Während nun aber nur wenige sich den Weg zum Ziel selbst bahnen können, ist
der einmal gebahnte Weg für die Gesamtheit des Volkes gangbar. Das Gesetz will
die Umwelt verändern, nicht unmittelbar die Menschen. Dies wird wohl am
deutlichsten beim Sabbatgesetz. Es ist in dem Gesetz - was sehr wohl denkbar
wäre - nicht vorgeschrieben, welcher Stimmung der Jude am Sabbat sein soll,
welcher Geist ihn beseelen und wie die Art seiner Freude und seiner Ruhe sein
soll. Aber es wird ihm bis ins Einzelne befohlen, was er zu tun und zu lassen
hat. Es verbietet nicht nur allgemein, dass er irgendwelche Arbeit verrichtet,
sondern bis in kleinste Kleinigkeiten wird kasuistisch festgestellt, was erlaubt
und was verboten ist. So ist dem Juden nicht nur verboten, zu kaufen und zu
verkaufen, selbst das Berühren des Geldes und aller irgendwie werktäglichen
Gegenstände ist ihm untersagt. Das Gesetz verändert die Umwelt des Juden am
Sabbat. Es trennt ihn radikal von der werktäglichen Welt, die ihn sonst umgibt,
und will ihm so die Möglichkeit zur inneren schöpferischen Ruhe geben. Das
Gesetz will die Umwelt verändern, um dem Menschen die Möglichkeit zu geben, sich
selbst zu ändern.
Träger des Gesetzes als ganzes ist das Volk. Die Ausübung des einzelnen
Gesetzes ist dem Einzelnen, der Männergemeinschaft und der Familie übertragen.
Die Stellung von Mann und Frau zum Gesetz ist verschieden. Für die Frau gilt das
Gesetz mit Ausnahme all jener Pflichten, die an eine bestimmte Zeit gebunden
sind. Dies hat wohl seinen Grund darin, dass gerade jene Gesetze, die an eine
bestimmte Zeit gebunden sind, den Sinn haben, den Menschen aus seiner
Zeitgebundenheit herauszureißen und ihn so zum Beherrscher der Zeit zu machen.
Diese Notwendigkeit besteht für den Mann bei weitem mehr als für die Frau.
Soweit Gesetze nur den einzelnen betreffen und ihn nicht gleichzeitig als
Glied der Männergemeinschaft erfassen, sind sie an Gelegenheiten geknüpft, die
ihrer Eigenart nach auch jeweils nur den einzelnen betreffen wie etwa die
Reinheitsgesetze, die Gesetze für die Eheschließung oder für den Todesfall.
Das Gesetz, dessen eigentlicher Träger die Männergemeinschaft ist, ist das
Gebet. Es gilt zwar, dass auch der einzelne es mit einigen Abänderungen
verrichten darf, doch ist seine eigentliche Stätte die Gemeinde der zehn Männer.
In der Gemeinde ruht Gottes Herrlichkeit und in ihr drückt sich der
gesellschaftliche Charakter des Judentums am deutlichsten aus. Dies wird vor
allem am Versöhnungstag deutlich. Diesen Tag verbringt die Gemeinde, von Abend
zu Abend fastend und betend, in ihre Sterbekleider gehüllt, um an ihm zu Gott
zurückzukehren. Der Versöhnungstag hat ein bestimmtes Datum im Jahr. Doch wenn
immer eine Gemeinde beschließt, in Gemeinschaft "die Rückkehr zu vollziehen" und
diesen Tag zu feiern, ist ihr dies möglich und gestattet, weil nicht der
bestimmte Termin, sondern die Tatsache der Rückkehr der Gemeinde wesentlich ist.
Der Talmud sagt, dass viele Vergehen, die durch die Buße des einzelnen keine
Versöhnung finden können, erst in der Rückkehr der Gemeinde ihre individuelle
Sühne und Aufhebung finden.
Als Trägerin des Gesetzes steht die Familie der Gemeinschaft der Männer
gegenüber. Für sie ist wohl die Feier des Seder, die Erinnerungsfeier an die
Befreiung aus Ägypten, besonders typisch. Alle nationale Schönheit und Größe ist
hier zusammengefasst, damit ihr im Kreis der Familie gedankt wird. Dies wird
bereits im biblischen Gebot deutlich: "Da sprach Gott zu Aaron und Moses in
Ägypten folgendermaßen: 'Der gegenwärtige Monat soll für euch der Anfangsmonat
sein, als erster unter den Monaten des Jahres soll er euch gelten. Sprecht zur
ganzen Gemeinde Israels folgendermaßen: Am zehnten des gegenwärtigen Monats, da
sollen sie sich je ein Stück Kleinvieh für jede Familie anschaffen.'" (Ex
12,1-3)
Auch am Chanukkafest, dem fest zur Erinnerung an die siegreichen Kämpfe der
Makkabäer und der Einweihung des Tempels, befiehlt der Talmud, dass es in
besonderer Weise in der Familie gefeiert werde.
Es lässt sich sagen, dass das, was seinen Grund in den individuellen
Beziehungen zwischen Mensch und Gott hat, wie das Gebet, in die Gemeinschaft der
Männer hineinverlegt wird und dass umgekehrt das, was seinen Grund im
Gemeinschaftlichen, rationalen hat, im Kreis der Familie beheimatet ist. Durch
diese Wechselbindung wurde die Verschmelzung des Volkskörpers mit dem Gesetz und
damit mit dem religiösen Inhalt befestigt und verstärkt.
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