Das jüdische Volk wird durch die gemeinsame Form des Gesetzes
konstituiert, wobei das Gesetz der Träger des religiösen Inhalts ist.
Welches ist die allgemeine Bedeutung der Form als gesellschaftliches Handeln -
als formaler Ausdruck religiösen Inhalts verstanden - und welches ist ihre
Beziehung zum Sinn?
Die Bedeutung der Form ist zunächst negativ in dem Schutz zu sehen, den sie
gewährt. Sie schützt das Heilige, das sich in ihr birgt, den Inhalt, dem sie als
Hülle dient. Der heilige Inhalt darf nur in seltenen Augenblicken unmittelbar
ausgesprochen und enthüllt werden. In der Geschichte lässt sich immer wieder
beobachten, dass dann, wenn heiligste Inhalte unverhüllt der Masse übergeben
werden, sie immer mehr ihre Heiligkeit verlieren und schließlich als Plattheiten
enden, die nur noch von Unwissenden im Munde geführt werden. Das Heilige darf
nur im Augenblick der Weihe oder in der Heimlichkeit intimer
Menschengemeinschaft gefahrlos ausgesprochen werden. Dies ist der tiefere Sinn
des jüdischen Verbots, den Namen Gottes auszusprechen, und erklärt zugleich,
warum es dennoch dem hohen Priester einmal im Jahr, in der Weihestunde des
Versöhnungstages, erlaubt war, den Namen Gottes auszusprechen.
Die Form schützt den in ihr geborgenen heiligen Inhalt; sie schützt aber auch
die Individualität des von diesem Inhalt erfüllten Menschen. Zwar lässt schon
die Sprache, insofern sie die Form ist, in der ein Inhalt ausgedrückt wird, der
Individualität des Einzelnen eine gewisse Freiheit, den Inhalt so zu verstehen
und ihn sich neu zu schaffen, wie er allein es kann und muss; um wieviel größer
ist aber die Freiheit, wenn der ungesagte Inhalt in der Form verhüllt bleibt.
Erst dann kann der Einzelne diesen Inhalt ganz seiner Eigenart entsprechend
gestalten, ohne dennoch - und hierin liegt eine weitere Bedeutung der Form - den
Zusammenhang mit den Menschen seiner Generation, mit der Gesamtheit des Volkes
und mit den Generationen vor ihm und nach ihm, also den Zusammenhang mit der
Geschichte zu verlieren. Formen sind unmittelbare Träger des "Sinns", sie sind
Vermittler zwischen religiöser Idee und Gesamtheit. Sie wahren ebenso die
Individualität des Einzelnen im Rahmen der Idee, wie den Zusammenhang der
Gesamtheit und die Kontinuität der Geschichte.
Die Form gibt nicht den Inhalt selbst, sie deutet ihn nur an. Der Einzelne
muss sie mit Inhalt erfüllen und immer wieder von neuem erfüllen. Er selbst muss
Inhalt schaffen, muss schöpferisch, muss Künstler sein. Die Form erzieht
Menschen, erzieht ein Volk zum Schöpfertum. Und nur ein schöpferisches Volk kann
sinnvoll Formen leben. Ist ein Volk unschöpferisch, dann wird das Formensystem
zum Formalismus. Versteht das Volk nicht mehr, dass die Form nur ein Vorletztes
ist, wird sie ihm selbst zum Inhalt - und es müssen neue Propheten kommen, es zu
erwecken.
Gemeinsame Formen erziehen zur Liebe. Liebe zielt auf den Menschen an sich,
unabhängig von seiner Eigenart und Qualifikation. Die Form ist eine Bindung, die
unabhängig von der Eigenart des Einzelnen ist. Sie schafft Gemeinsames zwischen
den Menschen, zwischen guten und schlechten, armen und reichen, klugen und
dummen. An der Fülle gemeinsamer Formen ist sowohl die Verbundenheit eines
Volkes zu erkennen wie auch das Maß der Liebe, das in ihm ist. Aus der
Gemeinsamkeit der sinnerfüllten Form erklärt sich auch die Eigenart der durch
die Form gebundenen Masse. Dort, wo eine Masse durch keine oder nur durch
unwesentliche Formen verbunden ist, da ist ihr gerade das triviale Geringwertige
gemeinsam. Der Einzelne mag in ihr der Wertvolle, Sittliche sein, doch die Masse
vieler solcher Einzelner ist unsittlich, ist zu Handlungen fähig, deren der
Einzelne nie fähig wäre, weil jeder nur einen Teil der Verantwortung trägt und
den größeren Teil auf alle anderen abwälzt.
Hat jedoch die Masse eine Gemeinsamkeit von Formen, die zum Heiligsten und
Höchsten in Beziehung stehen, wird die Psychologie der Masse gerade umgekehrt
sein. Mag der Einzelne zu Schlechtem fähig sein, die Masse, die Gemeinde ist
heilig, weil die Menschen dadurch, dass ihnen gerade ihr Heiligstes gemeinsam
ist, tiefe Ehrfurcht voreinander haben; sie wälzen auch nicht die Verantwortung
auf den anderen ab, vielmehr wird ihre eigene Verantwortung durch seine
Gegenwart noch erheblich verstärkt. Hierin liegt die Gegensätzlichkeit der
Psychologie der formlosen europäischen Masse und der formgebundenen jüdischen
Masse. Die Liebe schaffende Bedeutung des Gesetzes drückt Leopold Zunz (1843, S.
174f.) besonders schön aus: "So oft dann an unserm äußern Menschen das Symbol
sichtbar wird, regt in dem Innern sich die alte Liebe und zieht in ihre
geweihten Kreise Alle, die in gemeinschaftlicher Überzeugung mit uns sich
erbauet, die mit dem religiösen Brauch uns Tugenden eingepflanzt haben; ja, es
werden Alle uns nahe gerückt, die mit uns dasselbe Weh gefühlt, oder mit denen
wir gleiches Leid tragen, und in ein Meer glühender Liebe versinkt und schmilzt
die kalte Selbstsucht... Dahingegen wirst du, wenn deine Seele an dem religiösen
Gesetze Ergötzen hat, denen zugethan bleiben, welche in demselben Gesetze
dasselbe Heiligthum verehren."
Was für die Form im allgemeinen gilt, gilt natürlich auch für das jüdische
Gesetz im besonderen. Das Gesetz, das - wie bereits gezeigt wurde - Handeln, und
nicht Glauben verlangt, ist für die Gesamtheit geschaffen, nicht für den
Einzelnen, für das Volk, nicht für eine Schicht. Vor ihm sind alle gleich; es
besagt einen inhaltlichen, nicht einen formalen Demokratismus. Das Judentum
verneint prinzipiell eine nur für eine gesellschaftliche Schicht mögliche oder
bestimmte Kultur; das Gesetz ist stärkster Ausdruck dieses Prinzips. Es soll dem
ganzen Volke die Wege zum Ziel bahnen. Deshalb hat sich ihm auch der zu
unterwerfen, der die Stützen des Gesetzes gar nicht nötig hätte, weil er den Weg
zum Ziel alleine finden könnte. Gerade die Führer der Nation haben diesen
Grundsatz mit ihrem Blute besiegelt, als sie zur Zeit der Hadrianischen
Verfolgungen dem Volk erlaubten, bei Todesgefahr das Gesetz zu verletzen (es sei
denn, es ging um Mord, Unzucht oder Götzendienst), und selbst aber, die sie
gewiss am wenigsten des Gesetzes bedurften, von dieser Erlaubnis Gebrauch zu
machen verschmähten.
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