Heinrich Graetz:
Geschichte der
Juden
Zum
100. Geburtstag, 31. Oktober 1917:
Graetz und das nationale
Judentum Von Josef Meisl,
Der Jude, 1917-18, Heft 7
Über
den Geschichtsschreiber Graetz (1) ist von seinen Freunden und Gegnern
in allen Tonarten Lob gesungen oder Tadel ausgesprochen worden. Die
einen preisen seine Gelehrsamkeit, sein vollendetes Wissen, seine
Intuition und seine Kombinationsgabe, die ihn zu der großen Aufgabe, aus
den wenigen Rohsteinen, die er zur Hand hatte, jenen Riesenbau der
jüdischen Geschichte zu konstruieren, in besonderer Weise befähigten,
die anderen bemängeln die unzähligen Lücken, Ungenauigkeiten,
parteiische Entstellung von Tatsachen, Stilschnitzer usw., schelten ihn
einen Phraseur, der keine Geschichte sondern Geschichten erzählt, werfen
ihm grobe Plagiate vor u. dgl. m. Wer hat recht? Beide oder keiner.
Wenn man von dem doktrinären
Vernichtungsurteil, mit dem eine extreme Orthodoxie Graetz wegen seines
ihr allzufrei dünkenden Wagemuts gegenüber den angeblichen Dogmen des
Judentums zu verdammen für nötig hält, absieht, wenn man es sich ferner
abgewöhnt, das Graetzsche Geschichtswerk an dem Maße moderner Methoden
und moderner Historiographie zu messen, so wird man ungefähr den
Standpunkt für eine gerechte Würdigung der Größe dieser Lebensarbeit
eines einzigen Mannes, die unter den schwierigsten Verhältnissen ohne
wesentliche Förderung von außen zustande kam, gewonnen haben. Graetz'
"Geschichte der Juden" bleibt trotz allem ein Standardwerk, eine
unvergleichliche Leistung, eine nationale Tat. Denn sie ist weit weniger
wissenschaftliches Verdienst, obschon auch darüber selbst die schärfsten
Kritiker, die doch wenigstens von ihren Fehlern im einzelnen wie in der
Anlage viel gelernt haben, nicht mit geringschätzigem Achselzucken sich
hinwegsetzen dürften, sondern ein wahrhaft volkstümliches Buch, das,
unerreicht in seiner Art, das Leben gewaltig beeinflußt hat.
Ganze Generationen haben von den
Brosamen, die sie dem Tische des Meisters entnahmen, gezehrt, und nicht
wenig ist auch die in die nationale Bewegung mündende Aufklärung
namentlich im Osten von dem Werke, vor allem in seiner hebräischen
Bearbeitung, beeinflußt worden. Der Schlüssel zu dieser tiefgreifenden
Einwirkung liegt in Graetz' eigenartiger Persönlichkeit, in seinem
durchaus jüdischen Wesen, in seiner Gabe, Geschichte weniger zu
schreiben als zu erleben. Diese die wissenschaftliche Leistung
naturgemäß beeinträchtigende Fähigkeit ist die Quelle der unbestrittenen
Vorzüge des Werkes, das eben nicht als Gelehrtenarbeit, als ein
Herbarium, wie etwa die Jostsche Geschichte, gewertet sein will. Mehr
als jede andere Richtung hat das national orientierte Judentum Ursache
dies zu unterstreichen, und wenn bisher fast nur dem Geschichtsschreiber
Graetz die allgemeine Aufmerksamkeit galt, so ist es vielleicht an der
Zeit, auch über den Juden Graetz ein Wort zu sagen.
In frommem Elternhause, nach
traditioneller Weise erzogen, hat Graetz Zeit seines Lebens den
unveränderlichen religiösen Grundcharakter des Judentums streng betont
und selbst von dem Zeretnonialgesetz kein Tüttelchen abgelassen. Zweifel
und Abirrungen haben wohl auch seine Seele schon als Knabe beschlichen
(2), aber niemals haben sie bei ihm dauernde Wirkungen gezeitigt,
niemals ihn von dem Pfade der Gläubigkeit und tieferen religiösen
Empfindens abzuleiten vermocht. Ben Usiels (Samson Rafael Hirschs) "19
Briefe über das Judentum" (Iggarot Zafon) wurden dem jungen Manne das
Evangelium, das ihm eine neue Erkenntnis offenbarte und seine Seele
gegen alle seichte Aufklärerei feite (3). Die Vertiefung in das
Profanstudium führte bei ihm nicht zur Abkehr vom Jüdischen wie bei den
meisten Aufklärern, und er blieb ein geschworener Feind jenes "modern"
sich dünkenden Getues, das das Judentum in blinder Nachäfferei gewaltsam
in das Prokrustesbett einer Kirche einengen wollte. Während seiner
Studienzeit hatte er gelegentlich des Streites zwischen Geiger und
Tiktin mit unzweideutiger Offenherzigkeit die Partei der Antireformer
ergriffen und in zahlreichen Korespondenzen die Schale seines ätzendes
Spottes über den von einem "achtbaren jüdischen Geistlichen, dessen
Vorträge immer reicher mit Medisancen gegen anders gesinnte Renommeen,
welche nicht gut auf der Kanzel abgeschlachtet werden können, gewürzt
sind", ins Leben gerufenen "Lese- und Lehrverein", über die
"Stockneologen", über die Karikatur des Reformgottesdienstes mit dem
"durch Synagogenbüttel überwachten Schweigesystem", über die "neue
Agende", das Verhalten des Rabbinerstandes in der Kasualfrage und
dergleichen Errungenschaften des neuen Geistes ergossen.(4)
In der Hoffnung, auf diesem Wege
befruchtende Keime in das Judentum zu tragen, hatte er sich mit
Zacharias Frankel, Oberrabbiner in Dresden, zu einem freilich
mißglückten Versuche der Organisierung der "gemäßigteren" Elemente des
deutschen Rabbinerstandes zusammengetan, die einem auflösenden
Reformgeiste ein Gegengewicht bieten sollten. Den vollen Zorn seines
flammenden Temperaments aber ließ er gegen die Mendelssohnsche Schule
los, die er mit Vorwürfen und Schmähungen, für die ihm kein Wort zu
stark ist, überschüttet. Der ganze elfte Band der Geschichte ist ein
einziger Protest gegen die Reform und ihre Anhänger, David Friedländer,
den "Affen Mendelssohns", Herz Homberg, "Religionsbuchverfertiger im
Auftrage der österreichischen Polizei", Israel Jakobson, welcher kein
Gefühl hatte, "für das Beschämende und Lächerliche, das darin lag, der
ergrauten Mutter den schimmernden Plunder der Tochter umzuwerfen, der
sie mehr entstellte als zierte", die Euchels, Löwes, Herzs, Kleys,
Holdheims usw., kurz gegen alle jene, die Heine maliziös
"Hühneraugenoperateure des Judentums" nannte, die nicht mehr "die Kraft
haben, einen Bart zu tragen, zu fasten, zu hassen und zu dulden"(5).
Eine Welt schied Graetz von der
Reform, aber auch auf die Orthodoxie Hischscher Observanz war er nicht
gut zu sprechen. Besser gesagt, diese wollte von ihm und der Breslauer
Richtung nichts wissen. Sie verzieh ihm und Frankel niemals, daß so
viele Schüler des Seminars die von den Lehrern gepredigte "goldene
Mittelstraße" verließen und sich dem "Liberalismus" mit Haut und Haaren
verschrieben hatten, daß Graetz an die Bibelkritik sich heranwagte und
in die Irrgänge dieser "luftigen Hypothesen und abenteuerlichen
Konjekturen sich verstrickte", die Göttlichkeit der Thora anzweifelte,
und auch zur späteren Literatur und Entwicklung des Judentums keine
einwandfreie Stellung nahm (6).
In dem Preßprozeß, der sich an den
in Wertheimers "Jahrbuch für Israeliten" (1863/64) erschienenen Aufsatz
"Die Verjüngung des jüdischen Stammes" knüpfte, fand diese Gegnerschaft
deutlichsten Ausdruck, obgleich Graetz selbst mit der Sache gar nichts
zu tun hatte. Die Unterstellung, daß die Verkündigungen des
Deuterojesaias unmöglich sich auf einen persönlichen Messias, sondern
nur auf das ganze Volk beziehen könnten, hatte nicht nur nach Ansicht
der Wiener Staatsanwaltschaft, sondern auch der rabbinischen
Zionswächter "die Messiaslehre der orthodoxen jüdischen Kirche
geschmäht, verspottet und herabgewürdigt" (7). Man begreift den Zorn
dieser "jüdischen Tartüffe", von solchen Lehren ihre Kreise gestört zu
sehen, und den Wunsch, eine so unbequeme Richtung mit allen Mittelchen
zu unterdrücken, die ihnen im Gefühle ihrer Ohnmacht erlaubt erschienen.
So kann man ohne Gewalt Graetz weder
den Nurorthodoxen, noch den Nurliberalen zurechnen. Sein jüdisches
Empfinden lag jenseits der konventionellen Parteischablone, oder wie er
sich ausdrückte "der Buntscheckigkeit der jüdischen Konfessionen". Ihm
war das Judentum zwar Religion, aber doch in einem sehr weiten, die
Grenzen der Durchschnittsauffassung überragenden Sinne (8). Er war
erfüllt von dem jüdischen Ideal jener Ethik, die es verhinderte, daß die
Kultur der Totengräber des Judentums wurde, und es befähigte in
dreitausendjähriger zäher Existenz die Kraft der Rasse rein zu erhalten.
Die Lücke, die in der Welt entstünde, wenn die Judenheit und das
Judentum von der Bildfläche verschwänden, zu vermeiden, müsse jeder Jude
und jede Jüdin als heilige Aufgabe betrachten, damit der "Faden, der sie
mit der mehrtausendjährigen Ahnenreihe verknüpft, nicht abreiße, nicht
etwa aus einem gewissen Trotz oder falschem Ehrgefühl oder Adelsstolz,
sondern aus dem überwältigenden Pflichtgefühl, damit das Wunder des
Fortbestandes unseres Volksstammes sich fortsetze und sichtbar sei".(9)
Nur scheinbar deckten sich diese
Thesen mit dem Inhalt apologetischer Predigten: sie basierten doch auf
einer ganz anderen Grundstimmung und führten zu größeren Konsequenzen.
Graetz faßte nämlich das Judentum durchaus als eine nationale Einheit
auf, die freilich, um nicht mit modernen Begriffen völlig identifiziert
zu werden, näherer Erläuterungen bedarf. "Das Judenthum ist in strengem
Sinne gar nicht Religion, wenn man darunter das Verhältnis des
Erdensohnes zu seinem Schöpfer und seine Hoffnungen für seine hieniedige
Lebensrichtung versteht — sondern es ist in diesem Sinne ein
Staatsgesetz. — Die Thora, die israelitische Nation und das Heilige Land
stehen in einem, ich möchte sagen, magischen Rapport, sie sind durch ein
unsichtbares Band unzertrennlich verknüpft. Das Judenthum ohne den
festen Boden des Staatslebens gleicht einem innerlich ausgehöhlten,
halbentwurzelten Baume, der nur noch in seiner Krone Laub treibt, aber
nicht mehr imstande ist, Äste und Zweige schießen zu lassen. — Ihr könnt
das Judenthum einem Sublimierungsprozeß unterwerfen, aus der Fülle
seines Inhaltes moderne Gedanken extrahieren, und diesen Extrakt mit
bedeutendem Wortgeklingel, mit brillanten Stichwörtern als den
eigentlichen Kern des Judenthums ausposaunen, ihr mögt für dieses
sublimierte, idealisierte Judenthum in euch eine Kirche erbauen und ein
Glaubensbekenntnis votieren, so habt ihr doch nur einen Schatten umarmt,
und die trockene Hülse für die saftige Frucht genommen. Ihr besitzt
weder das Judenthum, wie es die Schrift in unzweideutigen Buchstaben
lehrt, noch das Judenthum, wie es die dreitausendjährige Geschichte,
noch das Judenthum, wie es in der Überzeugung der Majorität seiner
Bekenner unerschüttert lebt." (10)
Nicht nur für die biblische Zeit,
auch für das Exil vindizierte Graetz dem Judentum den nationalen
Charakter. Seine Geschichte ist keineswegs „eine bloße Religion- oder
Kirchengeschichte, weil sie nicht bloß den Entwicklungsverlauf eines
Lehrinhaltes, sondern auch einen eigenen Volksstamm zum Gegenstand hat,
der zwar ohne Boden, Vaterland, geographische Grenze und ohne
staatlichen Organismus lebte, diese realen Bedingungen aber durch
geistige Potenzen ersetzte. Über die kultivierten Erdteile zerstreut,
und sich an den gastlichen Boden fest anklammernd, hörten die Glieder
des jüdischen Stammes doch nicht auf, sich in Religionsbekenntnis,
geschichtlicher Erinnerung, Sitte und Hoffnung als einheitliches Wesen
zu fühlen . . . Der jüdische Stamm fühlte, dachte, sprach und sang in
allen Zungen der Völker, welche ihm herzlich oder engherzig Gastlichkeit
boten, aber er verlernte seine eigene Sprache nicht, sondern liebte,
bereicherte und veredelte sie nach Maßgabe der Kulturstufe, die er mit
der Gesamtmenschheit erklommen hat. . ." (11) Deutlicher kann ein
moderner Zionist das nationale Wesen des Judentums nicht betonen.
Und doch trennt Graetz von uns noch
eine ganz beträchtliche Spanne. Seine Konsequenz reichte jedenfalls
nicht bis zur Anerkennung einer unverbrüchlichen Solidarität des
Judentums. Wohl hören wir aus seinen Worten manchmal eine leise Ahnung
jenes Gemeinschaftsgefühls, so, wenn er die Julirevolution begrüßt, weil
durch sie "der Grenzpfahlpatriotismus, welcher die Forderung stellte,
daß der deutsche Jude vor allem ganz Deutscher, der französische
Franzose sei, und so durch ganz Europa und die übrigen Erdteile, einen
Stoß erhielt" (12), aber er selbst, als ein echter Sohn seiner Zeit, hat
nicht auf die verschiedentlichen Judentümer verzichten können und sich
vor allem von den russischen und polnischen Juden durch eine
unübersteigbare Mauer getrennt gefühlt.
Er schätzte zwar manche ihrer
Tugenden, ihren Geist und Witz und kam ganz enthusiasmiert von seiner
galizischen Reise, die er zur Propaganda für das Waisenhaus in Jerusalem
unternommen hatte, zurück, aber er betrachtete sie schließlich doch mit
den Augen des deutschen Juden, der die Kultur gepachtet zu haben wähnt.
Dazu kam, daß viele Erscheinungen, welche das Leben der Ostjuden
charakterisieren, so abseits von der Linie des offiziell patentierten
Rabbinismus deutscher Couleur lagen, daß sie zu leicht das Gefühl der
Fremdheit und Wesensverschiedenheit erwecken konnten, zu denen auch
einem so warmfühlenden Juden wie Graetz die Brücke fehlte. So sah er bei
den Chassidim nichts als ein "Verdummungssystem", spottete über die
"kniffige, witzelnde Methode" der polnischen Talmudlehrer, bezeichnete
ihr Denken als "verkehrt", ihre Sprache als eine "häßliche
Mischsprache", "ein widriges Lallen und Stammeln", ein
"Kauderwelsch"(13), warf ihnen vor, daß sie den Sinn für alles "Einfache
und Wahre" verloren hätten, daß sie im Zeitalter "Descartes' und
Spinozas, als die drei zivilisierten Völker Franzosen, Engländer und
Holländer dem Mittelalter den Todesstoß versetzten, ein neues
Mittelalter über die europäische Judenheit gebracht" hätten, das zum
Teil noch tief bis ins 19. Jahrhundert fortdaure.(14)
Selbst von den zeitgenössischen
Kulturströmungen unter den russischen Juden nahm Graetz keine Notiz,
obwohl er gelegentlich behauptete, mit ihnen vertraut zu sein. So meinte
er z. B. über J. B. Levinsohn: "Schriftstellerei, wenn sie nicht auf
größere Kreise anregend wirkt, ist noch kein historisches Moment"(15).
Hier ging Graetz der Faden aus, und er wurde zum Parteimann, der ganz
wie gewisse moderne Wettverbesserer in unserer Mitte über die
polnisch-russische Judenheit von der höheren Warte zu Gericht sitzt. Und
noch ein Wesentliches scheidet Graetz von der zionistischen Theorie. Er
fühlte sich trotz seines tiefen jüdischen Empfindens keineswegs als Jude
schlechthin, sondern auch als Nationaldeutscher. Und man darf mit
einigen Einschränkungen sagen, daß für ihn die moderne Parteiformel
galt: in jüdischen Dingen jüdisch(-national), in deutschen Dingen
deutsch(-national). Wohl hatte er die Deutschen und ihren Judenhaß mit
äußerster Schärfe kritisiert und sich vielfache Vorwürfe zugezogen (16),
wohl scheute er nicht auch vor heftigsten Angriffen gegen die
judenfeindliche Umwelt und den "Erzfeind", das Christentum, zurück, aber
das hinderte ihn nicht, der deutschen Nation sich in unverbrüchlicher
Treue zugehörig zu fühlen. Als Student hatte er an der
deutsch-nationalen Bewegung aktiven Anteil genommen, lange vor 1870 den
Traum eines Reiches mitgeträumt, und er empfand es als herben Schlag,
als von Treitschke sein deutscher Patriotismus verdächtigt wurde.(17)
Die Emanzipation und die bürgerliche Gleichstellung sogar um den Preis
einer jüdischen Solidarität waren auch ihm Idole, von denen sein Blick
gebannt, sein jüdisches Empfinden nicht selten getrübt wurde.
Und doch war es mehr als eine
Ahnung, wenn weite Kreise der deutschen Judenheit, die sich wohl zu
einer Abwehr der Treitschkeschen Angriffe bemüßigt fühlten, vor einer
Identifizierung mit Graetz zurückscheuten. Er blieb trotz aller
Verehrung, die ihm entgegengebracht wurde, im Grunde ein Einsamer, ein
Isolierter, der zu sehr von der Liebe zu seinem Stamm erfüllt war, um in
dem Parteigetriebe seiner Zeit eine Unterkunft finden zu können. Diese
elementare Liebe hatte in ihm den großen Glauben an die Unzerstörbarkeit
und die Wiederaufstehung seines Volkes erzeugt, des Messiasvolkes, dem
noch eine größere Aufgabe als die Verbreitung einer höheren Moral
bevorstehe. Israel hat ja oft genug in seiner Geschichte den Beweis
gegeben, daß es aus Grabesschlummer zu erwachen fähig und zur
Unsterblichkeit bestimmt ist. Er beruft sich zum Beweise dieser
"schlummernden Lebenskraft", die die jüdische Nation wie einen
"unverlöschlichen Funken bewahrt" hat, auf jene Sage des Talmuds von der
Auferstehung des Leibes. "Wenn Tod und Verwesung die Atome eines
menschlichen Organismus in alle Winde zerstreut haben, bleibt noch ein
Knöchelchen, das aller Zerstörung widersteht, das selbst auf dem Amboß
nicht zertrümmert werden kann. Von diesem unzerstörbaren Kernpunkt aus
entwickelt sich die Auferstehung. Hat ein Volk einen solchen diamantenen
Kern, dann vermögen Eisen und Feuer nichts dagegen und noch weniger
ätzende Säure; es dehnt sich vielmehr wieder aus, wenn es auch durch
Druckeswucht auf einen kleinen Punkt zusammengeschrumpft war" (18).
An eine solche Regeneration der
Judenheit in einem geistigen Sinne durch die Wissenschaft (19), aber
auch auf politischem Gebiete in Palästina glaubte Graetz. Er kannte
Moses Heß persönlich, verkehrte mit ihm in Breslau und animierte ihn zur
Mitarbeit an der "Monatsschrift", er war von George Eliots und Oliphants
Schriften beeinflußt, er wußte von den nationalistischen Strömungen in
Rußland, von den Anfängen der Propaganda für die Palästinakolonisation
in England, Rußland und anderen Ländern. Aber mehr aus sich selbst
heraus war er zu der Überzeugung gelangt, daß die Juden als eine
Kulturnation sich auch politisch wieder durchsetzen müßten, daß sie den
Orientalen die europäische Kultur übermitteln würden, und dazu die Hilfe
Frankreichs, das das Protektorat über die katholischen Christen im
Orient übernommen hatte, und Louis Napoleons, der zur Festigung seines
Einflusses im Orient für diesen Gedanken zu gewinnen sein dürfte,
vielleicht auch Amerikas erlangen könnten (20). Für diesen Gedanken, den
Graetz nur in intimem Freundeskreises auszusprechen für nötig fand, hat
er niemals größere Propaganda betrieben. Doch wußte die Mitwelt von
seiner stillen Liebe und nicht mit Unrecht hat Hermann Cohen ihn als den
Typus des "Palästinensers" d. h. des nationalgesinnten Juden verlästert.
(21) Im März
des Jahres 1872 ging Graetz' große Sehnsucht seines Lebens, das Land
seiner Väter mit eigenen Augen zu schauen, in Erfüllung. Er hatte schon
früher diesen Plan (einmal auch in Begleitung von Moses Heß) ausführen
wollen, mußte aber aus äußeren Gründen seine Absicht immer wieder
aufschieben. Weniger die vorgebliche Notwendigkeit der "Autopsie" im
wissenschaftlichen Interesse zur Vollendung der ersten beiden Bände
seiner Geschichte, wie er im Vorwort zum ersten Bande angibt, als das
Verlangen nach dem Erlebnis, das Ursprungsland seines Stammes kennen zu
lernen, trieb ihn mit zwei Freunden die Reise zu unternehmen. Und nicht
minder als die Überzeugung von der "Wahrhaftigkeit" der biblischen
Berichte brachte er als Ergebnis seiner Beobachtungen eine Fülle von
tiefen Eindrücken nach Hause, die die herrliche Natur des Landes und die
Verhältnisse seiner Bewohner in ihm ausgelöst hatten. In einer
Denkschrift über die Zustände der palästinensischen Gemeinden hat er mit
seinen Freunden diese Ergebnisse niedergelegt (22). Er war entsetzt über
die Armut, das Bettelunwesen, die falsche Organisation der Chalukka, das
physische Elend der Bevölkerung und forderte Bekämpfung der Frühehe,
Errichtung von Schulen, Waisenhäusern und ähnlichen nützlichen
Anstalten.
Kein Wunder, daß er und seine Genossen sich den heftigsten Zorn der
palästinensischen und deutschen Orthodoxie zuzogen, die über diese
Schmähung der Talmide-Chachamim, der Müßiggänger und Schnorrer empört
waren und mit Verwünschungen der kühnen Kritiker nicht sparten. Nach
seiner Rückkehr begann Graetz eine lebhafte Agitation für die Errichtung
eines jüdischen Waisenhauses in Jerusalem, er unternahm zahlreiche
Reisen, hielt Vorträge in verschiedenen Städten, war Mitbegründer des
"Vereins zur Erziehung jüdischer Waisen in Palästina", interessierte
sich bei Baron Rothschild für die Förderung der Ackerbauschule "Mikweh
Israel", empfahl R. Samuel Mohilewer und mehrere Pioniere der
Palästinakolonisation an Rothschild (23). Das Waisenhaus wurde gegründet
und später mit der Lämelschule vereinigt; der erste Direktor war Dr.
Wilhelm Herzberg, Verfasser der "Jüdischen Familienpapiere".
Graetz hat der Anstalt bis zu seinem
Tode liebevollste Pflege zugewandt. Eine kurze Zeit stand er auch in
Beziehungen zur Chowewe-Zion-Bewegung. Dr. Leon Pinsker besuchte ihn auf
der Rückreise von der Kattowitzer Konferenz (Herbst 1884), und Graetz
wurde dann durch Zirkularabstimmung zum Komiteemitglied gewählt. Seines
Bleibens war aber nicht mehr lange, denn er fühlte sich von der
hypernationalistischen Propaganda, die namentlich bei der Feier der
tausendjährigen Nummer des "Ha-Meliz" (chag hoelef, anfangs 1885) zum
Ausdrucke kam, abgestoßen. Einem solchen Nationalismus vermochte er
nicht zu folgen, und er schrieb einen Absagebrief an das Komitee der
Zionsfreunde (24). Damit endete Graetz' Wirksamkeit für die
Palästinaidee. In jüdisch-politischen Fragen trat er sonst nur noch
einmal hervor, bei der Versammlung der Alliance Israelite Universelle
zugunsten der rumänischen Juden (1878)(25).
Wie das Land der Ahnen hat Graetz
die Sprache der Väter geliebt. Er war zwar selbst kein Meister des
hebräischen Stils und kannte die neueste hebräische Literatur kaum mehr
als vom Hörensagen. Vielmehr galt sein Interesse der Wiederbelebung der
hebräischen Dichtungen Jehuda Halevis und anderer, von der er sich viel
für die Weckung des jüdischen Stammesgefühls versprach, und er gab zu
diesem Zwecke eine Anthologie jüdischer Dichter heraus (26). Er rechnete
es sich als hohe Ehrung an, daß seine Geschichte ins Hebräische
übersetzt worden war, und verfolgte die Übersetzung der ersten Bände bis
zu seinem Tode, wie seine Briefe bezeugen, mit lebhaftestem Interesse.
Diese Liebe für alles Jüdische
durchweht jede Zeile des Graetzschen Geschichtswerks und sie, nicht sein
wissenschaftlicher Wert oder Unwert, sichert ihm Unsterblichkeit in der
Literatur unseres Volkes. Weit mehr als ein Forschungsobjekt ist wie
gesagt für Graetz die Geschichte ein Erlebnis gewesen. Wenn er einmal in
Michael Sachs' Hause Zunz, der zum ersten Male von Graetz' Plänen
erfuhr, auf die Bemerkung "Schon wieder eine jüdische Geschichte!"
erwiderte: "Aber dieses Mal eine jüdische!" (27), so hat er getreulich
Wort gehalten. Er wußte sich mit feinem Instinkt in die Vergangenheit
einzufühlen, er war selbst das jüdische Volk, der wandernde Jude, "der
alle Sprachen spricht, in allen Ländern war, in einer Weise, die als
Wunder betrachtet werden muß, allen Gefahren und Schrecknissen entrinnt,
der jüngste Bruder der Zeit."(28)
So hat Graetz, der Nationaljude,
seinem Volke ein monumentales Denkmal gesetzt, das in sich Risse und
Sprünge aufweisen mag, als Ganzes aber doch von unvergleichlicher Pracht
bestehen bleibt.
Anmerkungen:
(1) Ausführliches über Graetz' Geschichte und sein Verhältnis zu den
jüdischen Tagesfragen enthält mein in diesen Tagen erscheinendes Buch:
Heinrich Graetz. Eine Würdigung des Historikers und Juden zu seinem 100.
Geburtstage 31. Oktober 1917 (21. Cheschwan).
(2) Näheres bei Bloch "Heinrich Graetz. Ein Lebensbild" in der
Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums 1904 (auch
separat und als Einleitung zur 2. Auflage des ersten Bandes erschienen),
Abrahams "Heinrich Graetz the Jewish Historian" in Jewish Quarterly
Review 1892; Rippner "Zum 70. Geburtstage des Professors Heinrich
Graetz" in Brülls Populär-wissenschaftlichen Monatsblättern 1887.
(3) Bloch a. a. O. Seite 90/91 mit den Aufzeichnungen aus dem Tagebuche.
(4) Orient 1843 Seite 391/92, 1844 Seite 171/173, 179/81, 203, 232/34,
257, 283, 356.
(5) Geschichte Band XI passim.
(6) Israelit 1891 Nr. 74.
(7) Allgemeine Zeitung des Judentums, Israelit, Neuzeit, Jeschurun
1863/64, vgl. auch Zlocisti im "Brünner Jüdischen Volkskalender" 1903/04
Seite 115/124.
(8) Graetz "The Significance of Judaism for the Present et Future" in
Jewish Quarterly Review 1889/90.
(9) Aus der anonym erschienenen Schrift von Graetz "Briefwechsel einer
englischen Dame über Judentum und Semitismus" Stuttgart 1883; über diese
sehr interessante Schrift Näheres in meinem Buche.
(10) "Die Konstruktion der jüdischen Geschichte" in Frankeis Zeitschrift
für die religiösen Interessen des Judenthums 1846 Seite 88/89.
(11) Einleitung zum V. Bande der Geschichte.
(12) Geschichte Band XI Seite 457.
(13) Geschichte Band X Seite 59, 297, Band XI, Seite 41, Briefe an Dr.
Skomorowsky in Kiew in „Hamagid" 1885 Nr. S; aus diesem Grunde lehnte G.
eine Übersetzung seiner Geschichte ins Jiddische ab. „Gegen eine
Übersetzung meiner Volkstümlichen Geschichte der Juden im jüdischen
Jargon - so schrieb er - muß ich entschieden Einspruch erheben. Ein
Jargon ist eine große Schmach für eine Volksklasse. Ich sage mit Rabbi
Jehuda Hanassi לשון סורסי למה אי לשון הקדש אי לשון יונית
Ich bitte Sie, sehr geehrter Herr Dr., eine solche Schändung meiner
Geschichte zu verhindern."
(14) Geschichte Band X Seite 74/75.
(15) Briefe an Dr. Skomorowsky a. a. 0.
(16) Vgl. Kritik des XI. Bandes von M. L. im "Literarischen
Zentralblatt" 1879 Seite 29/31; Treitschke in "Preußische Jahrbücher"
1879 Seite 572 ff. und Seite 666 ff. ("Herr Graetz und sein Judentum").
(17) "Erwiderungen an Herrn von Treitschke" Schlesische Presse 1879 Nr.
859 und "Mein letztes Wort an Professor von Treitschke", daselbst Nr.
907.
(18) "Die Verjüngung des jüdischen Stammes" a. a. O.
(19) "Historie Parallels in Jewish History" transl. by J. Jacobs,
Publications of the Anglo-Jewish Historical Exhibition 1887 (Vorträge,
gehalten bei Eröffnung der englisch-jüdischen historischen Ausstellung
in London am 16. Juli 1887).
(20) Nach verschiedenen unveröffentlichten Materialien, auch
freundlichen Mitteilungen von Herrn Professor Dr. Bloch in Posen, vgl.
ferner Graetz's Schrift "Briefwechsel etc." Seite 77/78, sowie Moses Heß
"Jüdische Schriften" herausgegeben von Theodor Zlocisti Berlin 1905.
Näheres in meinem Buche.
(21) Cohen, Ein Bekenntnis in der Judenfrage 1880 Seite 16 ff.
(22) Die "Denkschrift über die Zustände der jüdischen Gemeinden in
Palästina und besonders in Jerusalem" (Berlin 1872 6 S. in 40) erschien
als Manuskriptdruck und wurde allen Palästinavereinen zugesandt, kam
aber dann doch in die Öffentlichkeit.
(23) Israelit 1872 Nr. 27, 1873 Nr. 9, Allgemeine Zeitung des Judentums
1872 Nr. 28, 1873 Nr. 21; Neuzeit 1872 Nr. 28, 33; Israelitische
Wochenschrift Nr. 27, 33, 1873 Nr. 23, 1875 Nr. 12; verschiedene
Korrespondenzen in "Chabazeleth", "Iwri Anochi", "Hameliz",
"Haze-firah", "Hamagid" aus den Jahren 1872/73 und ungedruckte
Materialien sowie Mitteilungen von Herrn Professor Dr. Bloch.
(24) Unveröffentlichte Materialien; Mitteilungen von Herrn Zitron in
Wilna; Hameliz 1885 Nr. 2, 1891 Nr. 287.
(25) Bulletin de l'Alliance Israelite Universelle 1878
(26) Blumenlese neuhebräischer Dichtungen "Leket schoschanim" Breslau
1862.
(27) Bloch, a. a. O. S. 314.
(28) Historic Parallels etc. |