Psychoanalyse Sigmund Freuds in Berührung und wurde Psychoanalytiker. 1933 emigrierte er in die USA, wo er an verschiedenen Instituten lehrte, und anschließend, von 1950 bis 1974, an der Universität von Mexiko City unterrichtete. Er starb 1980 in Locarno in der Schweiz.

haGalil onLine 13-02-2003


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