Von Gott und den Menschen:
Auschwitz und das kabbalistische
Konzept des Zimzum
David Gall
Im Zusammenhang
mit der am Anfang der Torah (im
ersten Buch Mose) geschilderten
Schöpfungsgeschichte (Genesis),
stellten sich die Weisen in Israel
schon vor Jahrtausenden die Frage,
wie (oder besser wo) denn eine Welt
existieren kann, wenn Gottes Wesen
unendlich und allumfassend ist. Wie
sollte es etwas geben können, das
nicht Gott ist, wenn Gott überall
und in allem ist?
Nach Ansicht des mittelalterlichen
Kabbalisten Jizhak Luria (15.Jh) war
eine Selbstbeschränkung der
Unendlichkeit Gottes notwendig, um
Raum für die Schöpfung zu schaffen.
Er nannte diesen Vorgang “Zimzum”,
hebr. Kontraktion. Gershom Sholem
übersetzt mit Zurückziehen oder
Rückzug.
Sholem,
Die jüdische Mystik, S.
286ff: "Luria meint, um die
Möglichkeit der Welt zu
gewährleisten, musste Gott in seinem
Wesen einen Bezirk freigeben, aus
dem er sich zurückzog, eine Art
mystischen Urraum, in den er in der
Schöpfung und Offenbarung
hinaustreten konnte. Der erste aller
Akte des unendlichen Wesens, des En
Sof, war also… nicht ein Schritt
nach außen, sondern ein Schritt nach
innen, ein Wandern in sich selbst
hinein"… En Sof steigt also "in sein
Selbst hinab, konzentriert sein
Selbst in sein Selbst und hat dies
seit dem Beginn der Schöpfung immer
wieder getan. …
Der erste aller Akte ist also kein
Akt der Offenbarung, sondern ein Akt
der Verhüllung und Einschränkung.
Erst im zweiten Akt tritt nun Gott
mit einem Strahl seiner Wesenheit
aus sich heraus und beginnt seine
Offenbarung oder seine Entfaltung
als Schöpfergott in jenem Urraum,
den er in sich selbst geschaffen…
... Der Weltprozeß ist nun
zweigleisig geworden. Jede Stufe des
Schöpfungsprozesses enthält in sich
eine Spannung zwischen dem in Gott
selbst zurückflutenden Licht und dem
aus ihm hervorbrechenden. Und ohne
diese beständige Spannung, diesen
immer wiederholten Ruck, mit dem
Gott sein Wesen anhält, würde kein
Ding der Welt bestehen"...
Man könnte sagen,
die Göttlichkeit zog sich zusammen
um einen Freiraum zu schaffen, in
dem sich der "Adam Kadmon",
der "Vormensch" oder "Prototyp des
Adam", ausbreiten konnte. Dieser
Adam Kadmon wird durch die
Eigenschaften Gottes, die in der
Sprache der Kabalah als Sfiroth
bezeichnet werden, bestimmt.
Vielleicht hat
ja der eine oder andere schon von
den im Lebensbaum angeordneten
Sfiroth gehört. Eine Abb. findet
sich
hier...
Aus der Aussage im 1.Kap. des
1.Buches Moses (Übersetzung nach
Buber): "Gott sprach: Machen wir den
Menschen in unserem Bild nach
unserem Gleichnis!… Gott schuf
den Menschen in seinem Bilde,
männlich, weiblich schuf er sie"…,
schließen viele Kabbalisten, dass
der Adam Kadmon in der Schöpfung
selbst Gott, sozusagen Schöpfergott,
ist.
Die göttliche Kraft bricht in Form
von Licht aus dem Adam Kadmon heraus
und wird in der Welt eminent. Dieses
Licht Gottes ist aber so stark, dass
die Welt es nicht halten kann. Die
aus den ersten Strahlen entstandenen
Gefäße oder auch Schalen (hebr.
Klipoth), zerbrechen unter dem
Aufprall des Lichts des Adam Kadmon.
Dieses kosmische Zerbrechen der
Gefäße (Schwirath haKilim)
schleudert Bruchstücke und Funken
des ersten Lichts, die wir nun
sammeln und wieder zusammenbringen
sollen.
Das
verborgene Licht, haOr haganus als
mp3 oder
ogg: leAhuwah
Oseri, beTodah rabah,
laHachlamah mehirah umemuschekheth
uschlemah...
Viele dieser
Bruchstücke konnten bereits geborgen
werden. Viele Splitter des
"verborgenen Lichts" (Or ganus)
fehlen aber noch zur Ganzheit (ganz
= hebr. schalem, ein Wort, aus
dessen Wurzel Sch-L-M sich übrigens
auch das Wort für Frieden, SchaLoM,
ableitet. Sie finden sich
inzwischen, wie könnte es anders
sein, dort, wo es am Schmutzigsten
ist, im Elend und in der
Verzweiflung. Um sie zu bergen muss
der Mensch hinabsteigen. Zu den
Verworfenen - oder auch in sein
Inneres, ins Unbewusste, in die
Grenz- und Zwischenräume.
Die Aufgabe des Menschen beschreibt
das Judentum als "Tikun Olam",
d.h. hebr. Reparatur der Welt.
Hierbei ist der Mensch Gottes
Partner, vielleicht auch "Erfüller".
Diese Aufgabe kann er nicht in
Unterordnung erfüllen, er muss sich
vielmehr aufrichten und erheben. Er
muss sich um Integration seiner
eigenen Vielfalt, auch der
Dunkelheit, mühen, wie auch um die
Integration und Zusammenführung der
gesamten Menschheit. Er soll keinem
geringeren nachstreben als dem
Höchsten, Gott selbst. Ein Buch in
dem Erich Fromm den Kern des
Judentums beschreibt, heißt
dementsprechend "Ihr
werdet sein wie Gott".
In "Ich
und Du" schreibt Martin Buber:
"Daß du Gott brauchst, mehr als
alles, weißt du allzeit in deinem
Herzen; aber nicht auch, dass Gott
dich braucht… Wie gäbe es den
Menschen, wenn Gott ihn nicht
brauchte, und wie gäbe es dich? Du
brauchst Gott, um zu sein, und Gott
braucht dich - zu eben dem, was der
Sinn deines Lebens ist"…
Interessant ist noch die Vermutung,
dieses kosmische Unglück sei durch
ein Übermaß an Strenge und
Gerechtigkeit (Sfirath Gwurah)
entstanden. Der Ausgleich kann
deshalb nur durch eine Betonung von
Liebe und Zuwendung (Sfirath Chesed)
erfolgen. Zahlreiche der von Buber
im deutschen Sprachraum bekannt
gemachten "Geschichten
der Chassidim" schildern die
praktische Seite dieses Konzepts.
Buber wird übrigens oft als einer
der Stichwortgeber im Gestaltdenken
vorgestellt. Moderne Kabbalisten,
wie Aschlag und Laitman, betonen die
Notwendigkeit der Wandlung vom
Egoismus zum Altruismus.
Ausgehend von der kosmischen
Katastrophe am Beginn der Schöpfung,
sehen viele die Geschichte unserer
Welt als eine Folge des Scheiterns.
Auch Buber schreibt in seinem Buch "Der
Glaube der Propheten", Gott
versuche es immer wieder, den
Menschen zu rufen und zur
Partnerschaft zu bewegen. Leider
fällt der Mensch immer wieder
zurück, wenn er den Ruf überhaupt
vernimmt, und versagt sich und Gott
die Erfüllung oder auch Erlösung
(Galluth) oder einfach die
Göttlichkeit dieser Welt.
Ein ganz wesentlicher Punkt dafür
ist wohl die menschliche
Furcht vor der Freiheit. Erich
Fromm hat unter diesem Titel ein
ganzes Buch geschrieben, doch schon
die Pesach-Hagadah, die Geschichte
vom Auszug aus Ägypten, spricht
davon. Der Mensch tendiert zur
Unterwerfung, sei es unter mächtige
und etablierte Menschen, sei es
unter
Götzen. Als Sklave ist er nicht
verantwortlich für seine Taten und
seine Unterlassungen. Nur der freie
Mensch kann zur Rechenschaft gezogen
werden und ist gezwungen sich jeden
Tag von neuem für ein Wachsen oder
für Stagnation zu entscheiden.
Interpretationen, wonach Gottes
Erfüllung von Entscheidung des
Menschen abhängt oder beeinflusst
wird, haben zwangsläufig etwas
Blasphemisches. Ist Gott davon
abhängig, ob der Mensch seinen Ruf
vernimmt und seinen Auftrag annimmt?
Kann Gott ohne die
partnerschaftliche - freiwillige -
Mitarbeit des Menschen seine
Schöpfung nicht vollenden?
Die Geschichte des letzten
Jahrhunderts deutet, meiner Meinung
nach, zwangsläufig in diese
Richtung. Wie sonst ist ein Glauben
an Gott, nach Auschwitz, noch zu
rechtfertigen? Doch wenn ich nicht
mehr frage, "wo war Gott in
Auschwitz", muss ich doch fragen,
"wo war der Mensch".
Wenn Gott den Menschen als seinen
Partner braucht, dann konnte
Gott nicht eingreifen. Die Erfüllung
der Schöpfung in Partnerschaft mit
der Menschheit, mit Menschen, die
sich mit freiem Willen zu dieser
Partnerschaft entschieden haben,
wäre unmöglich geworden. Die Würde
der Menschheit und des Menschen -
immerhin im "Gleichnis Gottes"
erschaffen, wäre - auch als Konzept,
vernichtet.
Hätte Gott Auschwitz gehoben und
getragen und die Gefangenen am
Strand von Tel Aviv befreit, hätte
die ganze Welt von diesem Eingreifen
erfahren. Zwangsläufig hätten alle
von Gott gewusst, von Gottes Stärke
und Gerechtigkeit (Sfirath
haGwurah). Eine freiwillige
Hinwendung im vertrauenden Glauben,
aus Liebe, wäre danach nicht mehr
möglich gewesen. An Stelle des
dialogischen Prinzips im "Ich und
Du", träte die "Unterhaltung" des
Puppenspielers mit der von ihm
geführten Marionette.
Diese Überlegungen sind zwar simpel,
zwangsläufig ist ihre vermeintliche
Logik aber grausig. Sie wird den
Ermordeten nicht gerecht. Sie
rechtfertigt den Allmächtigen und
liefert die Machtlosen abstrakten
Gedanken aus. Ihr Leiden war aber
nicht abstrakt, sondern blutig. So
bleiben wir Zerrissene in einer
schwer erträglichen Paradoxie.
Gefangen in der Hoffnung, dass die
Würde der Menschheit noch zu retten
wäre, während wir wissen, dass
millionenfach Menschen getreten und
entwürdigt wurden, und sie keine
Rettung vor der Vernichtung bewahrt
hat.
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