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Koscher leben...
 
 

Josef Kastein

"Eine Geschichte der Juden"



 

Löwit 1938, Wien und Jerusalem

Albert Einstein
verehrungsvoll zugeeignet

11. bis 13. TAUSEND
NEUE ERWEITERTE AUSGABE

COPYRIGHT 1938 BY LÖWIT, WIEN UND JERUSALEM
DRUCK: JULIUS KITTLS NACHFOLGER, MÄHRISCH-OSTRAU

 

VORWORT ZUR II. AUFLAGE

In langsamer, aber stetiger Aufnahme hat dieses Buch seinen Weg zu den jüdischen Menschen hin gemacht, so dass jetzt eine neue Auflage erforderlich wird. In dieser Auflage sind gegenüber den früheren verschiedene Änderungen vorgenommen worden. Sie bedeuten keine Änderung der Grundeinstellung, sondern nur hier und da eine Ausweitung, so weit ich glaube, zu neuen Erkenntnissen gelangt zu sein, und hier und da eine Einschränkung, so weit ich glaubte, eine jüdische Geschichte nicht über Gebühr mit einem Material belasten zu sollen, das zwar alles Interesse verdient, aber doch weniger jüdische Geschichte und Problematik darstellt, als ich zunächst annahm.
Das gilt insbesondere für die Gestalten des Jeschu von Nazareth und des Saul von Tarsus. Es ist gerade darüber von christlicher Seite manche ernsthafte Äußerung an mich herangetragen worden.
Dass ich dennoch viele das Christentum betreffenden Stellen ausgemerzt habe, hat seinen Grund darin, dass die Durcharbeitung dieses Buches nicht mehr irgendwo in der Welt erfolgte, sondern in Palästina. Und hier, unter eigenen Bedingungen der Gemeinschaft, bekommt die Aggressivität der Welt einen immer belangloser werdenden Charakter.

Wir stehen vor eigenen und großen Aufgaben und werden immer freier, Feindschaften, welche Maske immer sie tragen mögen, zu ignorieren. Ein Volk im Aufbau kann mit dem Hass bauen, wie es Deutschland tut, oder mit der gelassenen Sicherheit des Glaubens, wie es der Jude tut. Es gibt eine Gerechtigkeit, die Saat und Ernte eines Tages in die richtige Relation bringen wird.

Die in der Nachbemerkung zur zweiten Auflage vorgesehenen Erweiterungen sind zum größten Teil nicht durchgeführt worden, weil ich in meiner sonstigen Produktion eine Reihe von Dingen glaube beantwortet zu haben, die noch zur Beantwortung standen. Ich hätte an einer formelhaften Wiederholung des schon einmal ausführlich Gesagten keine Freude gehabt, und wohl auch der Leser nicht. Was endlich die kurze Skizzierung der Vorgänge in Palästina anlangt, sei für weitere Beschäftigung mit dem Material und seiner Problematik auf das Buch »Jerusalem oder die Geschichte eines Landes« verwiesen, ebenfalls im R. Löwit Verlag erschienen.

Im Ablauf der jüdischen Ereignisse der letzten zehn Jahre habe ich immer nur eine Bestätigung der von mir vertretenen Thesen erblicken können. Es ist mir eine tiefe Genugtuung, dass — insbesondere durch die mehrfachen Übersetzungen in andere Sprachen — eine immer breiter werdende Schicht der jüdischen Jugend sich aus diesen Thesen ihre Begriffe vom Judentum aufbaut.

Haifa, Har haKarmel, August 1937.

Josef Kastein.

Aus dem III. Teil "DAS BEWEGLICHE ZENTRUM", von

Rom und Jerusalem:
Macht gegen Gerechtigkeit

Neben aller mystischen Ausweitung der messianischen Idee geht es es im politischen Kern darum, in der kommenden Zeit die Herrschaft Roms durch die Herrschaft Judäas abzulösen. Das Regime der Gewalt soll der Herrschaft der Gerechtigkeit weichen.

Rabbi Akiba und Bar Kochba

Es geht weiter - im Galil

Judentum, Heidentum und Christentum

In dbegünstigte: den religiösen Synkretismus. Einstweilen befeindeten sie sich noch, ms war schon deswegen natürlich, weil nicht nur die starke Anziehungskraft des Judentums für den unverbildeten, gefühlsmäßig-religiös eingestlichen Laien ihre immer gefährdete Position zu verteidigen. Denn die Diskussion nderte hinaus zu vernichten.

DAS MOTIV

Von allen Kulturvölkern, die auf der Erde leben, ist das jüdische Volk zugleich das bekannteste und das unbekannteste. Es gehört zu den tragischen Sonderheiten seines Geschickes, dass es niemals ignoriert werden konnte und dass es folglich immer im Urteil der Anderen, der nichtjüdischen Umgebung, bestehen oder versagen musste.

Es ist oft versucht worden, in diesem und jenem Punkte die Verfälschung auszugleichen, die so am Bild des Juden vorgenommen wurde, vorgenommen werden musste, weil solche Urteile aus Zwecken, Leidenschaften, Feindseligkeiten und Gegensätzen kommen. Das führt zu nichts.

Ein Volk von der Lebensintensität des jüdischen darf nicht auf die Apologie angewiesen sein. Es braucht vielmehr die ewige Selbstbesinnung, damit es nicht vergisst, mit welch ungeheurer Verantwortung es in die Welt gestellt worden ist.

Dieses Buch will zeigen, wo die Verantwortung und also der Sinn in der Existenz des jüdischen Volkes liegt. Es will zugleich einer aktuellen historischen Situation des Judentums gerecht werden, die es nötig macht, dass noch einmal in einem großen und gedrängten Zuge das Lebens- und Schicksalsbild des jüdischen Volkes entstehe. Denn dieses Volk steht am Beginn eines neuen Geschichtsabschnittes, vor einem neuen Anfang. Um das deutlich zu machen, müssen wir zwei frühere Zäsuren von eindringlicher Bedeutung in den Vordergrund rücken.

Die eine wurde erreicht, als Rom den Jüdischen Staat zertrümmerte und das Volk endgültig in die Zerstreuung ging. Von der Zeit an musste es nicht nur seine eigene Geschichte leben, sondern auch die seiner Umgebung. Es schuf sich seine inneren Begebenheiten und erduldete die äußeren Begebenheiten. Gewalten, die nicht in ihm begründet lagen, insbesondere das Christentum, machten es immer wieder zum Objekt der Geschichte.

Dagegen stellte das jüdische Volk sein Bemühen, wieder selbst schöpferisch zu werden, sich als Nation in allen seinen Äußerungen fortzusetzen, wieder die subjektive Geschichtsgewalt zu erlangen. Es entledigt sich dieser Aufgabe in ganz anderer Weise, als es sonst Völker zu tun pflegen. Fast alle sichtbaren Vorgänge, die in die Geschichte anderer Völker die Zäsuren bringen, fehlen hier. Es fehlen Kriege, Eroberungen, Kolonisationen, Herrscher, Revolutionen. Krieg ist hier bei den Juden Abwehr gegen Mord und Totschlag; Eroberungen bedeuten Erringung von Lebensmöglichkeit; Kolonisation ist Aufrichtung einer Gemeinschaft in einem neuen Lande; Herrscher sind Gelehrte, Künstler, Rabbiner; Revolutionen brechen im Bezirk des Geistigen aus. Es ist alles vorhanden, aber alles verhängnisvoll um eine Ebene verlagert.

Diese Situation wurde gebrochen, als die europäischen Staaten die Juden mit der bürgerlichen Gleichberechtigung beschenkten. Damit verlor für ein kurzes Jahrhundert das Erringen der subjektiven Geschichtsgewalt seine Bedeutung. Es trat zurück gegenüber der Tendenz der Angleichung an die Umgebung. Das war nicht nur als Reaktion auf die barbarische Unterdrückung von Jahrhunderten verständlich, sondern entsprach auch einem Gesetz, dem die Geschichte der Juden in der Zerstreuung zuneigt. Die geistigen Leistungen des Judentums begeben sich in Abhängigkeit zum Problem der nackten Existenz. Das heißt: je bedrängter die Existenz wird, desto enger und restriktiver zieht sich die geistige Betätigung auf den Innenraum, insbesondere auf die religiöse Grundlage des Volkstums zurück. Dehnt sich der Existenzraum aus, so weitet sich auch automatisch der geistige Raum. Hört das Existenzproblem wirklich oder scheinbar auf, ein spezielles jüdisches Problem zu sein, so tritt die weltliche, an keinen Glauben und an keine Religion gebundene Kulturleistung in den Vordergrund.

So war es auch nach der Emanzipation, als man das Existenzproblem nicht mehr sehen wollte, und als man andererseits die Bereitschaft der Umgebung, aus dem Gedanken der Emanzipation auch geistig die Konsequenz zu ziehen, überschätzte. Es ist nämlich zu einem freien, gleichberechtigten Austausch zwischen den emanzipierenden Staaten und den emanzipierten Juden in Wirklichkeit nie gekommen.

Soweit die Gleichberechtigung nicht einfach Theorie blieb, wurde sie nur der Ausgangspunkt für neue Spannungen. In diesen Spannungen begann eine Verfälschung des Sinnes der jüdischen Geschichte, und zwar nicht nur durch den Verzicht auf die subjektive Geschichtsgewalt, sondern auch durch das Bemühen, diese Spannungen durch zahllose Konzessionen an die Umgebung zu mildern; sich die bürgerliche, geistige, soziale, künstlerische und sogar die menschliche Gleichberechtigung zu erwerben und zu verdienen; sich in den Motiven und Handlungen in Abhängigkeit vom Urteil und von der Auffassung der Anderen zu begeben; ein unauffälliges Judentum zu erzeugen, das heißt: das Judentum als unschädlichen Begriff existieren zu lassen und es als Energie mit völlig eigener und unvergleichbarer Gesetzmäßigkeit abzutöten.

Es ist das Verdienst der zionistischen Ideologie, diese rückläufige Bewegung unterbrochen und eine geistige Verfassung vorbereitet zu haben, welche die eigene Leistung und die eigene Bestimmung des Juden in der Welt vom Urteil wie vom Angriff der nichtjüdischen Welt unabhängig macht. Damit erst ist die Grundlage erneuter Produktivität des Judentums als Träger einer Weltidee wieder hergestellt. Die Geschichte der Juden kann wieder weitergehen. Das ist der Punkt, an dem das Judentum jetzt hält.

Wo diese Produktivität liegt, soll in diesem Buche am Ablauf der jüdischen Geschichte gezeigt werden. Wenn Völker nicht isoliert, sondern wirklich miteinander leben, dann kann schon das Anderssein, die bloße Andersartigkeit Produktivität bedeuten. Darum wird in diesem Buche Wert darauf gelegt, die Eigenart und damit die Andersartigkeit des Judentums zu betonen. Wir meinen dabei, dass nicht die klare Scheidung sondern nur die wertbetonte Trennung verderblich sei. Die klare Scheidung muss — Hoffnung aller wahrhaft gläubigen Menschen — eines Tages versagen und entbehrlich werden vor einem sittlichen Niveau der Menschheit, das Unterscheidungen nicht mehr erlaubt. Die Trennung hingegen verewigt das Element der Feindschaft und gibt selbst dem sublimsten Glauben den Charakter einer Kampfmeinung.

Über soldie Einstellung hinaus muß zu allem Anfang bekannt werden, dass dieses Buch kein neutrales Buch ist. Keiner, der sich aus tiefverwurzelter Leidenschaft gedrängt fühlt, Geschichte zu schreiben, zumal die Geschichte seines eigenen Volkes, kann neutral sein, weil er sie sonst nicht erleben könnte. Und wer Geschichte nicht als Schicksal erlebt, das bis zu ihm dringt und wirkt, bleibt Materialsammler. Soweit aber hinter jedem Erleben die innere Aufmerksamkeit und Ehrlichkeit stehen, erwächst daraus so viel Verantwortungsgefühl vor sich selbst, vor seinem Volk und vor der Umwelt, dass man dem Ergebnis zutrauen darf, es sei im Rahmen des subjektiven Erlebens doch das objektiv Wahre, das zutiefst Richtige aus dem Sinn der Vorgänge erspürt worden.

KRISTALLISATION

Volkswerdung ist immer ein geheimnisvoller Prozess. Aus Gruppen, Horden und Sippen, aus Einzelheiten, die nur an sich selber denken, erwachsen eines Tages Verbundenheiten, Gemeinsamkeiten der Art und des Schicksals, bekommen Geburt und Tod, Glückseligkeit und Verhängnis einen veränderten Sinn, entstehen neue Gefühle und neue Denkarten, die der Erde ein neues Angesicht aufdrücken.

Nichts ist damit gedient, wenn man uns lehrt, dafür gebe es nachweisbare Ursachen: Klima, Ernährung, wirtschaftliche Notwendigkeiten. Das ist richtig, aber unzulänglich.
Menschliche Gemeinschaften wachsen so organisch, wie der Mensch als Stück Natur selber wächst. Das Entscheidende daran ist der Gehalt an Seele, Geist, Idee. Das ist das Unbeweisbare und Geheimnisvolle in jeder historischen Entwicklung. Ideen sind nicht zu beweisen. Sie manifestieren sich nur. Ob einer sie annehmen kann oder nicht, ist Sache des Glaubens.

Solche Manifestationen treten schon in der frühesten, noch eben erkennbaren Zeit der jüdischen Geschiechte in einem prägnanten Kristallisationsprozess zutage.

Etwa zu Beginn des Dritten Jahrtausends vor der heutigen Zeitrechnung dehnen sich über Vorderasien Teile jener Volksgruppe aus, die man Semiten nennt und deren Urheimat vielleicht die arabische Halbinsel gewesen ist. Sie dringen von dort nach Norden, in das Gebiet des Euphrat und Tigris, Mesopotamien genannt, breiten sich im südlichen Babylonien als Akkader aus, sitzen im Westen, an der Grenze Kanaans, als Amurru oder Amoriter, entlassen Abzweigungen nach Palästina hinein und fluktuieren an dessen Südrand bis an Ägypten heran in zahlreichen nomadischen Stämmen. Sie sind ein Gemisch von Nomaden und Bauern. Es sitzt ihnen allen die Unruhe im Blut und doch zugleich das Verlangen, irgendwo sesshaft zu werden. Darum wandern sie viel weiter, als es sonst Nomaden auf ihrer Suche nach neuen Weideplätzen zu tun pflegen.

Sie bewegen sich in einem großen, unruhigen, immer drängenden Zuge zwischen den beiden Zentren der damaligen Zivilisation, zwischen Ägypten und Babylonien.
Sie durchstreiften immer wieder das Land zwischen zwei Polen: Kanaan, Erez Israel oder auch Palästina genannt, diese natürliche Brücke zwischen Asien und Afrika. Gruppe auf Gruppe bleibt hängen und siedelt sich an. Eine Unzahl kleiner Herrschaftsgebiete entsteht und engt den freien Raum des Landes ein. Zugleich strecken die beiden Großmächte aus Norden und Süden die Hand nach diesem Durchgangsland aus. Sie brauchen es als Handelsweg. Schon um das Jahr 2500 hält Babylonien das Land besetzt. Das hat zur Folge, dass die Wanderströme an den Grenzen wie an Deichen künstlich gestaut werden und endlich mit Gewalt in das umwehrte Land einbrechen müssen. Dann dringt Ägypten vor und bemächtigt sich des Landes. Damit schafft es die gleichen Bedingungen, wie die Babylonier sie geschaffen hatten: es staut die Völkerwanderung. Folgerichtig brechen, etwa um 1400, wieder semitische Stämme in Palästina ein. Aber diesmal handelt es sich innerhalb der semitischen Völkerschaften um eine besondere Gruppe: die Hebräer.

Wie und wann sie sich aus der größeren Gemeinschaft abgesondert haben, steht nicht fest. Sie neigten alle zur Absonderung im engeren Rahmen ihrer Familienverbände. Nur aus ihren Namen und dem historischen Kern der Erzväterlegenden lässt sich folgendes sagen: sie werden zuerst am unteren Lauf des Euphrat sichtbar, ziehen dann hinauf nach Mesopotamien und verfolgen den Weg, den alle Gruppen dort und in jener Zeit gingen: nach Syrien, weiter nach Kanaan, in die Randsteppen und — wenn die Hungersnot sie trieb — sogar bis nach Ägypten. Für die, in deren Sichtweite sie traten, kamen sie »von der andern Seite« des Stromes. »Die andere Seite« heißt im Hebräischen 'ewer. Die von der andern Seite Kommenden sind die 'Iwrim, oder, in der deutschen Transkription: Ebräer, Hebräer. Das ist etwa zu Beginn des 20. Jahrhunderts v.d.allg.Z.

Diese hebräische Gruppe der Semiten wird zu einem Teil in den Grenzgebieten Kanaans sesshaft. Aber da Sesshaftigkeit und schweifendes Dasein nicht nur begriffliche Gegensätze sind, sondern auch widersprechende Inhalte an Gedanken und Lebensformen haben, muss die hebräische Gruppe sich so notwendig spalten, wie es die größere semitische getan hat. Als ein Teil dieses Spaltungsvorganges steht eines Tages vor uns der Stamm der Bnej Jisrael, der Söhne Israels, mithin das Ergebnis einer doppelten Auslese sowohl aus den Semiten wie aus den Hebräern.


Die Welt Abrahams (20.-16.Jh. v.d.allg.Z.), zur Vergrößerung klicken

Aber der Differenzierungsprozess geht weiter. Noch im Gebiete und in Reichweite des Landes Kanaan löst sich der Stamm der Bne Jisrael in eine Anzahl von Geschlechtergruppen auf, die von der späteren Tradition auf zwölf festgelegt wurde. Nach Ursprung, Sprache und Sitte auf das engste verwandt, sondern sie sich doch zunächst in Wegen und Schicksalen völlig voneinander. Ein Teil bleibt in den Grenzgebieten Kanaans, ein Teil bleibt auf der großen Heerstraße der orientalischen Völker und in den angrenzenden Steppen und Wüsten als Nomaden, ein geringer Teil endlich gelangt, von Hungersnot getrieben, nach Ägypten und wird dort von den Pharaonen unter ihren Schutz genommen.

Für diese Auswanderer nach Ägypten waren alle Voraussetzungen gegeben, sich dort aufzulösen oder sich in anderen semitischen Stämmen zu verlieren. Denn sie siedelten dort nicht allein. Die Landschaft Gosen, in die sie eindrangen, das Deltagebiet zwischen dem östlichen Nilarm und der Wüste, war ein begehrtes und ersehntes Einfallgebiet aller benachbarten semitischen Nomaden und war mit seinen großen Weidestrecken vielfach das Ziel langsamer Infiltration oder stürmischer Einbrüche. Aber es kam weder zu einer Vermischung noch zu einer Auflösung, sondern im Gegenteil zu der ersten prägnanten Herausbildung ihrer Eigenart.

Die Landschaft Gosen war für Ägypten die wohl bewachte Grenzwehr, an der die Kontrolle aller Einwandernden stattfand und die zugleich, wenn Ägypten zu Expansionen schritt, durch den Bau von Befestigungen und Speicherhäusern zu sichern war. Die Orte Pitom und Ramses, die von der jüdischen Tradition bewahrt worden sind, wurden zu diesem Zwecke errichtet. Es ist verständlich, dass zu solchen Arbeiten — wie auch zur Befriedigung der jeweiligen Baulust der Pharaonen — die Bevölkerung im allgemeinen herangezogen wurde. Auch wenn sie Fremde waren, die hier Unterschlupf gefunden hatten, wurden sie durch den Arbeitszwang zu Untertanen gemacht. Ägyptische Untertanen waren aber nach der sozialen Verfassung dieses Landes Unfreie, Sklaven. Den Bne Jisrael geschah also nichts anderes als den übrigen Ägyptern. Aber sie reagierten anders darauf.
Sie waren als ein freier Stammesteil nach Gosen gekommen. Ihr Anspruch auf Freiheit und Freizügigkeit war nicht verjährt. Eine Situation, die der ägyptischen Bevölkerung erträglich schien, war für sie, die sich schon durch den fortgesetzten Prozess der Absonderungen als Individualisten auswiesen, schlechthin unerträglich. Es kam zu einem Aufstand und zu der Erhebung des Anspruches, aus der Untertänigkeit in die Freiheit und in ein anderes Land entlassen zu werden.

Schon in dieser Situation der jüdischen Geschichte sind deutlich drei Elemente sichtbar, die von dauernder und entscheidender Wirkung sind und die schon hier, unter Vorwegnahme späteren Geschehens, geklärt werden sollen. Das jüdische Volk entsteht erst aus einem Jahrhunderte währenden, immer fortschreitenden Isolierungsprozess. Dieses Isolierungsbestreben geht durch die Jahrtausende bis in die Gegenwart. Es ist ein inneres Merkmal, ein metaphysisches Element. Das Schicksal hat über die jüdische Geschichte ferner das Prinzip der Auslese gestellt. An jedem großen Wendepunkt der Geschichte steht eine Verminderung des Bestandes, ein Herausschälen des Kernes. Wenn diese zwangsweise Auslese zugleich bedeutet, dass sie die widerstandsfähigen Bestandteile am Leben erhält, dann wird begreiflich, dass diesem Volke eine Art vitaler Überlegenheit über jede Umgebung eigen wird. Und endlich: sobald in der Umgebung des jüdischen Volkes Feindseligkeiten auftreten, wird dadurch ein Widerstand ausgelöst, je nach Zeit und Ort ein aktiver oder ein passiver, immer aber ein solcher, der fruchtbar ist, indem er stets erneut Selbstbesinnung und Selbstbeschränkung zur Folge hat und dem Willen zum Dasein unaufhörlich Nahrung gibt. Isolierung, Auslese und Konzentration sind aber für sich allein betrachtet nichts als Worte für Vorgänge.

Die Frage, warum das so sei, ist damit noch nicht geklärt, und doch stellt sie sich schon jetzt, am Ende der ägyptischen Periode, notwendig zur Beantwortung: diese Menschen vegetierten in der Reichweite einer religiösen Idee. Keine historische Entwicklung ist in ihrem Anfang ohne das überwiegende Mitwirken religiöser Kräfte zu begreifen. Jeder historische Ablauf wird genau um so viel für das wahrhaft menschliche Geschehen unwesentlicher, als in ihm das religiöse Moment an Kraft verliert.

Das jüdische Altertum lebte viel tiefer und sichtbarer aus religiösem Fundus als spätere Zeiten. Es kannte das, was die Gegenwart nicht mehr kennt und nicht mehr versteht: den Begriff des religiösen Schicksals. Wer das vergisst, wird die Triebkräfte immer falsch einschätzen. Wer in den Begriffen Gott, Glaube, Religion keine Wirklichkeit erkennt, sieht an der entscheidenden Gestaltung dieses Volkskörpers hoffnungslos vorbei.

MOSCHE

Die Befreiung aus der ägyptischen Knechtschaft ist für das geschichtliche Bewusstsein des Juden allezeit das zentrale Geschehen gewesen, mit dem ihre sichtbare Volksgeschichte begonnen hat. Eine Summe von Berichten verschiedener Fassung und Färbung hat sich um dieses Geschehen gelagert, seine fundamentale Wichtigkeit immer wieder zu Recht betonend. Aber dieses Geschehen hätte niemals einen so unverlierbaren Erinnerungswert bekommen können, wenn es nichts als einen politischen Akt der Befreiung dargestellt hätte.

Spätere Generationen haben weit heroischer um ihre Freiheit gekämpft, und in dem Auszug aus Ägypten ist durchaus nichts Heroisches enthalten. Nicht einmal die Sage erfindet solche Züge. Die beschämende Tatsache der Knechtschaft wird nicht nur zugegeben, sondern noch durch Einzelzüge betont, als solle bewusst der Abstand vergrößert werden zu jenem Geschehen, das als das eigentlich heroische empfunden wurde und das mindestens voll dramatischer Spannung ist: der Kampf zwischen dem Pharao von Ägypten und dem Sprecher der Juden, dem Manne mit dem ägyptischen Namen Mosche, um die Entlassung des Volkes. Und dieser Kampf, bei dem das Volk untätig und zweifelnd im Hintergrund bleibt, ist nur die Schauseite dessen, was sich auf einer höheren Ebene abspielt: der Kampf eines neuen Gottes gegen alte Götter.

Dieser neue Gott, über dessen Wesen und Auffassung noch zu sprechen sein wird, tritt zu dem Volke in Beziehung durch eine Mittelsperson, eben jenen Mosche, einen Angehörigen des Stammes Levi, dessen frühe Beziehungen zum Hofe von Memphis man wohl unterstellen muss. Dieser Mosche lebt das Schicksal seiner Brüder äußerlich nicht mit; denn er ist ein Freier, während sie Sklaven sind. Aber sein innerliches Miterleben ist umso stärker. Es geht so weit, dass er aus Mitleid mit seinen Brüdern zum Mörder an einem ägyptischen Fronvogt wird. Die Furcht, dass Männer seines eigenen Volkes ihn verraten könnten, treibt ihn aus dem Lande. Er geht dorthin, wohin wir in der Folgezeit fast alle Menschen von großem religiösen Format werden gehen sehen: von Mosche bis Elijahu und Jochanan dem Täufer und Jeschu von Nazareth: in die Wüste. Die Wüste ist der originäre und nie vergessene Erlebnisraum der jüdischen Religion. Dort verbringt auch Mosche seine ganze Reifezeit bis an die Schwelle des Alters. Er heiratet in die Familie des midjanitischen Priesters Jitro ein und scheint sein Leben so beschließen zu wollen, wie es sich nun einmal gefügt hat.

Ein solcher geruhsamer Abschluss ist jedem erlaubt, der es vermag, einen Eindruck und eine Begegnung zum Schweigen zu bringen. Er ist hingegen jedem verwehrt, der gezwungen ist, einem Erlebnis die Treue zu bewahren; das heißt: der alles zuende führen muss, was ihm einmal begegnet ist. Mosche schürt zu diesen Menschen; und wenn es fast eine Lebensspanne gedauert hat, ehe sein Erlebnis zu einem Abschluss kam, so spricht das für die Echtheit und Ehrlichkeit der Entwicklung. Aber es besagt noch mehr; es zeigt einen typischen Vorgang auf, dem wir später immer wieder bei den großen jüdischen Menschen begegnen werden, die wir Propheten nennen: sie alle gehen den Weg zur Erkenntnis mit der letzten Geradheit und Unbedingtheit, und doch zögern sie die letzte Sekunde hinaus, so lange sie es vermögen. Alle wissen sie, alle ahnen sie, dass man sich einem Gedanken ausliefert, wenn man ihn zu Ende denkt; dass man auf Lebzeiten der Sklave dessen wird, woran man aus der Tiefe und Reinheit der Seele glaubt. Alle wissen sie, dass sie ihre private Freiheit verlieren, wenn sie zu Ende gedacht haben; denn dann bleibt ihnen nichts übrig, als aus dem privaten Rahmen hinauszutreten und das Joch eines Amtes auf sich zu nehmen, eines Amtes, das die Realisationsform ihrer geistigen Schöpfung ist.

Welche Gedanken und welches Amt sich hier für Mosche ergaben, kann aus seinem persönlichen Schicksal und aus den äußeren Bedingungen seines Lebens nur zu einem sehr belanglosen Teil abgeleitet werden. Zweifellos war ein Leben nnier den gesellschaftlichen Bedingungen Ägyptens geeignet, die religiöse und soziale Verfassung zu betrachten und mehr zu tun als das, was alle anderen taten; das heißt: in allem Glanz und aller Pracht die Versklavung von Hunderttausenden festzustellen, in aller Kultur und Kunst vergeblich nach dem Menschen und seiner Menschenwürde zu suchen, und unter allen kultischen Formen einen der Natur und dem Machtgedanken verhafteten Polytheismus zu erkennen. Schon allein das Denken solcher Gedanken wäre revolutionär gewesen, weil es eine Verneinung bestehender und sanktionierter Zustände darstellt. Aber eine Verneinung hat noch niemals einen Schöpfer hervorgebracht. Er entsteht erst durch eine Bejahuiig, durch die originäre Schaffung neuer Gedanken und neuer Lebensformen. Und wie ein solcher Akt aich vollzieht, wie es kommt, dass ein Mensch etwas hervorbringt, wa« an eich auch jeder andere hervorbringen könnte und es doch nicht tut: das ist mit keiner Ratio und keinem Rüstzeug moderner Soziologie zu erklären. Nimmt man die Umwelt des Mosche und seine privaten Erfahrungen darin als die einzige Voraus-setjung, so wäre im günstigsten Falle das Ergebnis zu errechnen, dass Mosche ein Sozialrevolutionär geworden wäre; einer, der in dem gegebenen Bezirk seines Lebens eine andere gesellschaftliche Ordnung im Gegensag zur bisherigen und in ihrer Überwindung herbeiführen will. Und soweit die Religion in-frage kommt, wäre er im günstigsten Falle dahin gelangt, wohin — um 1400 vor der heutigen Zeitrechnung — Amenophis IV. von Ägypten gelangte, der auf Grund abstrakter Spekulationen und aus rein pantheistischen Gedankengängen eine Art Monotheismus herstellte, indem er die ihm überflüssig erscheinenden Götter abschaffte und nur einen, den Sonnengott, als den alles beherrschenden Gott bestehen ließ, wobei er seine Anerkennung zugleich mit Gewalt durchseßte. dass dieser »Monotheismus« zugleich mit dem Tode seines Erzeugers starb, ist selbstverständlich, denn eine Gottheit läßt sich nicht auf dem Wege einer Reform erdenken.

Diese Grenze, sowohl des Sozialen wie des Religiösen, wäre einem Mosche aufgezwungen gewesen, wenn sie nicht eben durch das gesprengt worden wäre, was seine Besonderheit ausmacht: durch seine Fähigkeit, aus originärem Erleben zu absolut originären Erkenntnissen zu kommen. Dieses Erleben ist genau das, was man in der Sprache der Religion die Offenbarung nennt; und mit vollem Recht, denn es ist so ursprünglich und so vollkommen unabhängig von nachweisbaren äußeren Einflüssen, dass es mehr verliehen als gefunden, mehr enthüllt als entdeckt erscheint. Gegenstand solcher »Offenbarung« ist hier eine neue Konzeption von Gott und die gleich-

/eilige Projektion seiner Eigenschaften auf das Leben des Menschen. Das eine ohne das andere hätte Mosche vielleicht zu einem Theologen gemacht, nicht aber zu dem, was er durch diese Gleichzeitigkeit der Konzeptionen wurde: der Erzeuger einer Wcltrcligion und eines Volkes als sein legitimer Träger. Durch beides wurde er zum Schöpfer von Ideen und Lebensformen, deren Aktualität heute 4000 Jahre alt ist und deren zeitlose Gültigkeit schlechthin nicht diskutiert werden kann.

Der Gottesbegriff des Mosche stellt sich schon als ein Novum dar durch die Tatsache, dass er keine Anlehnungen an die Gott-hegriffe der Umwelt enthält. Insbesondere enthält er keinerlei Verwandtschaft mit Ägypten und seiner religiösen Auffassung. Mit einem entlehnten Gott kann man — die Erfahrung hat es gelehrt — wohl zu einer religiösen Auffassung und zu einem religiösen Weltbild kommen, aber nicht zu einer endgültigen Lebensgestaltung. Man kann auch nicht — wie Mosche es konnte — ein Volk damit befreien, dass man ihm abgeleitete Götter zum Symbol seßt; denn nur diejenigen Völker haben die Möglichkeit wirklicher innerer Befreiung in sich, deren Gott in ihrer eigenen Mitte als das Grundmotiv ihres eigenen Daseins entstanden ist.

In seiner Ursprünglichkeit kann der Gottbegriff des Mosche am klarsten durch das verstanden werden, worin er sich — bewußt oder nicht — von den Begriffen aller Welt unterschied. Er ist ein Ein-Gott. Er steht in keinerlei Zusammenhang mit gleichen oder untergeordneten Göttern und Gottwesen. Er ist isoliert und seiner Art nach nicht vergleichbar, sondern einzigartig. Er ist ferner ein im Bilde nicht darstellbarer Gott. Er entzieht sich also der Anschaubarkeit durch plumpe oder künstlerische Gebilde der Alltagsphantasie. Er verlangt damit von vornherein, dass man sich zu ihm gedanklich, vorstellungsmäßig in Beziehung sefce. Er ist kein Naturgott und mit keiner Naturkraft irgendwie identisch. Er ist folglich auch nicht der Ausdruck irgend einer bedrohlichen Naturgewalt, die man durch Opfer aller Grade beschwichtigen und dienstbar machen kann. Er schließt schon mit diesen Eigenschaften den ganzen bis dahin bekannten .Kreis der Polytheismen, der sinnlich betonten Naturreligion und der Bildergötjen grundsätjlich aus. Aber wesentlicher noch als diese in sich schon schöpferische Abgrenzung ist der Umstand, dass dieser Gott zum Träger besonderer Attribute gemacht wird, die nicht — wie sonst in der Umwelt — auf Ansprüchen und Herrsehaftsausübung beruhen, sondern auf etwas grundlegend neuem: auf sittlichen Ideen. Sie sind formelmäßig nicht zu begrenzen, und gerade darin, in dieser vorweggenommenen Dog-menlosigkeit, beruht die unendliche Ausdehnungsmöglichkeit ihrer Gültigkeit. Der Rahmen dieser sittlichen Attribute umfaßt eine dem Lehen zugewandte Gerechtigkeit, ein das Leben tragende und fördernde Anweisung des Verhaltens, einen das Leben und die Würde des Menschen bejahenden Rechtswillen, und endlich die Anerkennung einer sittlichen Ordnung im Leben der Gemeinschaft, deren Ausdrucksform eines Tages die Ethik wird. Einen Gott als sittliches Prinzip und das Leben des Alltags als den Raum der Verwirklichung dieser Prinzipien begriffen zu haben, ist das ausschließliche Werk Mosches und der Anfang seiner großen Gestaltung.

Es ist deswegen nur ein Anfang, weil solcher Gottbegrifif nicht in eines Menschen Gehirn und nicht im unverwirklichten Räume bestehen bleiben kann. Er verlangt, um zur Gestalt zu werden und damit auch dem Nicht-Schöpfer zugänglich zu sein, notwendig eine Äußerungsform, die allgemeine Gültigkeit beult; t. Mosche ist zu ihrer Schaffung schon um deswillen verpflichtet, weil seine Konzeption schon im Augenblick ihrer Vollendung aufhört, Selbstzweck zu sein und in der gleichen Sekunde ihre Anwendung verlangt, ihre Durchsegung, ihre Realisierung. Er hätte hingehen und sie irgend einem Volke predigen können, etwa den Midjanitern und ihren Nachbar-stammen. Er hatte zu ihnen weit mehr Beziehungen als zu den

jisraelilisdien Stämmen in Gosen, mit denen er nie das gleiche Lehen gelebt und zu denen er fast ein Menschenalter hindurch keinerlei Kontakt hatte. Aber die wahren Erlebnisse kehren zu ihrer Beschließung und Abrundung immer zu ihrem Anfang und Ursprung zurück. War das Leben seines Volkes der Beginn seines Schicksals, so mußte es auch der Raum werden, in dem er seine Erkenntnisse zu realisieren hatte. Dieser Wille zur Realisierung macht ihn zu einer Führergestalt, wie sie in der Geschichte nicht wieder aufgetreten ist.

Die Zuwendung zu den Stämmen seines Herkommens erfolgt aus einem Entschluß, der in der Sprache der Religion die Bezeichnung «göttlicher Auftrag« führt, und der genau das gleiche ist, was später je und je die Propheten in Form der »Berufung« erfahren. Darum konnte die Prophetie später zu Recht Mosche als ihren frühesten Repräsentanten in Anspruch nehmen. Der Entschluß geht auf eine doppelte Aktion: das Volk aus Ägypten herauszuführen und es mit der Gegenwart des neu begriffenen Gottes zu konfrontieren. Es ist also eine äußere und eine innere Befreiung gleichermaßen, von der materiellen wie von der geistigen Knechtschaft. Es ist zudem eine Befreiung, die von dem üblichen Schema dadurch abweicht, dass im Vordergrunde nicht die Revolte mit der Waffe siclii, sondern — da Mosche über materielle Machtmittel nicht verfügte — eine Selbstbefreiung auf Grund eines Motivs. Was im Einzelnen tatsächlich geschehen ist, um die Jis-racliten zum Auszug zu bewegen oder die Ägypter zu ihrer Freigabe zu veranlassen, ist aus dem Kranz der Erzählungen nicht mit Sicherheit zu ermitteln. .Sichtbar bleibt nur, dass das Volk sich bereit zeigte, die Führerschaft eines Mosche anzuerkennen, und dass Vorgänge im Lande, die der rückschauen-ilen Erinnerung als der Sieg des neuen Gottes über die Götter Ägyptens erschienen, die Ägypter an einem erfolgreichen Widersland gegen den Auszug der Arbeitssklaven hinderten. Als Ergebnis alles dessen stehen die befreiten Stämme jeden-24 ERSTER TEIL

falls eines Tages an der Grenze des Landes, überschreiten sie und schlügen die Richtung auf jenen Ort ein, der für lange Zeit der Aufenthalt oder die nächste Nachbarschaft ihres Führers gewesen ist: die Oase Kadesch.

B'RITH

Die Oase Kadesch, die sich schon durch ihre Bezeichnung (kodesch = heilig) als eine Kultstätte der Wüste darstellt, wird von jetjt an und für die Dauer einer Generation das Zentrum einer erzieherischen und gestaltenden Tätigkeit, wie sie ein Einzelner nie wieder an einer Gruppe von Mensehen vollzogen hat. Vergleicht man das zur Verfügung stehende Material mit dem geistigen Ziel, so kommt im Ergebnis bo etwas wie eine creatio ex nihilo heraus. Die Menschen, mit denen Mosclie nach Kadesch kam, waren in ihrer ganzen Struktur äußerst zwiespältig. Als ursprüngliche Halbnomaden an die Freiheit gewöhnt, hatten sie doch eine Seßhaftigkeit auf sieh genommen und eine Unfreiheit auf «ich nehmen müssen. Der Aufbruch in die Wüste konnte demnach nicht einfach die Anknüpfung an frühere Gewohnheiten des Lebens sein, sondern mußte mit den Erfahrungen der Seßhaftigkeit kollidieren. Bereit, sich einem Führer anzuvertrauen, waren sie gleichzeitig bereit, bei jeder Gelegenheit und jeder Unbequemlichkeit gegen ihn zu opponieren. Religiös noch keineswegs fixiert, von unbestimmten Vorstellungen dämonischer Gewalten beherrscht, sollten sie einem Mann Gefolgschaft leisten, dessen geistige Erkenntnisse eine nicht nur ihnen ungewöhnliche Höhe erreicht hatten. Zum Aufbruch in die Freiheit bereit, wirkte sich in ihnen doch immer wieder das alte Beharrungsvermögen aus, der Wunsch, sich auf der Linie des geringsten Widerstandes zu bewegen und nach den Fleischtöpfen Ägyptens zu schielen, wenn es sich darum handelte, sich ein neues Leben zu erobern.

B'RITH

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Aber bei der Gestaltung eines jeden Menschenmaterials ist das Entscheidende nicht sein gegenwärtiger Zustand, sondern das Erkennen seiner immanenten Möglichkeiten. Mosche hat sie mil eitlem Scharfblick erkannt, als habe er Zeit seines Lehens unler ihnen geweilt. Aus der Erkenntnis dieser Möglich-keiieii kann er ein Ziel stecken, das ungewöhnlich ist und dessen Cliarakterislikum darin besteht, dass es eine Duplizität enthält. Sie äußert sich in allen seinen Aktionen und beherrscht später die ganze geistige Geschichte des Judentums. Ihr Wesen liegt darin, dass ein Gedanke aufgestellt und für ihn sofort die Ebene seiner Verwirklichung bereitet wird. Es wird ein neuer (Jon gedacht und sofort das Volk als sein Träger bestimmt. Es werden Attribute dieses Gottes erlebt und sofort der Alltag des Volkes als ihre Verwirklichung in Angriff genommen. Es wird der Begriff Volk vollkommen neu gedacht und sofort der geographische Kaum seiner Existenz als Ziel einer Eroberung bezeichnet. Immer geht es um die doppelte Formung, um die geistige und die materielle, um das Bedürfnis nach Realisierung der Idee als einen typischen Zug des jüdischen (/i'isles.

Es isi an sich ein unmögliches Unterfangen, einem Volke, 'las gerade zu leben beginnt und weder eine festumrissene Religioiisvorstclhing noch präzise Ideale und Lebensziele hat, im Laufe einer einzigen Generation ganz neue Grundlagen »einer geistigen und materiellen Existenz zu geben. Das ist nur möglich, wenn konkrete Anknüpfungspunkte gegeben sind, von denen aus die Formung einsehen kann. Wenn Mosche es jetjt unternimmt, den von ihm persönlich erkannten Gott auf • ine ganze Gemeinschaft zu übertragen, so muß ihr die Notwendigkeit und die Wahrscheinlichkeit dessen glaubhaft gemacht werden. Es geschieht dadurch, dass er an das geschichtliche Bewußtsein der Stämme appelliert und ihnen Jahwe als die neue und endgültige Manifestation eines von früher bor erinnerten Gottes darstellt.26

ERSTER TEIL

Was hat es mit diesem »früher« für eine Bewandtnis? Hier muß ein Phänomen der jüdischen Urgeschichte aufgezeigt werden. Die .Stämme hatten schon eine Geschichte, ehe ihre Volksgesehichte begann. Sie waren schon angefüllt mit einem erheblichen Bestand von Erzählungen und Sagen und Berichten über frühe Vorfahren, über die sogenannten Erzväter und ihre Schicksale. Es ist müssig, entscheiden zu wollen, ob hier Stammeserinnerungen auf Einzelpersonen übertragen wurden oder ob es sich etwa um frei erfundene Gestaltungen handelt. Entscheidend ist nur, dass es Erinnerungsbestände gab und dass die Stämme sich selbst in der Kette dieser Erinnerungen stehend empfanden, wobei sie keineii Anlaß hatten, zwischen belegbarer historischer Wahrheit und legendärer Erfindung sorgsam zu unterscheiden. Geschichte ist ja nicht nur das, was mit Dokumenten belegt werden kann, sondern auch das, was erfunden und dann von der Erinnerung als Faktum aufbewahrt worden ist. Eine historische Erinnerung ist immer genau so wahr, wie der Glaube an die Wahrheit der Ereignisse stark ist. Erinnerten die jisraclitisclien Stämme solche vergangenen Tatsachen und brachten sie sich selbst damit in Zusammenhang, so war die geschichtliche Kette zulänglich geschlossen. Und von hier aus wußten sie, dass ihre Urahnen einmal in Kanaan unter der Führung und Patronanz eines Gottes gelebt hatten.

Auf dieses Wissen geht Mosche aus der gleichen geschichtlichen Gebundenheit zurück. Er bringt die Beziehung auf eine ganz einfache Formel: »Gott redete zu Mosche und sprach: Ich bin Jahwe. Ich gab mich Abraham, Jizchak und Jaakow zu schauen (in meiner Eigenschaft) als El shaddaj, . als den gewaltigen Gott. Aber (in meiner Eigenschaft) als Jahwe habe ich mich ihnen nicht zu erkennen gegeben.« Aber das wäre an sich die einfache und erfolglose Umbenennung eines Gottes gewesen, wenn nicht sofort aus der Aktualität des Geschehens her so die Verknüpfung zwischen ihm und dem

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heurigen Schicksal der Stämme hergestellt worden wäre, wie si,- früher mit den Erzvätern bestand: dieser Jahwe ist der bewirkende Anlaß für die Befreiung der Stämme aus Ägypten. Sie begegnen ihm also zu allererst in einer geschichtlichen Aktion, noch ehe sie sein Wesen erkannt und begriffen haben. Und dass sie ohne weiteres bereit sind, daraus die Konsequenzen zu ziehen, stellt die andere Seite des Phänomens dar, von dem soeben gesprochen wurde: das Denken des Juden ist wesentlich historisch, das heißt: auf den sinnverknüpften Ablauf von Tatsachen abgestellt. Er begreift keine isolierten Tatsachen. Sie sind alle durch einen Sinn oder ein Motiv, oder durch Ursache und Wirkung mit einander verbunden und stellen somit im eigentlichen Sinne des Wortes Geschichte dar. Darum sind die Juden das Gesehichtsvolk kat exoehen geworden. Schon ihr frühestes nachweisbares Denken liegt auf dieser Linie und unterscheidet sie wesentlich von anderen Völkern. Man vergegenwärtige sich etwa die Erzählung vom Paradies. In anderen Sagenkreisen ist das Paradies ein Idyll, «las in sich seihst und auf sieh selbst beruht, wunschlos, glücklich, ereignislos. Das Paradies des Juden ist schon mitten in der Kühe und glückseligen Beharrung mit einem Motiv belastet, mit dem Keim eines Konfliktes, einer Tragik, eines unendlichen Geschehens, das — wenn es einmal angestoßen wird — wie ein magischer Zirkel ohne Ende Handlungen, Ereignisse, Geschichte erzeugen muß, bis hinauf zu uns Gegenwärtigen. Und der Mythos der Weltschöpfung: in anderen Sagenkreisen beginnt er mit dem Kampf von Naturgewalten, und mit der Entstellung eines Menschen oder eines Gott-mensi'hcn ist er endgültig, spannungslos und ohne Folge abgeschlossen. Nicht so beim Juden. Da beginnt er mit einem originären geistigen Akt der Schöpfung; und wann endet er? Kr endet niemals. Er stellt den Menschen sofort mitten in •las Leben hinein und wirft ihm die Last des freien Willens auf den Nacken. Er stößt ihn damit in den Strom eines Ge-28 ERSTER TEIL

sehehens hinaus, den keine Macht mehr unterbrechen kann und den der Schöpfer seihst, da er vom Werk der Sintflut um der Erde und ihrer Ewigkeit willen zurücktrat, nicht mehr unterbrechen wollte.

Solches historisches Begreifen — auch wenn es nicht intellektuelle Erkenntnis, sondern nur lebendige Antwort des Unterbewußtseins ist — macht es allein verständlich, warum das Volk die Konsequenzen zieht, das heißt: warum es sich bereit zeigt, zu dem von Mosche erkannten Gott in Beziehung zu treten. Einen sonstigen zwingenden Anlaß hat es nicht. Seine Bereitschaft ist vollkommen freiwillig, und diese Freiwilligkeit der Unterordnung ist — wie alles, was in dieser bedeutsamen Anfangsepoche geschieht — ein weiter wirkendes Merkmal der jüdischen Geistesgeschichtß geblieben. Nur Jahrhunderte immer neuer freiwilliger Entschließung und Einordnung haben das Volk überhaupt am Leben erhalten können. Aber jenseits dieser Freiwilligkeit, zu Jahwe in Beziehung zu treten, ist alles das ausschließliche Erziehungswerk des Mosche. Es vollzieht sich in Kadesch und am Sinai, soziologisch und geistig, immer auf der gleichen Linie der Duplizität. Die geistige Erziehung war an sich schon ein Doppeltes. Sie bedeutet die Übertragung Jahwes auf die jisraelitischen Stämme und die Vermittlung dessen, was Jahwe als sein Wesen und seinen Willen zu äußern hat. Mit dem ersteren bekommt das Volk die Grundbegriffe seiner Religion und mit dem letzteren die Grundzüge seiner späteren Lebensordnung. Die Form, in der beides sich vollzog, war die B'rith.

Die B'rith — die man in der deutschen Sprache «ehr unzulänglich mit dem Worte »Bund« umschreibt — ist eine Bindungsform, die in ihrem Wesen und ihrer Tragweite nur dem Geiste des Semiten zugänglich ist. dass sie zwei Partner fordert und damit vertragsähnlich wird, macht sie noch nicht zu einem gegenseitigen Vertrag, denn hier geht es nicht um die gerechte oder billige Verteilung von Rechten

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und PflichttMi auf beiden Seiten. Es geht lediglich darum, dass die Partner — zwei Menschen, ein Mensch und ein Gott, eine Gemeinschaft und ein Gott — sich auf einen bestimmten rnhalt der B'rith einigen. Und der Inhalt selbst ist wieder vollkommen gleichgültig gegenüber dem Umstand, dass es von diesem Inhalt, wie immer er beschaffen sein mag, nie wieder eine Befreiung gibt. Eine B'rith ist im Prinzip unauflösbar. Sie ist eine Sakralbindung von schickalhaftcm Gewicht, da jedes Abweichen — auch das unverschuldete, auch das nicht gewollte — den Abweichenden in die Rolle des Schuldigen verweist und ihn den Folgen ausliefert, der Fluch-formel, mit der eine B'rith regelmäßig beschworen wird. Ihre äußere Zeremonie ist meist vom gleichen dunklen Zeremonial hegleitet: es werden Opfertiere in zwei Hälften zerlegt und einander gegenüber hingelegt. Die Partner des Bundes schreiten hindurch und bekunden im Symbol, dass sie so im Bund stehen, wie die Hälften der Opfertiere zu einander gehören, und dass ihnen, wenn sie die Bindung verlassen, zugleich das Schicksal der Aufteilung, des Gespaltenwerdens, der Vernichtung droht.

Eine solche B'rith richtet Mosche zwischen Jahwe und dem Volke her. Ihr Inhalt kann sich naturgemäß nicht mit der Anerkennung des Gottes begnügen, sondern muß die Äußerungen seines Willens und seiner Absichten mit umfassen. Sie sind in dem enthalten, was man als das Zehnwort, den Dekalog bezeichnet, ferner — nach der formalen Seite hin — im sogenannten Bundesbuch des Exodus. Das Zehnwort, das zum theoretischen Besitj der Kulturwelt geworden ist, proklamiert in seinem Beginn die Zugehörigkeit von Volk und Gott. Solche Zugehörigkeit findet sich auch bei anderen Völkern. Ihre fundamentale Unterscheidung liegt darin, dass hier eine Aus-scldießlichkeit hergestellt wird, die dem Volke jede andere ('Ottbeziehung für immer versagt; dass beide, der Gott und das Volk, eich damit in eine Absonderung und Isolierung30

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begeben. Sie vollzieht sich nicht aus Laune und nicht aus Machtgefühl, sondern um der Realisierung der göttlichen Attribute willen. Diese Attribute werden damit aus Eigenschaften Jahwes zu Verpflichtungen des Volkes. Sie übernehmen der Form nach diese Verpflichtungen gegenüber Jahwe, dem Wesen und dem Effekt nach gegen sich selbst und ihr eigenes Leben. Damit hört ihr Leben auf, alltäglich und aller Welt gleich zu sein. Es wird versittlicht. Das darf nicht mit irgend einer Moralsagung verwechselt werden. Moral ist Erfahrungstatsache des Lebens. Ethik ist über das Leben gestellte ewige Sagung. Moral ist profan; Ethik ist heilig. Im Leben der meisten Kulturvölker igt die Moral die Travestie des ethischen Gedankens.

Der Dekalog als religiöses Programm und als sittlicher Kodex und die Geseßesanweisungen, die später im »Bundesbuch« (Exodus, 20, 22 bis 23, 33) ihren Niederschlag gefunden haben, sind nicht in jedem Detail etwas schlechthin Neues und Unbekanntes. Sie enthalten zum Teil Übereinstimmung und Ähnlichkeit mit dem Rechtskodex des babylonischen Königs Hammurapi und ähneln hier und da Formulierungen aus dem sogenannten »ägyptischen Totenbuche« des XVI. Jahrhunderts der früheren Zeitrechnung. Aber noch in der ähnlichen Formulierung und in der Regelung der gleichen Materie liegt die Unterscheidung darin, dass ein sittliches Motiv als bestimmend im Hintergrunde steht, dass ein bewußter und zur Gesegmäßigkeit erhobener Gedanke der Humanität sich seine eigenen Formulierungen erzwingt. Die Quelle dieser Gesegmäßigkeit ist nicht ein Erfahrungssatj des sozialen Lebens. Das hätte dahin führen müssen, wohin es in der ganzen Welt geführt hat: zur Aufstellung einer Moralkasuistik, die hier und dort, von Fall zu Fall für diesen und jenen Geltung oder Nicht-Geltung hat. Aber da die Quelle dieser Gesefcmäßigkeit Gott, dass heißt: ein fundamentales religiöses Erlebnis ist, ist sie im Prinzip und im Wesen absolut

LANDNAHME

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,1II(| , erträgt so wenig eine Beugung und Abweichung, wie die H'rith sie ihrem Wesen nach verträgt. Um es an einem Beispiel zu belegen: Während noch im ägyptischen Totenbuch die Seele des Abgeschiedenen sich vor dem Gotte Osiris vertei-,liKi: »Ich habe nicht getötet!«, brechen aus dem Dekalog mit einem Male Imperative des sittlichen Verhaltens: Morde nicht! Brich nicht die Ehe! Stiehl nicht! Ehre deinen Vater und deine Mutter! Begehre nicht das Haus deines Genossen! Und dazu ein Gebot, das später dem Judentum den Vorwurf der römischen Kulturwelt eintrug, es verbringe den siebenten Teil seines Lehens mit Miissiggang: die Heiligung des siebenten Tages, die Einfügung einer Zäsur in den Ablauf der Alltags-fron, die grundsätzliche Überwindung des Fluches der Arbeit durch das Beeilt auf Feier und Besinnlichkeit, die Grundlage einer unsterblichen Idee.

Mit diesem Biindesschluß und seinem Inhalt, auf den das Volk sich verpflichtet, sind gewiß nur Anfänge geschaffen. Aher ihr Wesen besieht darin, dass sie den Keim zu außerordentlichen Entwicklungen in sich tragen, denen wir später begegnen werden. Sichtbar wird aber schon hier ein Doppeltes: in einer Well der vielen Götter und Gottheiten und in einer Welt der panischen Naturgebundenheit entläßt das Judentum schon im damaligen Stadium aus sich den Monotheismus ;lls Idee und die Ethik als Prinzip und beide zugleich als reale Zielsetjungen seiner Entwicklung. Damit ist eine Voraussetzung geschaffen, die die Gesichtszüge der ganzen Well grundlegend beeinflußt und die zugleich die jisraeliti-sehen Stämme für alle Zeiten im Wesen und im inneren Schicksal isolierte.

LANDNAHME

Hie Schließung der B'rith und die Vermittlung ihres Inhalts Bind naturgemäß nicht Selbstzweck. Sie haben lediglich

hagalil.com 28-09-2005



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