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Koscher leben...
 
 

Heinrich Graetz: Geschichte der Juden

Die Biographie des Dr. H. Graetz

verfasst von Dr. Ph. Bloch

1. Einleitung.

Mit dem Zerfall des polnischen Reiches, welches 1795 von seinen Nachbarstaaten vollends aufgelöst und aufgeteilt worden, tritt für die zahlreiche Judenschaft in jenen Gebieten, welche unter preußische und österreichische Herrschaft kamen, die entscheidende Wendung ein, durch welche dieselbe in den Kreis des modernen Kulturlebens hineingezogen wird, und welche man füglich als den Übergang aus dem Mittelalter in die Neuzeit bezeichnen kann.

Preußen war es vornehmlich, das sofort nach vollzogener Okkupation daran ging, die neuen Erwerbungen zu organisieren und sie als die Provinzen "Südpreußen" und "Neuostpreußen" seinem Staatswesen anzugliedern. Von diesem Landzuwachs war jedoch endgültig nach 1815 nur dasjenige Stück, welches ehemals den Grundstock des alten Großpolens bildete, als Großherzogtum und später als Provinz Posen der preußischen Krone verblieben; aber gerade dieser Landesteil hatte für die Juden erhöhte Wichtigkeit, da auf seinem Boden zahlreiche alte und angesehene Gemeinden sich befanden, und da er überdies von der preußischen Hauptstadt nicht weit entfernt lag und derselben durch die neugewonnene Staatszusammengehörigkeit noch näher gerückt erschien.

Einerseits durfte man erwarten, dass infolgedessen die wirtschaftlichen Beziehungen zu Berlin, die bis dahin schon lebhaft bestanden hatten, sich noch inniger und reger gestalten und geschäftliche Vorteile bieten würden, anderseits mißtraute man der preußischen Hauptstadt, weil die von Mendelssohn und seiner Schule ausgegangene Bewegung, welche über die Einseitigkeit des bisherigen Talmudstudiums hinausstrebend, die modernen Bildungsmittel und Wissensgebiete der Jugend zu erschließen sich bemühte, dort ihren Mittelpunkt hatte.

Durch die straffe Organisation, welche die polnischen Gebietsteile auf preußischen Fuß stellte, hatten sämtliche Verhältnisse eine so grundstürzende Umwandlung erfahren, dass die Juden in den neuen Zuständen sich anfangs gar nicht zurecht zu finden vermochten. Gegen die staatlichen und wirtschaftlichen Mächte war nicht anzukämpfen, ihnen musste man sich ohne weiteres anzuschmiegen suchen. Dagegen war man mit aller Kraft bestrebt, die religiöse Observanz und die überkommene Sitte im altgewohnten Geleis, rein und unberührt von fremden und verdächtigen Einflüssen, zu erhalten. Das talmudische Schrifttum sollte auch ferner Ausgangsund Zielpunkt alles Lernens und Wissens bleiben, die religiösen Formen oder die als religiös angesehenen Lebensgewohnheiten sollten von ihrer rigorosen Strenge und Geltung nichts einbüßen. Dem Drängen und Mahnen der preußischen Regierung, durch Errichtung geeigneter Schulen für eine zeitgemäße Erziehung und Ausbildung der Jugend zu sorgen, wusste man bald durch Ausflüchte, bald durch Versprechungen auszuweichen. Auf die Dauer waren jene Einflüsse trotzdem nicht fern zu halten, Funken von dem Berliner Aufklärungsherd flogen nach der Provinz herüber und traten bald in einer Großgemeinde sichtbar zutage, und zwar in Posen, das über den talmudischen Ruhm und die altersgraue Frömmigkeit seines Ghettos stolz und eifersüchtig wachte.

In Posen wurde nämlich das Rabbinat erledigt, und man hatte im Jahre 1802 für dessen Besetzung den Bruder des verstorbenen Rabbiners, einen Stocktalmudisten alten Schlages aus dem fernen Tarnopol, Samuel ben Moses Pinchas Falkenfeld, Verfasser des Beth Schmuel Aharon in Aussicht genommen. Da wagten es einige jüngere Männer, allerdings unter fingierten Namen, bei der Regierung gegen die Wahl eines "rohen Polack" Protest einzulegen, für welchen die Menge "durch die kabbalistische Fabel" eingenommen werde, "dass nach einer angeblichen Genealogie dieser Podolier zu demjenigen Stamme gehöret, aus welchem der jüdische Erlöser zu erwarten sei u. dgl. m." Die Regierung berücksichtigte den Protest und beschied die Beschwerdeführer in einem ihnen günstigen Sinne. Wegen der fingierten Namen missglückte die Behändigung des Bescheides an die Urheber, derselbe verfehlte die eigentliche Adresse und fiel in die Hände des Vorstandes und der sogenannten Vizerabbiner, B'ne Jeschibah. "Sie versammelten sogleich alle sogenannten Gelehrten und talmudischen Studenten nach Art der ehemaligen Sanhedrin, zogen sämtliche Eltern und Schwiegereltern und Verwandte derjenigen Personen herbei, von denen eine andere Denkungsart zu präsumieren war, dann forderten sie einen jeden von uns im einzelnen vor, schlossen ihn in einen fürchterlichen Zirkel der rohen Studenten ein, und schrieen ihn unter Begleitung der schrecklichsten Flüche wie folgend an: Du teuflische Seele! die du dich dem Satan anvertraut hast. Deine Gestalt zeuget auf deine Abneigung gegen unsere Gebote; dein barbierter Bart, deine Tracht (deine jüdische Tracht trägst du nur zum Schein), alles beweiset, dass du Gottloser! ein Verräter der jüdischen Geheimnisse bei Christen bist. Du liesest die deutschen Bücher; du hast auf deiner Bodenkammer Landkarten versteckt, Zeitungen und andere christliche Schriften statt heiliger Talmudbücher, bekenne also deine Sünden, dass du Mit-Konzipient der verdammten Vorstellung warst! Befolge die Buße, die wir dir auferlegen werden, liefere uns deine unreinen Bücher sogleich aus; unterzeichne dich sofort auf dieser heiligen Rabbinerwahl oder sonst usw."
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Die heiß umstrittene Wahl jenes streng talmudischen, dabei milden Rabbiners wurde zwar durchgesetzt, aber der neue Geist war trotz aller Anstrengungen nicht mehr einzudämmen, drang zwar langsam, aber stetig vor, bis es 1816 glückte, eine höhere jüdische Privatschule in Posen zustande zu bringen. Wohlhabende und unabhängige Väter fanden vereinzelt den Mut, ihre Kinder den Gymnasien oder höheren christlichen Schulen zuzuführen, deren es übrigens damals in der Provinz nur sehr wenige gab. 1824 griff die Regierung ein und verordnete, dass in allen existenzfähigen Judengemeinden deutsche Elementarschulen eingerichtet werden.

Die Verhältnisse gestalteten sich nun eigentümlich dahin, dass man allgemeine Bildung, die Kenntnis deutscher, französischer und englischer Klassiker als einen Vorzug und Schmuck der Persönlichkeit zu schätzen begann und dennoch das heranwachsende Geschlecht über Lesen, Schreiben und Rechnen hinaus in der Aneignung derartiger Kenntnisse nicht förderte, dasselbe vielmehr auf die Beschäftigung mit dem rabbinischen und hebräischen Schrifttum zu beschränken wünschte, dass man ferner in den Großgemeinden, wie Posen und Lissa, den Zentren des Talmudstudiums, die jungen Leute, insonders die Talmudschüler, von der Erlernung profanen Wissens geradezu abzuschrecken suchte, während häufig in den kleinen Gemeinden diesem Bildungsstreben, soweit es möglich war, Vorschub geleistet wurde. So schwer und mühsam also gerade die besseren, die aufstrebenden Kräfte jener Generation in der Provinz sich durchzuringen hatten, um ihren Weg zu finden, so wurde doch dies wiederum durch den Vorteil aufgewogen, dass dadurch ihre geistige Energie und Selbständigkeit gestählt wurde, dass sie fast durchwegs von dem Geist des Talmuds durchtränkt, mit seinem Wesen innig vertraut waren, und dass sie, von Enthusiasmus für die rabbinischen Heroen erfüllt, die Begeisterung für die Ideen des Judentums in sich einsogen und durch das Leben trugen.

Das war der Boden, auf dem Heinrich Graetz heranwuchs; derartig waren die Verhältnisse und Faktoren, von denen der Bildungsgang eines Mannes bestimmt wurde, der dazu berufen war, ein Geschichtswerk zu schaffen, monumental und volkstümlich zugleich, welches Tausende von Jahren, die entlegensten Himmelsstriche, die verschiedenartigsten Kulturgebiete umspannt, welches die geschichtliche Entwickelung des Judentums wie eine magische, verblichene und unsichtbar gewordene Schrift mit allen Hilfsmitteln der Gelehrsamkeit und des Scharfsinnes in hellem, zauberhaftem Glanz wieder hervortreten läßt und durch den begeisterten Ausdruck seiner geschichtlichen Darlegungen zu einem Erbauungsbuch im besten Sinne des Wortes für seine Glaubensgenossen geworden ist.

 

2. Jugendzeit.

Heinrich Hirsch Graetz ist am 31. Oktober (21. Cheschwan) 1817 zu Xions geboren, einem armseligen Städtchen im Osten der Provinz Posen, das damals 775 Seelen zählte. Er war unter seinen Geschwistern, im ganzen zwei Brüder und eine Schwester, der Erstgeborene.

Von seinen Eltern hatte der Vater, Jakob Graetz, eine hochgewachsene Gestalt, sein Alter über 90 Jahre hinausgeführt, als er 1876 zu Posen starb, während seine Mutter, Vogel geb. Hirsch aus Wollstein, von kräftiger Mittelstatur mit leuchtenden grauen Augen, mit welcher der Sohn innerlich wie äußerlich große Ähnlichkeiten zeigte, schon 1848 zu Kosten, einem Städtchen in der Nähe Posens, aus dem Leben schied und ihre Jahre nur auf einige fünfzig gebracht hatte.

Sie ernährten sich kümmerlich, doch schlecht und recht von einem kleinen Fleischereibetrieb. In der Hoffnung, ihre Vermögenslage zu verbessern, verzogen sie einige Jahre später nach dem nur wenige Meilen entfernten Zerkow. Freilich zählte dieses Städtchen zu jener Zeit ebenfalls nicht mehr als 800 Einwohner, allein der Ort enthielt eine jüdische Gemeinde von 100 Seelen, wies eine merkliche Zunahme seiner Bevölkerung auf und schien ein Aufblühen zu verheißen. Auch die Gegend ist nicht so flach und reizlos, wie sonst meist in der Provinz, das Städtchen ist von Hügel und Fluß, von Wald und Wiese umkränzt.

Hier empfing der Knabe seine ersten Eindrücke, hier genoss er seinen ersten Unterricht in einer Schule, welche nur insoweit von einem richtigen "Cheder" sich unterschied, als man bereits begann, den bescheidenen Anforderungen der Regierung an eine jüdische Elementarschule sich anzupassen. Er lernte Lesen, Schreiben, Rechnen, das Übersetzen der Bibel und wurde auch, da man große Lernbegier und Begabung bei ihm wahrnahm, in die Kenntnis des Hebräischen und des Talmuds eingeführt.
Als er nach zurückgelegtem 13. Lebensjahr konfirmiert wurde, in welchem Alter man damals die Knaben einem selbständigen Lebensberuf zuzuführen pflegte, waren die Eltern keinen Augenblick zweifelhaft, dass ihr Sohn seine Ausbildung fortsetzen müsse. Da wäre es nun das Nächstliegende gewesen, Posen hiefür zu wählen, wo unter Leitung des hochangesehenen Oberrabbiners Akiba Eger eine vielbesuchte Talmudschule blühte.

Allein die Mittel der Eltern reichten zu seinem Unterhalt nicht aus, und der junge Graetz war zu scheu und zu stolz, um nach fahrender Schüler Art sich seinen Lebensbedarf erbitten und erbetteln zu können. Man hatte also keine andere Wahl, als ihn nach Wollstein zu schicken, wo seine Mutter Schwestern und Verwandte besaß, die zwar selbst über keine großen Schätze verfügten, sich aber doch ihres Schützlings annehmen würden.

Der Aufenthalt in Wollstein erwies sich für ihn als eine überaus günstige Fügung. Die Stadt selbst, im Westen der Provinz gelegen, entbehrte nicht des landschaftlichen Reizes, dem des Knaben empfängliches Gemüt sehr zugänglich war, sie enthielt überdies eine vorwiegend deutsche Bevölkerung von 2258 Seelen, darunter 841 Juden.
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Die also gar nicht unansehnliche, dabei wohlhabende jüdische Gemeinde hatte stets eine Ehre darin gesucht, eine gute Talmudschule zu unterhalten, und zeichnete sich derzeit dadurch aus, dass in ihr ein heller, freier Geist herrschte und sie das Bildungsstreben unter ihren Angehörigen eifrigst zu fördern beflissen war.

Der Rabbiner Samuel Samwel Munk war gegen Anfang des Jahrhunderts aus Bojanowo nach Wollstein berufen worden; von ihm ging die Sage, dass er deutsch zu lesen und zu schreiben verstünde, und dass er in den Stunden, die "nicht Tag und nicht Nacht" wären, deutsche Bücher und selbst Zeitungen zu lesen pflegte. Keinesfalls trat er seinen Schülern störend in den Weg, wenn sie ihre Sehnsucht nach profanem Wissen zu befriedigen suchten, ja sich gegenseitig hiezu anfeuerten, indem jeder dem anderen in jugendlich ungestümem Wetteifer den Vorrang abzulaufen trachtete.

Ende des Sommers 1831 langte Graetz in Wollstein an. Der junge "Bachur", der sich bereits an die Ausarbeitung eines kalendarischen Werkes, unter dem Titel "Jüdische und deutsche Zeitrechnung" in einem allerdings mangelhaften Hebräisch gewagt hatte,
3 besuchte die talmudischen Vorträge des Rabbiners mit großem Eifer und Erfolg, so dass der letztere ihm ein reges Wohlwollen zuwandte und große Stücke auf ihn hielt, ohne jedoch seine künftige Bedeutung zu ahnen.

Indes füllten die rabbinischen Studien seinen Geist nicht aus, ein unauslöschlicher Wissensdurst brach bei ihm durch, und er verschlang jedes Buch, das ihm in die Hände fiel. Das waren freilich zunächst Ritterromane, wie sie damals in Schwung waren, unter denen namentlich der heute vergessene "Raspo von Felseneck" einen tiefen Eindruck auf ihn machte. Von einem Gönner zurechtgewiesen und mit geeigneterer Lektüre versorgt, las er mit großem Wohlgefallen die erzählenden und moralischen Schriften von Campe und fiel zugleich über geschichtliche Bücher her, die ihn mächtig anzogen, studierte die kleine Weltgeschichte von Bredow, dann die große von Becker, und eine Lebensgeschichte Napoleons, wobei er kleinlaut sich gestehen musste, das Meiste nicht verstanden zu haben.

Bald begriff er die Notwendigkeit, sich die Kenntnis des Französischen und Lateinischen anzueignen. Ohne Lehrer, ohne Anleitung, ohne anderen Beirat, als den gleichgesinnter Genossen, nahm er sich die französische Grammatik von Meidinger und später die lateinische von Bröder vor, und lernte eben alles auswendig, was er darin vorfand. Er war überglücklich, als er die fremden Klassiker in ihrer eigenen Sprache zu lesen beginnen konnte. In seinem Lerneifer ließ er sich stets vom Zufall treiben; was dieser ihm in die Hand spielte, das ergriff er leidenschaftlich und sprungweise. Er stößt auf einen Euklid in irgend einer Übersetzung, sofort macht er sich ungestüm über denselben her, so schwer es ihm auch wird, einen klaren Einblick in den Begriff und die Methode der Geometrie zu erlangen. Ein polnischer Wanderrabbi, der einen von ihm verfassten Hiobkommentar
4 ausbietet, kommt nach Wollstein und findet dort Beifall und Ehrung; Grund genug für den eifrigen, dabei höchst ehrgeizigen Talmudschüler, monatelange für nichts anderes Interesse zu haben, als für Bibelexegese und hebräische Grammatik.

Ein feines lebhaftes Naturgefühl, dessen Empfänglichkeit er sich bis ins späteste Alter bewahrt hat, überkommt ihn und er bietet alles auf, um sich mit der heimischen Flora, wie mit dem gestirnten Himmel vertraut zu machen. Eine wunderbar schnelle Fassungsgabe, ein glückliches Gedächtnis und ein weltverlorener Fleiß, dazu eine eiserne Körperkonstitution mit unverwüstlicher Arbeitskraft, der es nichts schadete, dass er Essen, Trinken und Schlafen vergaß, um auf ein vorgestecktes Ziel loszugehen, führte ihn schließlich zum Erfolg.

Trotz seiner Bedürfnislosigkeit hatte er immer wieder mit Mangel und Not zu kämpfen; er war eine stolze, unabhängige und eigentlich auch unpraktische Natur, dem ein übertriebenes Ehrgefühl selbst zu einer berechtigten Bitte den Mund schloß, ja der es vorzog, seine Sorgen vor anderen zu verheimlichen und beispielsweise an manchem Sabbath, für welchen Tag man die Talmudschüler doch gerne reichlich versorgte, trockenes Brot zu essen und unbekümmert um Wind und Wetter mit einem Buche in der Tasche sich ins Freie hinauszuschleichen, um nur in seiner Hilflosigkeit nicht entdeckt zu werden, bis endlich der eine oder andere Freund doch dahinter kam und Wandel zu schaffen half. Er selbst, jederzeit sanguinisch gestimmt, suchte und fand in den Büchern seinen Trost.

Es ist geradezu erstaunlich, was Graetz alles in den 41/2 Jahren seines Wollsteiner Aufenthaltes zusammengelesen und zusammengelernt hat. Den meisten Fleiß verwandte er auf französische Sprache und Literatur, welche damals hoch im Kurse stand und der er mit großer Vorliebe oblag; mit den landläufigen Werken Voltaires, Rousseaus, Fenelons u.a., wie mit den Dramen von Racine und Viktor Hugo, hatte er sich völlig vertraut gemacht. Von deutschen Klassikern fesselte ihn neben Lessing, Mendelssohn, Schiller u.a. namentlich Wieland, mit dem er sich eifrigst beschäftigte; auffälligerweise ist in seinen Tagebüchern niemals von Goethe die Rede, als ob ihm dieser Geist, sei es durch Zufall oder aus anderen Gründen, fremd geblieben wäre, dagegen wurde er in der letzten Wollsteiner Zeit auf die Schriften von Börne, Heine und Saphir aufmerksam, von denen der in ihm schlummernde Hang zu Spott und Ironie geweckt wurde. Die schwerste Qual hatte er mit den lateinischen Schriftstellern, doch bewältigte er den Cornelius Nepos, den Curtius, von Ovids Metamorphosen und Virgils Äneide mehrere Bücher. dass er zugleich eine große Belesenheit im rabbinischen Schrifttum sich erwarb und auch das Talmudstudium nicht vernachlässigte, bezeugt die Auszeichnung, mit der ihn der Rabbiner Munk zu Neujahr 5595 (Oktober 1834) überraschte, indem er ihm den Chabertitel verlieh, mit welchem Titel in solchem Alter nur ganz begabte und würdige Talmudjünger ausgezeichnet wurden.

Nun aber geriet der junge Most ins Gären und begann die federweißen Flocken aufzutreiben. Ganz und gar Autodidakt, hatte er sich planlos und unmethodisch der Lektüre hingegeben, wie ihn gerade der Zufall oder die Laune trieb, und dadurch einen sehr reichen, aber ebenso buntscheckigen Wissensstoff in seinem Geist aufgespeichert; ein chaotisches Gemisch unvereinbarer, disparater Ideen und Meinungen wogte durch seinen Kopf und setzte sein ganzes Denken und Fühlen in stürmische Wallung. "Durch die verschiedenen, sich widersprechenden Meinungen, heidnische, jüdische und christliche, epikureische, kabbalistische, maimonidische und platonische, welche alle meinen Kopf verdreht" - so schreibt er November 1835 in seinem Tagebuch - "wurde mein Glaube so wankend gemacht, dass ich, wenn mich eine Idee von Gottheit, Ewigkeit, Zeit und dergl. anwandelte, mich in die tiefsten Abgründe der Unterwelt hinabwünschte". Obschon er mit seiner Stimmung und in seinen Gesinnungen ganz aus dem Gleichgewicht geraten war, so verlor er doch keineswegs den Halt; das Dasein Gottes und die Unsterblichkeit der Seele blieben die unerschütterlichen Pole seiner Empfindungswelt, an denen er sich festhielt. "Wie Furien" - heißt es bald darauf weiter - "rissen solche Gedanken dann an meinem Innern, wenn sie, wie oft geschah, sowohl durch meine Dürftigkeit, als durch dergleichen Lektüre auf diese Untersuchung gebracht worden sind. Nur der heitere sternbesäte Himmel, an welchem Sonnabends nach Sonnenuntergang mein Auge mit Entzücken hing, frischte das beseligende und erwärmende Gefühl auf: - Ja, es ist ein Gott dort über dem Sternenzelte!" Dagegen wurden ihm die alltäglichen Religionsübungen des Judentums, die er bis dahin mit skrupulöser Gewissenhaftigkeit respektiert hatte, wie er von frühester Jugend dazu angehalten worden, immer mehr verleidet; obschon er sie auch ferner nicht vernachlässigte, so stieß ihn doch die Menge der Observanzen ab, und noch mehr die kleinliche, geistesarme und formlose Art und Weise, mit der er sie in allen seinen Kreisen gewohnheitsmäßig geübt sah. Weil er all dies auf den Talmud zurückführte, warf er einen Groll auf denselben, und seine Abneigung nahm noch mehr zu, wenn er in seinem Geiste Stil und Methode der ihm bekannt gewordenen vorzüglichen Literaturwerke dagegen hielt und Vergleichungen anstellte, welche nicht zum Vorteil des rabbinischen Schriftwerkes ausfielen. Dazu kam noch ein anderes: Bisher hatte er gedankenlos in den Tag hineingelebt oder vielmehr hineinstudiert; nun mag ihm wohl von seinen Eltern und Verwandten die Notwendigkeit nahe gelegt worden sein, an einen Lebensberuf zu denken oder ein Brotstudium zu wählen. Einer so berechtigten Forderung konnte er sich zumal in seiner damaligen Gemütsverfassung gar nicht verschließen, und brütend sann er oft über die Frage nach: was nun? und faßte und verwarf die seltsamsten Pläne. Da trat ein scheinbar geringfügiges Ereignis ein, welches jedoch den heftigen Sturm in seinem Innern beschwichtigte, das zwischen bedenklichen Klippen auf- und niederschwankende Schifflein seines Geistes flott machte und in günstiges Fahrwasser trieb; es war dies die Wirkung eines Büchelchens, das unter dem Titel " " "Neunzehn Briefe über Judentum, herausgegeben von Ben Usiel" eben damals erschienen war.
Auf religiösem Gebiet hatten bislang die Männer der Reformpartei, welche die religiösen Gepflogenheiten und die herkömmlichen Satzungen des traditionellen Judentums als mit dem modernen Leben unvereinbar umgestalten und beseitigen wollten, das literarische Feld beherrscht, das nachwachsende Geschlecht immer stärker zu sich herübergezogen und waren in ihrem Bestreben, die religiösen Besonderheiten möglichst zu verwischen, immer kühner und stürmischer vorgegangen. Dagegen hatte ursprünglich die Gegenpartei, welche den alten Glauben und Brauch der Väter unversehrt erhalten wollte, an die veränderten Zeitverhältnisse jedes Zugeständnis verweigert, ja nicht einmal dafür gesorgt, sich mit modernen Waffen für die Abwehr zu versehen, und als die Bewegung immer drohender anschwoll, stand sie ratlos und unbeholfen da; weltfremd auf dem Gesellschaftsboden des Ghettos ruhend, eingesponnen in den talmudischen Gedankenkreis, erwies sie sich außerstande, dem Gegner einen wirkungsvollen Wortführer oder einen Regenerator entgegenzustellen. Was sie so lange schmerzlich vermißte, das schien nun mit einem Male in einem jungen Theologen erstanden zu sein. Samson Raphael Hirsch, Rabbiner zu Oldenburg, war in der genannten Schrift "Neunzehn Briefe" gewandt, beredt und tapfer für die volle Geltung sämtlicher Religionsgesetze eingetreten und verhieß, die alten Religionsformen mit neuem Geist zu beleben. Schon durch die Kühnheit, einen solchen Standpunkt mit allen seinen Konsequenzen unumwunden zu vertreten, wirkte diese Schrift in jüdischen Kreisen geradezu als ein sensationelles Ereignis; in Graetz' nach einem Halt suchendes Gemüt fiel sie wie ein Lichtstrahl, um ihn die Spur erkennen zu lassen, der folgend er seine Ideale finden sollte. Er selbst berichtet: "Oft sprach ich mit B. B. davon (nämlich von religiösen Zweifeln), denn nur vor diesem konnte ich über solche Dinge meine Meinung äußern. Dann brachte er vor, wie sehr eine Reform bei dem allmählichen Verfall der Religion notwendig sei. Ich wußte aber, dass eine Reform, das heißt Auslassung einiger mit dem Ganzen verflochtener Gesetze, das ganze Gesetz aufheben würde. Wie angenehm mußte mir also ein neues Buch sein, "Neunzehn Briefe über das Judentum, anonym," worin ich eine noch nie gehörte oder geahnte Idee des Judentums mit überzeugenden Argumenten fand, wie dieses die beste Religion und zum Heile der Menschen notwendig ist. Mit gierigen Blicken sog ich die Sätze darin ein, und so abtrünnig ich dem Talmud vorher gewesen, so söhnte dieses Buch mich mit ihm aus, und ich kehrte zu ihm wie zu einer untreu gehaltenen, aber treu gefundenen Geliebten zurück, nahm mir vor, ihn womöglich zu ergründen, ihn philosophisch zu lernen und, da mir viele weiß machten, ich könne ein sogenannter studierter Rabbiner werden, dessen Wahrheit und Nützlichkeit allen zu zeigen. Sogleich setzte ich mich daran, fing den ersten Folianten an - und das erste Buch Moses, mit großem Vergnügen über jedes nachdenkend, nicht wie über Altertumsmonumente, sondern wie über ein göttliches, dem Menschen Heil bringendes Buch. Dazu kamen mir die wenigen Kenntnisse, die ich hier gesammelt, - worunter auch die Theologie, die ich jetzt erst als eine Kenntnis beachtete, Geometrie, da ich von Euklides beinahe die ersten drei Bücher gelernt, und Geschichte - gut zu statten."
Damit war aber in Wollstein seines Bleibens nicht mehr, denn der Ort hatte ihm nichts mehr zu bieten. Der Domizilwechsel eines Oheims, mit dem er seine beste Stütze verlor, die übliche Schwärmerei einer phantastischen Jugendliebelei, der die ernüchternde Enttäuschung gefolgt war, Konflikte mit Studiengenossen und Gönnern, welche von seinem disharmonischen Seelenzustand wohl mitverschuldet und durch Zuträgereien verschärft worden, erleichterten ihm den Entschluß, von dem Städtchen, das ihm wie eine zweite Heimat ans Herz gewachsen war, sich zu trennen. Doch wohin sich wenden, um das zu finden, was seine Seele suchte? Er verfiel auf Prag, das derzeitige Mekka der jungen jüdischen Theologen, "eine Stadt, durch Gelehrsamkeit, Gastfreiheit und andere Vorzüge so sehr berühmt".

3. Lehrjahre.

So verließ denn Graetz im April 1836 Wollstein und wandte sich zunächst nach Zerkow, um die Eltern von seinem Vorhaben zu unterrichten und mit ihnen das Weitere zu beraten. Empfehlungsbriefe an Prager Familien wurden herbeigeschafft, Eltern und Verwandte schossen eine kleine Summe zusammen, Graetz besorgte seinen Paß, schnürte im vollen Sinne des Wortes sein Ränzchen und machte sich wohlgemut auf den Weg. Teils zu Fuß, teils billige Fahrgelegenheit benutzend, nahm er die Straße über Breslau, schritt fürbaß durch das schlesische Gebirge und gelangte unweit Reinerz an die österreichische Grenze. Hier aber trat ihm wie ein Cherub mit feurigem Schwert der Grenzbeamte entgegen und wehrte ihm den Eintritt nach Österreich, weil er zwar einen Paß, aber keine 10 flor. (= 20 Mark) in bar vorzeigen konnte; über den Barbesitz einer solchen Summe mußte man nämlich sich ausweisen, wenn man, ohne die Post zu benutzen, Einlaß in die Lande des kaiserlichen Doppeladlers erhalten wollte. Der junge Wandersmann verlegte sich bestürzt aufs Parlamentieren und berief sich auf seine Empfehlungsschreiben; vergebens, die Grenzwacht ließ sich auf keinen Kompromiß ein. Da Graetz, stolz und unbeugsam wie er war, zu Bitten oder Stillschweigen sich nicht verstehen mochte, machte er trotzig kehrt und ging desselben Weges und in derselben Weise, wie er gekommen war, kleinlaut wieder zurück gen Zerkow in das väterliche Haus, wo seine Eltern nicht wenig über seine Heimkehr erstaunt, aber doch zugleich erfreut waren, ihren Sohn wieder einige Zeit bei sich sehen zu können.
Das kleine Abenteuer darf als charakteristisch für das wunderliche Mißgeschick gelten, von dem Graetz im praktischen Leben, zumal am Anfang seiner Laufbahn oft empfindlich genug betroffen wurde, ohne dass er jedoch dadurch an seinem Stern je irre wurde. Seine initiative und temperamentvolle Natur verstand es wohl, mit schnellem Scharfblick die leitenden Gesichtspunkte und richtigen Ziele herauszufinden, aber es will oft scheinen, als wenn sein Geist zu weitsichtig und ungestüm gewesen, um die kleinen Mittel und Hebel zur Erreichung seiner Absichten stets gebührend zu würdigen. Vorläufig suchte er Vergessenheit für die verunglückte Reise in seinen Studien. Er vertiefte sich jetzt in das Lateinische, las den Livius, Cicero's de natura deorum, welches Buch ihm gewaltig imponierte, Virgils Äneide und Terenz' Komödien, beschäftigte sich viel mit Schrökhs Universalhistorie und mit seinem Wieland, dessen "Sympathien", "goldener Spiegel" u.a. ihn "ungemein ergötzten, erheiterten und beseligten"; nicht minder eifrige Sorgfalt widmete er dem Talmud, wie dem Hebräischen und war besonders emsig über die Exegese der "ersten Propheten" her. Sein unruhiges Gemüt, einerseits durch die Ratlosigkeit im Hinblick auf die Zukunft herabgestimmt und anderseits durch die kleinstädtische und enggeistige Umgebung zum Spott herausgefordert, entlud sich in allerlei übermütigen Streichen, wie solche im genialen Drang junger Jahre durchzubrechen pflegen. Er verspottete den Rabbiner, hänselte den Vorstand, bereitete dem Bürgermeister Verdruß, wußte aber stets heil davon zu kommen und erschreckte sogar die Eltern durch Anwandlung religiösen Freimuts. In den östlichen Gegenden ist es nämlich am Abend vor dem Rüsttag des Versöhnungstages Brauch, dass ein Mann einen lebendigen Hahn und eine Frau eine lebendige Henne mehrere Male sich um das Haupt schwingt und in einem kurzen Gebet die Strafe für die Sündenschuld möglichst auf den unglücklichen Vogel zu übertragen wünscht. Graetz hatte kurz vorher erklärt, sich diesem "Kappores"- Brauch schlechterdings nicht fügen zu wollen, man nahm indes seine Äußerung für eitel Ruhmredigkeit. Als jedoch die Abendstunde herankam und man lange vergebens mit dem komisch feierlichen Akt auf das Erscheinen des ältesten Sohnes gewartet hatte, zürnte der Vater und drohte, er werde seinem ketzerischen Kinde alle Bücher, die nicht hebräisch wären, verbrennen; die Mutter aber machte sich auf, um den verirrten Sohn überall zu suchen; sie fand ihn schließlich, liebevoll folgte er ihr nach Hause, doch zu irgend welcher Manipulation mit dem Hahn war er durchaus nicht zu bewegen, so dass derselbe ohne Schwung und ohne Verwünschung zum Schlächter wandern mußte, und erst am folgenden Tage eine rührende Versöhnung mit den Eltern stattfand. Nach dem Feste wurde Graetz von einem befreundeten Buchhändler aus Wollstein, der ihm gewöhnlich die neuen Erscheinungen des jüdischen Büchermarktes zusandte, mit den "Neunzehn Briefen des Ben Usiel" beschenkt, deren Besitz er gewünscht hatte. Die Schrift elektrisierte ihn aufs neue und gab ihm den Gedanken ein, sich dem Verfasser, der ihm inzwischen bekannt geworden war, als Schüler anzubieten.
Samson Raphael Hirsch erschien ihm nämlich als das Ideal eines jüdischen Theologen der Gegenwart und als der vertrauenswürdige Lehrer, nach dem er sich gesehnt, um von ihm irgendwelche Anleitung oder gar Aufschluß über die mannigfachen, seinen Geist beschäftigenden Fragen zu erhalten. In diesem Sinne schrieb Graetz an den Landrabbiner zu Oldenburg, wobei er aus seiner Gesinnung kein Hehl machte, sondern klar und aufrichtig seine Gemütslage und seinen Bildungsgang darlegte. Dieser Schritt hatte Erfolg.
[Einleitung: Biographie des Dr. H. Graetz, S. 19 ff.Digitale Bibliothek Band 44: Heinrich Graetz: Geschichte der Juden, S. 83 (vgl. GesJud Bd. 1, S. 11 ff.)]
 

 Am 1. Februar 1837 erfolgte die förmliche Einladung von Hirsch, nach Oldenburg zu kommen, Kost und Wohnung biete er ihm in seinem eigenen Hause an, für die weiteren Bedürfnisse müßten die Eltern sorgen, nach dem Passahfeste (im Mai) erwarte er sein Eintreffen. Schon anfangs April trat Graetz die Reise an, weil er unterwegs Verwandte besuchen, auch in Berlin und Leipzig sich einige Zeit umsehen wollte.
In Berlin macht das Museum und die Gemäldegallerie einen tiefen Eindruck auf ihn. Dort lernt er den Prediger Salomon Pleßner kennen, von dem er, ein merkwürdig scharfer Beobachter, folgende zutreffende Charakteristik sich aufzeichnet: "Auch diesen rühmlichst bekannten Mann besuchte ich und fand einnehmende, Scharfsinn versprechende Züge, aber vernachlässigtes Äußere und nachlässige, ungrammatische, ja mauschelnde Sprache; und dieses wundert mich, da seine Sprache in den Predigten doch recht gediegen und gewählt ist. Er ist ungefähr in den Vierzigen, trägt einen Bart und scheint so recht und echt religiös zu sein. Aber sein Tun ist wilder Art, er spricht alles rasch aufeinander, immer hin und her laufend, die Bücher räumend, und zerstreut."
In Leipzig besuchte er seinen Landsmann Dr. Fürst und berichtet:
"Ein kleiner Mann, dessen Gesicht mir von der Kindheit noch bekannt war, kam mir entgegen. Ich überreichte ihm den von seiner Mutter mir gegebenen Brief, worauf er gleichgültig erwiderte: Ich werde nächstens schreiben. Als ich ihm aber das Ziel und die Veranlassung meiner Reise sagte, dann ihm die Briefe von Hirsch zeigte, ward er anderen Sinnes und sprach ganz freundlich mit mir. Endlich als er einsah, ich sei kein Ignorant, vertraute er mir mehreres und erzählte mir von seinen wissenschaftlichen Adversairen, brüstete sich, er sei auch Gesenius' Lehrer gewesen, dass er nun mit Ewald versöhnt sei, dass ihm die größten Gelehrten Briefe schreiben usw ... Ich sprach immer vertrauter mit ihm, und jetzt schieden wir als Freunde, indem er mich wieder zu sich lud, wenn ich anders über da bleiben sollte ... Sollte ich nicht bleiben, so müßte ich ihm versprechen, mit ihm künftig Briefe zu wechseln. Es freute mich besonders, dass Fürst sich nicht taufen lassen und für das Judentum wirken will ... Streben fürs Judentum meint er, sei die erste Bedingnis jedes studierenden Juden, das heißt ihm: streng wissenschaftliches, wohl auch - philologisches Studium." Um die Zeit während der Reise nicht ganz zu vergeuden, begann Graetz unterwegs Griechisch zu lernen und benutzte die griechischen Konjugationen dazu, um sich die öden Stunden und die Ungelegenheiten, welche bei dem weiten Weg und seinen knappen Mitteln nicht ausbleiben konnten, und den Kleinmut, welcher ihn infolgedessen öfters befiel, möglichst zu vertreiben.
In einem elenden Örtchen, wo er des Sabbaths wegen gezwungen ist, einen ganzen Tag Rast zu machen, findet er ein neues Testament vor und liest es zum ersten Mal. Der erste Eindruck dieser Lektüre wird folgenderweise von ihm geschildert: "Trotz der vielen Seltsamkeiten und Widersprüche sprach mich die Sanftmut in Christi Charakter an, aber es stieß mich zugleich ab, so dass ich recht konfus wurde."
Am 8. Mai trifft er endlich in Oldenburg ein, wo sich eine neue Welt vor ihm auftut.
Hier trat ihm in Samson Raphael Hirsch eine Persönlichkeit entgegen, zu deren geistiger Überlegenheit und sittlicher Hoheit er mit unbedingter Verehrung aufblickt, die all den Erwartungen, mit denen er hergekommen war, auch wirklich entspricht. Hirsch war ein moderner Mensch mit guten, ja vornehmen Formen, obschon er sich jedem geselligen Umgang entzog; zwar klein von Statur, imponierte seine äußere Erscheinung durch gemessene, würdevolle, die Vertraulichkeit ablehnende Haltung. Mit großen Geistesgaben und seltenen Herzenseigenschaften verband er nicht nur ein reiches theologisches Wissen, sondern auch eine vorzügliche klassische Bildung. Weitausblickende oder tiefe Ideen standen ihm nicht gerade zur Verfügung, aber er sprühte von originellen Bemerkungen und anregenden Einfällen, welche seinen neuen Schüler in helle Begeisterung versetzten. Er war der einzige wirkliche Lehrer, von dem Graetz' autodidaktische Natur wissenschaftliche Impulse empfing, ja vielleicht der einzige Mann, der auf diesen spröden und selbständigen Charakter eine nachhaltige Einwirkung geübt, insoweit die starke Eigenart seines Wesens es eben zuließ.
Bei seinem Eintreffen in Oldenburg wurde der Ankömmling von Hirsch sehr wohlwollend empfangen und sogleich in dessen Haus installiert, wo er fortab Wohnung und Verpflegung erhält. Gleich am anderen Tage wird mit dem Unterricht begonnen, sie beschäftigen sich des Vormittags mit dem Talmud, am späten Nachmittag mit den Psalmen, und der Jünger fühlt sich von dem Geist und der durchdringenden Methode, mit der die Exegese dieser Schriftwerke behandelt wird, wunderbar angezogen und angeregt, geradezu gehoben. Es kommt nun Plan und Ordnung und Zusammenhang in seine Kenntnisse. Hirsch nimmt sich seines Schützlings wahrhaft väterlich an, er bemüht sich, seinen Geist zu disziplinieren, seine sittliche und religiöse Kraft zu festigen; dabei hütet er sich, als wenn ihm jetzt schon eine Ahnung von der ungewöhnlichen Kraft und Begabung dieses nach Wissen und Belehrung lechzenden Jünglings aufgegangen wäre, ihn von oben herab zu schulmeistern, er behandelt ihn stets als einen bei allem Abstand doch ebenbürtigen Jünger. Mag auch die Wirkung der Jahre dazu beigetragen haben, Graetz reifte sichtlich unter der Leitung dieses Meisters, der an ihm seinen ersten Schüler gefunden.
Die Verwendung, die er im Hause seines Lehrers fand, war hauptsächlich das Amt eines Famulus. Er begleitet den Landrabbiner auf seinen Inspektionsreisen, wobei sie sich die Stunden unterwegs mit Erörterungen über talmudische und biblische Gegenstände verkürzen. Er sieht mit ihm die letzten Abschnitte des "Horeb" durch, hilft ihm bei diesem Buch die Korrektur der letzten Bogen besorgen, von dem der Jünger ganz entzückt und ergriffen wird, u. dgl. m.
Welch vorteilhafte Meinung muß der rigorose Landrabbiner von seinem Famulus gefaßt haben, wenn er, zur Herstellung seiner geschwächten Gesundheit ein Bad aufsuchend, demselben die Befugnis erteilt, während seiner Abwesenheit in religionsgesetzlichen Fragen () zu entscheiden! Unser Famulus verfährt auch dabei so gewissenhaft, dass die übernommene Verantwortlichkeit ihn drückt, und er gesteht, wie er sich das Treffen korrekter Entscheidung viel leichter vorgestellt habe. Seine Stimmung lodert fast schwärmerisch auf, als ihm von Hirsch ein überaus liebevolles Schreiben zukommt. Diese enthusiastische Anhänglichkeit an den Meister erlischt keineswegs durch den täglichen und vertrauten Verkehr mit ihm, trotz der kritisch veranlagten, dabei sanguinischen Gemütsart des Jüngers auch alsdann nicht, da er nicht mehr in Zweifel sein kann, dass es seinem Ideal an historischer Vertiefung, an wissenschaftlichem oder vielmehr philologischem Blick gebricht.
Graetz hatte überhaupt für Freundschaft starken Trieb und schwungvolle Empfindung. Wie er jederzeit gerne an allen Ereignissen um ihn her lebhaften Anteil nahm, so liebte er es schon damals, was später vielen seiner Schüler zum Heil wurde, in die Vorkommnisse des Tages tätig einzugreifen, sobald er glaubte, sich seinen Freunden nützlich erweisen zu können und für ihr Wohl eine Art Vorsehung zu spielen. Als daher im Januar 1838 aus der Heimat, mit der er natürlich einen regen Briefwechsel unterhielt, die verspätete Kunde bei ihm eingeht, dass der Oberrabbiner Akiba Eger in Posen verstorben war, schreibt er ohne irgend welchen Auftrag, nur weil er von der Sehnsucht seines Gönners nach einem größeren Wirkungskreis Kenntnis hat, an den Posener Vorstand, um die Aufmerksamkeit desselben auf Hirsch zu lenken, und er jubelt in heller Freude darüber auf, dass der Vorstand von Posen bald darauf in eine gewisse Beziehung zu Hirsch tritt; ja es hatte sich dort sogar eine Partei zugunsten des Oldenburger Landrabbiners gebildet, ohne indes ein greifbares Resultat
[Einleitung: Biographie des Dr. H. Graetz, S. 25 ff.Digitale Bibliothek Band 44: Heinrich Graetz: Geschichte der Juden, S. 89 (vgl. GesJud Bd. 1, S. 14 ff.)]
 

zu erzielen. Dasselbe Spiel wiederholte sich, als 1840 das Wollsteiner Rabbinat sich erledigte, nur dass Hirsch die Begeisterung seines Jüngers für Wollstein zu dessen großem Leidwesen nicht teilen mochte.
Man sieht hieraus, dass Graetz sich niemals weltscheu in Bücher vergraben hatte; wie überall, so suchte er auch in Oldenburg Bekanntschaften anzuknüpfen, freundschaftlichen Verkehr zu pflegen, und sein heiterer Sinn gab sich mit einem gewissen Behagen der harmlosen Fröhlichkeit geselliger Freuden und Anregungen hin. Dabei vernachlässigte er weder seine Pflichten, noch seine Studien. Er erlernte daselbst das Englische und hatte, da er in der Bibliothek des Landrabbiners syrische Bücher vorfand, auch Syrisch zu studieren angefangen; das erstere scheint Hirsch gefördert zu haben, nicht aber das letztere. Hirsch begegnete seinem Jünger jederzeit mit ununterbrochen gleichmäßiger Freundlichkeit und erwidert dessen enthusiastische, teilnehmende Gefühle mit väterlichem Wohlwollen. Wie ein Familienglied wurde Graetz in seinem Hause gehalten und als solches auch von sämtlichen Angehörigen behandelt.
In so angeregter Weise flossen Graetz drei Jahre in der Umgebung seines Lehrers hin. Allmählich jedoch, zumal im vierten Jahre klingen allerlei kleine Differenzen mit der Frau des Hauses durch, wie solche bei so enger und langjähriger Hausgenossenschaft nicht auszubleiben pflegen und dazu beitragen, die gegenseitige Intimität bald ebben, bald fluten zu machen. Für Graetz reichen sie bei seinem stolzen Unabhängigkeitsgefühl schließlich hin, um den ruhigen Spiegel seines an die Gegenwart hingegebenen Gemütes zu trüben. Die Sorge um die Zukunft steigt beunruhigend vor ihm auf. Der Drang ein bestimmtes Lebensziel endlich zu ergreifen, die Sehnsucht nach seinen Eltern, welche indessen von Zerkow nach einem etwas größeren Städtchen, Kosten, übergesiedelt waren, all dies vereinigt sich, um ihm die Trennung von Oldenburg ratsam erscheinen zu lassen. Nach offener und friedlicher Aussprache mit seinem Lehrer entschließt er sich, die Heimreise anzutreten.

4. Aufstieg und Absturz.

Der Abschied aus dem Hirschschen Hause erfolgte unter rührender Herzlichkeit, und nach mehr als dreijähriger Abwesenheit wendet sich Graetz wieder der Heimat zu, nach Kosten, wo er um die Mitte August 1840 eintrifft. Von der jüngeren Generation wird er allenthalben als Schüler von Hirsch freudig begrüßt und veranlaßt, in Wollstein, Kosten und Zerkow zu predigen. Seine Predigten schlagen zwar nicht durch, aber sie bekunden hinlänglich, dass in dem Prediger ein eigener Fonds von Wissen und Geist sich birgt; seine sämtlichen Freunde kommen also darin überein, dass es sich für ihn empfehle, zu "studieren", d.h. die Universität zu absolvieren und sich den Doktorhut zu holen. Sie weisen darauf hin, dass wenigstens die kleineren Gemeinden in der Provinz, wie Wreschen, Wollstein, Kosten, mit der Anstellung, "studierter Rabbiner" teilweise vorgegangen, teilweise vorzugehen entschlossen sind. Um einige Mittel für die Universitätszeit sich zu beschaffen, versteht er sich zur Übernahme eines Hofmeisterpostens in Ostrowo, den er gegen Ende 1840 antritt.
In Ostrowo, einer kleinen Stadt im Südosten der Provinz mit einer großen jüdischen Gemeinde, welche noch tief in den alten, wenig anmutenden Lebensformen des Ghetto steckte, fühlte er sich überaus unbehaglich. Seine Position innerhalb des Hauses sagte ihm nicht zu, außerhalb fand er aber niemanden, dem er sich freundschaftlich anschließen mochte. Um Ersparnisse zu machen, hatte er sich der übrigens nicht allzu anstrengenden Hofmeisterei unterzogen; hierzu fehlte es ihm an finanziellem, wie an haushälterischem Geschick. Ja, seine verwandtschaftliche Hingebung, seine Gutmütigkeit und Unbedachtheit verwickelten ihn in so arge, Geldverlegenheiten, dass die Monologe seines Tagebuches von pessimistischer Schwermut überströmen und selbst das Gottvertrauen, das sonst durch diese Blätter innig und hoffnungsvoll haucht, zu erlahmen scheint. Trost suchte er in vielfachen, kleinen Ausflügen nach den Nachbarstädten, in der Abfassung einer hebräischen Biographie der Mischnahlehrer unter dem Titel 5 und, wie es scheint, in der Lektüre der - Kirchenväter. Bei einem derartigen Ausflug anläßlich der Verlobung eines Jugendfreundes fiel sein Auge auf die Schwester der Braut, ein blutjunges Mädchen, welches sein Wohlgefallen erregte und dazu bestimmt war, auf sein Leben einstmals einen heilsamen, entscheidenden Einfluß zu gewinnen; in seiner Verstimmung hatte ihn der Eindruck wohltuend berührt, ohne dass er dermalen an irgend welche weitere Konsequenzen dachte. Gegen 11/2 Jahre, bis zum Juli 1842, verblieb er in Ostrowo auf seinem Posten, bis ein läppischer Zwischenfall das wenig erquickliche Verhältnis in nicht ganz freundlicher Weise löste.
Nun aber gings nach Breslau zur Universität zu deren Besuch Graetz, da er keine Maturitätsprüfung abgelegt hatte, die ministerielle Erlaubnis nachsuchte und erhielt. Im Oktober 1842 erfolgte seine Immatrikulation, und mit ehrerbietiger Scheu und Spannung betrat er, der Autodidakt, die mysteriösen Hörsäle der strengen Wissenschaft, um sie kopfschüttelnd über die vernommene Weisheit meist enttäuscht und unbefriedigt zu verlassen. Es war ein so reicher und vielseitiger Wissensstoff, über den er schon damals verfügte, als er die Universität bezog, wie dies sonst naturgemäß nicht der Fall zu sein pflegt; und dieses Wissen war zwar nicht schulgemäß hergerichtet und abgerundet, trotzdem aber in sich geschlossen und kristallisierte bereits um einen festen Mittelpunkt. In der Tat hatte er seine eigentlichen Lehrjahre schon hinter sich; auch seine Gereiftheit in Anschauung und Urteil läßt sich nicht verkennen. Die verschiedenartigsten Vorlesungen, geschichtliche, philosophische, orientalische, selbst physikalische wurden von ihm während seiner Universitätszeit besucht, ohne dass tiefere Spuren wahrzunehmen sind, welche sie in seinem Geiste zurückgelassen. Selbst der Professor Bernstein, ein Orientalist von ansehnlichem Ruf, der ihn zu engerem Verkehr heranzog, verstand es nicht, in seinem Schüler den ihm sonst eigenen ungestümen Eifer für ein umfassendes Studium des Syrischen und Arabischen zu entfachen; er selbst scheint nicht mehr die Absicht gehabt zu haben, es auch in diesen Fächern zu irgend welcher Meisterschaft zu bringen. Nur der seiner Zeit geschätzte Philosoph, Professor Braniß, dem er ebenfalls näher trat, mag ihm allenfalls die Bekanntschaft mit der Hegelschen Philosophie vermittelt und das Bewußtsein eingeflößt haben, dass auch in der Welt der Freiheit alle Entwicklung mit absoluter Gesetzmäßigkeit, natürlich idealer Natur, sich vollzieht, dass daher die geistigen Kräfte, welche durch Verwirklichung einer immer höheren Idee die Geschichte der Menschheit erzeugen, wohl ihren immanenten Gesetzen folgen, zugleich aber dabei dem Kausalnexus sich unbedingt fügen, und dass bei der Betrachtung geschichtlicher Erscheinungen das Prinzip von Satz und Gegensatz (Thesis - Antithesis - Synthesis) sich besonders förderlich erweist.
So sehr Graetz in seine Studien sich vertiefte, er verfehlte nicht, den Vorgängen in der Breslauer Gemeinde seine volle Aufmerksamkeit zuzuwenden. Was zu jenen Tagen im Schoß der Breslauer Judenschaft vorging, hatte freilich kein bloß lokales Interesse, sondern warf seine Schatten oder seine Strahlen
[Einleitung: Biographie des Dr. H. Graetz, S. 31 ff.Digitale Bibliothek Band 44: Heinrich Graetz: Geschichte der Juden, S. 95 (vgl. GesJud Bd. 1, S. 18 ff.)]
 

weit über Schlesien hinaus und hatte sämtliche jüdische Kreise Deutschlands mächtig ergriffen und erregt. Dort war das orthodoxe und das reformatorische Prinzip zum ersten Male in ganzer Wucht im Kampf ums Dasein zusammengestoßen; heftig und wild tobte Streit und Sturm zwischen der alten und neuen Partei, da die Orthodoxie, blind gegen die Zeitverhältnisse, jegliches Ausgleichsanerbieten starrköpfig mit einem Non possumus beantwortete. Die Vertreter beider Parteien, der altgläubige Salomo Tiktin einerseits und der fortschrittliche Abraham Geiger anderseits, suchten mit rücksichtsloser Schärfe einander niederzuringen. Geiger siegte, und selbst die hierdurch herbeigeführte Sprengung der Gemeinde tat seinem Siege keinen Abbruch.
Dr. Abraham Geiger, dessen erstes Auftreten auf dem rabbinischen Schauplatz sofort Sturm ankündigte, der den anscheinend ruhig, aber unaufhaltsam sich vollziehenden Prozeß der neuzeitlichen religiösen Entwicklung in seinen Tiefen heftig aufwühlte, gehörte zu den hervorragendsten Rabbinen seiner Zeit. Rednerisch wie schriftstellerisch handhabte er das populäre Wort mit wahrer Meisterschaft; dieser Meisterschaft war es mehr eigen, das Wort in die Breite ausströmen zu lassen, als es in präzisem, schlagendem Ausdruck zusammenzuziehen. Einer der besten Kanzelredner des Judentums, verstand er es, durch schlichte Art und geistvolle Wendungen zu fesseln und anzuregen; die wenigen von ihm veröffentlichten Predigten geben nicht annähernd eine Vorstellung von der Macht, mit der sein lebendiges Wort wirkte, wiewohl dasselbe keineswegs durch die äußeren Mittel seiner Persönlichkeit besonders gehoben oder gar getragen wurde. Auch als Gelehrter hat er für die jüdische Wissenschaft Vorzügliches und Bleibendes geleistet, namentlich hat er sich um die literarhistorische Forschung, die er meisterhaft beherrschte, hochverdient gemacht; hingegen lassen die ersten Arbeiten, zumal aus der ersten Breslauer Zeit, zuweilen die volle Durchbildung des Verfassers vermissen, der es überdies liebte, auch in seinen gelehrten Arbeiten stets die reformatorische Tendenz hervorzukehren. Trotz seiner wissenschaftlichen Bedeutung fehlte ihm die Tiefe des geschichtlichen Blickes. Trotz seiner Verdienste um den modernen Gottesdienst war sein Empfinden für die Bedürfnisse und Regungen der Volksseele nicht fein und intensiv genug. Er war im Grunde ein doktrinärer Rationalist. Auch sein religiöses Programm und Ziel trat nicht klar und bestimmt hervor, zumal er gegen die radikalen Strömungen, deren Sturzwellen damals über das Judentum destruktiv hinwegrollten, eine mehr als wohlwollende Neutralität beobachtete; man gewinnt unwillkürlich den Eindruck, als ob er auf einen ethischen Deismus lossteuern wollte und nur aus Opportunitätsgründen sich von einem offenen Bekenntnis zurückhalten ließ.
Daran vor allem nahm Graetz schweren Anstoß, allmählich bildete sich bei ihm eine völlige Abneigung gegen Geiger aus! Mancherlei Scheinwerk und Flitter war bei den vielfachen Organisationen, welche Geiger in tastenden Versuchen hervorzurufen sich bemühte, wohl mitunterlaufen, vielleicht gar nicht zu vermeiden; möglich auch, dass der üble Eindruck noch durch eine Art von Selbstgefälligkeit, durch den Trieb, überall zu kleinmeistern, eine menschlich verzeihliche Schwäche, wovon Geiger nicht ganz frei war, verschärft worden. Gegen Scheinwesen und Schaumschlägerei empfand jedoch Graetz' Naturell einen so tiefen Widerwillen, dass er hierfür keine Schonung und Rücksicht kannte. Geiger ist von ihm nur ein einziges oder noch ein anderes Mal besucht worden.
Gleich nachdem sich Graetz in den Hörsälen seiner Fakultät orientiert hatte, sprach er bei den beiden rabbinischen Parteihäuptern vor, worüber sein Tagebuch folgendes berichtet: "Die Bekanntschaft des Rabbiners Tiktin habe ich gemacht. O, wie habe ich immer in Ehrfurcht dagestanden, als ich auf den ersten Blättern der "6 den geharnischten Namen Tiktin ansah. Wie Karl der Große in seiner eisernen Rüstung den Nahenden in gebührender Entfernung hielt, so schien mir das Ansehen jener theologischen Ritter, gehoben durch die langen Bärte und die eminenten spanischen Rohrstöcke7 und den talmudischen Staub. Da saß ich neben einem Abkömmling jener rabbinischen .8 Ach, wie gesunken sind sie. Tempora mutantur et nos mutamur in illis. Wohl ist noch die imposante Körperhöhe, noch der spanische Rohrstock vorhanden. Aber das Ensemble, das nicht mit Worten zu fassende Etwas fehlt. Neben den Rabbiner stelle ich nolens volens den Dr. Geiger, ein kleines, hageres Männchen. Weshalb er so ganz besonders freundlich gegen mich war, weiß ich nicht. Von Hirsch haben wir noch nicht gesprochen und werden wir höchst wahrscheinlich nicht sprechen. Aber, o Gott! wie weit ist es gekommen! Dr. Freund9 wagt es, in Gegenwart von 50 Juden, an deren Spitze ein sitzt, Worte, wie rabbinisch verkehrte Schlußfolgerungen auszusprechen. Der Cicero und Plato sollen also gegen rabbinische Verkehrtheiten gelesen werden. Ei, der Tausend!"
Als im März 1843 der starre und zähe Kämpe des alten Judentums, Salomo Tiktin, ein todwunder Löwe, der letzte eines talmudischen Löwengeschlechts, von seiner Niederlage ins Innerste getroffen, durch sein Ableben den Schauplatz räumte, stand Geiger auf der Höhe seines Ruhmes. Schon lange war keines Rabbiners Name in der ganzen deutschen Judenheit so sehr bekannt und genannt, so in aller Munde wie derjenige Geigers. In Schlesien gab es keinen populäreren Rabbiner, in Breslau war sein Wort machtvoll, einflußreich und von den Gegnern gefürchtet. Sein wissenschaftliches Ansehen war allgemein anerkannt, seine Rede beherrschte die Kanzel und die Gemüter; wer es wagte, ihn anzugreifen, wurde übel zugerichtet und trug zum Schaden den Spott davon.
Da machten sich im Laufe des Jahres 1844 die ersten Anzeichen einer sich langsam vollziehenden Wendung bemerkbar. In demselben Jahre waren nicht nur die Keime zur Bildung einer neuen theologischen Richtung auf konservativer Grundlage zusammengeschossen und hatten sich unter der Führung von Zacharias Frankel zu konsolidieren begonnen; es schwirrten auch gegen Geiger und seinen Anhang einzelne, von Ironie beschwingte, spitze Pfeile heran, und ihnen folgten immer spitzere und schärfere, welche schwer zu parieren waren und an den wundesten Stellen trafen. Eine renommierte jüdische Zeitschrift "Der Orient", der von Dr. Fürst in wöchentlichen Nummern redigiert wurde, berichtete nämlich über wichtigere Vorkommnisse innerhalb der Breslauer Gemeinde, und der anonyme Korrespondent verstand es, lebhaft, prickelnd und kritisch zu schildern. Die Artikel erregten begreifliches Aufsehen, verursachten in Breslau bei ihrem fortgesetzten Erscheinen geradezu Sensation, und beide Parteien sahen zeitweise, mit entgegengesetzten Gefühlen zwar, aber mit gleicher Spannung der neuen Wochennummer des "Orient" erwartungsvoll entgegen. Die Orthodoxen jubelten, hatte sich doch endlich eine gewandte Feder gefunden, welche unerschrocken und rücksichtslos allerlei Schäden bloßlegte und durch das kühne Auftreten gegen Geiger ihrer Sache zu dienen schien. Doch wer war denn der Schütze, der sein Geschoß so sicher und elegant zu lancieren wußte? Man riet, man spähte nach ihm aus, hielt auch unter den Beflissenen der jüdischen Theologie, welche sich damals in Breslau zumeist um Geiger gesammelt halten, gründliche Umschau, bis endlich jeder Zweifel schwand, es war ein homo novus, ein Student aus dem Posenschen - Graetz, der in stolzer Unabhängigkeit von jeder Gönnerschaft durch Erteilen von Unterricht sich kärglich durchfristete.
Das Staunen wuchs, als Graetz fast gleichzeitig mit jenen Korrespondenzen sich durch eine noch heute wertvolle Rezension des Geigerschen "Lehrbuch zur Sprache der Mischnah" auf das vorteilhafteste in die wissenschaftliche Welt einführte.10 Die Besprechung des Lehrbuches, mit deren Veröffentlichung im Literaturblatt des "Orient" Ende 1844 begonnen ward, und die im folgenden Jahre in einer ganzen Serie von Artikeln fortgeführt wurde, bot ihm die Handhabe, um
[Einleitung: Biographie des Dr. H. Graetz, S. 37 ff.Digitale Bibliothek Band 44: Heinrich Graetz: Geschichte der Juden, S. 101 (vgl. GesJud Bd. 1, S. 21 ff.)]
 

seine eigenen Ansichten über den Gegenstand darzulegen, und es ist dabei reiches Wissen, Beherrschung des Stoffes, Sprachgefühl, wissenschaftlicher Instinkt und noch dazu ein erhebliches Stiltalent gar nicht zu verkennen. Die Kritik des Buches selbst ist oft treffend, jedoch scharf gehalten, vielleicht nicht frei von Animosität. Es lag eben stets im Charakter von Graetz, seine Meinung klar und unverhohlen auszusprechen. Geiger, der allerdings provoziert war, hat darauf auch nicht ganz objektiv im "Israelit des 19. Jahrhunderts" in noch schärferen Artikeln repliziert, welche auf das Persönliche hinübergreifen, an Versehen und Nebendinge sich anklammern und hierdurch dartun, welches Gewicht dem Auftreten seines jungen Antagonisten beigemessen wurde.
Jedenfalls hatte Graetz die Aufmerksamkeit weiterer Kreise auf sich gezogen, und gar zu Breslau auf der Karlsstraße war er mit einem Schlage in den Mittelpunkt des Tagesinteresses getreten. Die Orthodoxen knüpften mit ihm an, wiewohl er sie keinen Augenblick darüber im Ungewissen ließ, dass ihr Parteiprogramm von ihm nicht gebilligt und ihre religiösen Anschauungen nicht geteilt würden, dass er vielmehr seinem eigenen Kopfe folge und sich nur von der unverwüstlichen Anhänglichkeit an das positive Judentum leiten lasse; indes hielt er sie von manchen törichten und fanatischen Schritten zurück und gab ihnen den Rat, da Geiger trotz aller orthodoxen Opposition mit starker Hand eine Religionsschule ins Leben gerufen, welche auch prosperierte, die Fühlung mit dem nachwachsenden Geschlecht sich nicht entwinden zu lassen und eine ähnliche Religionsschule in konservativem Geiste zu schaffen. Der Rat schien auf fruchtbaren Boden zu fallen, und man bedeutete den Berater, dass man die Absicht habe, ihn mit der Organisation und Leitung einer solchen Schule zu betrauen, vorausgesetzt, dass er bis dahin einen akademischen Grad erlangt haben würde. Da auch bei den Rabbinatsvakanzen bereits an ihn gedacht und von ihm gesprochen wurde, mußte die Promotion beschleunigt werden, und in einigen Wochen angestrengter Arbeit stellte er seine Dissertationsschrift fertig: "De autoritate et vi, quam gnosis in Judaïsmum habuerit", auf welche er April 1845 von der Universität Jena zum Doktor promoviert wurde. Die Abhandlung wurde noch im selben Jahr unter dem Titel: "Gnostizismus und Judentum" als seine erste selbständige Arbeit veröffentlicht Die eingehende Kenntnis der patristischen Literatur, die geschichtlich individualisierende Auffassung verschiedener Talmudstellen, eine glückliche Kombinationsgabe, welche dem dunkelsten Buch der rabbinischen Literatur, dem ,11 zum ersten Male einige helle Seiten abgewinnt, dazu eine durchsichtige Klarheit in Anordnung und Vortrag, zeichnen die Schrift aus und zeigen schon völlig das eigenartige Gepräge seines wissenschaftlichen Geistes; dieselbe wurde von den verschiedensten Seiten beifällig aufgenommen, sie hat ihm in der jüdischen Gelehrtenwelt Stellung gegeben.
Solche überraschende Erfolge schwellten die Brust des literarischen Novizen, der sich aus sich selbst mühsam und schwer durchgerungen, mit berechtigter Freude und glücklichen Hoffnungen. Sein Stern schien im Aufgehen. Die Flitterwochen seines ersten Ruhmes, bei deren Erinnerung es noch im späten Alter wie ein Sonnenstrahl über sein Gesicht zog, gedachte er in der Nähe seiner Eltern zu verleben, und er nahm hierzu den Weg über Krotoschin. Hier im Hause seines Freundes trat ihm das halbwüchsige Mädchen von ehedem, dessen Bild in seinem Gedächtnis wohl zurückgetreten, mit seinem verblassenden Schimmer aber doch nicht ganz erloschen war, als aufblühende Jungfrau entgegen; es war die Tochter des Besitzers der bekannten hebräischen Buchdruckerei, Monasch. Beide machten einen tiefen Eindruck aufeinander. Graetz, der seine Erwartungen von der Zukunft nunmehr als gesichert betrachten zu dürfen meinte, machte aus seinen Gefühlen kein Hehl, und da dieselben erwidert wurden, tauschten sie als Brautpaar das Gelöbnis gegenseitiger Liebe aus. Er ahnte damals nicht, dass er ein Frauenherz gewonnen hatte, stark und befähigt, ihm in die dunkeln Tage, die gar bald schwer über ihn hereinbrechen sollten, wie ein freundlich helles Gestirn hineinzuleuchten und ihm den Stützpunkt zu bieten, an dem er sich aufrecht hielt.
Vorläufig tauchten allerlei Hoffnungen in schwankenden Umrissen vor seinem Blicke auf und nahmen allmählich doch festere Gestalt an; es winkte ihm endlich die Aussicht auf eine ehrenvolle Lebensstellung, die er so heiß ersehnt und erstrebt hatte. Eine größere Gemeinde Oberschlesiens, dermalen nach Breslau wohl die zweitgrößte und wohlhabendste in Schlesien, Gleiwitz, suchte für das erledigte Rabbinat einen Mann, der mit rabbinischem Wissen ausgerüstet, auf der Höhe moderner Bildung stehen und einem besonnenen, maßvollen Fortschritt sich zuneigen sollte. Auf Graetz, dessen schriftstellerischer Ruf bereits in jene Gegend gedrungen war, richtete sich das Augenmerk aller Spruchbefugten in jener Gemeinde, er erschien als der für diesen Posten geeignetste Kandidat, der durch Geist und Wissen den verschiedenartigen, wenig geklärten Anschauungen und Ansprüchen ebenso zu imponieren, wie zu entsprechen verstehen würde. Sämtliche Stimmführer erklärten sich für ihn, und es erübrigte nur noch, dass er, wobei man nicht im mindesten am Gelingen zweifelte, durch die eine oder andere Predigt eine Probe seiner homiletischen Befähigung ablege und die anderen Kreise der Gemeinde an sich ziehe.
Vor den hohen Feiertagen traf bei Graetz eine hebräische Zuschrift des Vorstandes aus Gleiwitz ein, welche in den schmeichelhaftesten Ausdrücken abgefaßt und die Anwartschaft auf das Rabbinat in sichere Aussicht stellend, ihn einlud, am Versöhnungsfest 1845 (5606) in der Synagoge daselbst die Predigten abzuhalten. Zur festgesetzten Frist, am Eingangsabend des heiligen Tages bestieg er die Kanzel, und das Resultat war - ein ganz unerwartetes Fiasko, das um so schlimmer wirkte, weil es das Zutrauen zu seiner rhetorischen Begabung in seinem eigenen Innern vollends erschütterte. Er hatte sein Memorandum total vergessen, verlor die Geistesgegenwart, stand ratos da und mußte nach wenigen Worten die Kanzel verlassen. Seine Freunde und Anhänger, die unerschütterlich zu ihm standen, boten alles auf, um ihm Gelegenheit zu geben, die böse Scharte wieder auszuwetzen; doch glückte es ihm nur zum Teil, sich zu rehabilitieren, das verlorene Terrain war nicht mehr zurückzuerobern.
Das unverhoffte Mißgeschick war wohl, wie wir heute nachträglich gestehen müssen, dem aufstrebenden Gelehrten und seinem Lebenswerk zum Heil gewesen, so unsanft er auch hierdurch auf diejenige Bahn gedrängt wurde, für welche er mit Gaben und Kräften ausgestattet war wie kein anderer mehr. In jenen Tagen allgemeiner Gärung wurde das religiöse Leben der jüdischen Gemeinden von so entgegengesetzten, verworrenen und stürmischen Strömungen durchsetzt und aufgewühlt, dass ein Mann von dem unbezwingbaren Trieb zu wirken und zu schaffen, und wo es erforderlich schien, selbständig und selbsttätig einzugreifen, von dem angeborenen Hang, mit seiner Überzeugung nicht zurückzuhalten, und noch dazu mit der verfänglichen Gabe, seiner Meinung einen treuen, schlagenden und kaustischen Ausdruck zu geben, es wohl schwerlich fertig gebracht hätte, in dem Nachen eines rabbinischen Amtes zwischen den mannigfachen Klippen eines zumeist fanatischen Parteigetriebes glücklich hindurchzulavieren. Er hätte entweder seiner Natur und seinem Genius untreu werden, oder wenn dies nicht anging, schließlich einmal scheitern müssen; allenfalls hätte er, falls ihm ein genügendes Maß von Weltklugheit und Gewandtheit zu Gebote gestanden, in mehr oder minder heilsamen Schöpfungen oder Einrichtungen auf einem eng beschränkten Arbeitsfeld seine besten Kräfte aufgezehrt. Graetz selbst, der sich gut kannte, hatte immer davor gebangt, dass er im rabbinischen Amt nicht an seinem Platz sein würde, der Gedanke an die Pflichten und Verantwortlichkeiten eines Rabbiners machte ihm jederzeit Pein. Wenige Tage bevor er nach Gleiwitz ab
[Einleitung: Biographie des Dr. H. Graetz, S. 43 ff.Digitale Bibliothek Band 44: Heinrich Graetz: Geschichte der Juden, S. 107 (vgl. GesJud Bd. 1, S. 25 ff.)]
 

ging, bemerkte er in seinem Tagebuch: "Unter allen Ämtern ist das Rabbinat am wenigsten für mich geschaffen, mir fehlt auf allen Seiten jene Macht der Erscheinung, des imponierenden Auftretens. Auch ist mein Wissen höchst mangelhaft, aber mein Wille ist stark, energisch. Wenn Gott mit einem solchen Werkzeug gedient ist, dann stehe ich da mit Leib und Seele; aber das Predigen!" In der Tat, das Flügelroß der Predigt, das nicht bloß der edlen Begeisterung der wenigen Auserwählten mit Lust und Feuer dient, sondern auch zahllosen Dutzendmenschen zu mehr oder minder zweifelhaften Kunststücken vor den bewundernden Augen und Ohren der vielköpfigen Menge den Rücken hergibt, es hat einen Graetz im kritischen Augenblick aus dem Sattel geschleudert. Es war ein Sturz, den er schwer und schmerzlich empfunden hat. Er, der noch kurz vorher schriftstellerische Triumphe fast spielend erlangt hatte, der vor keiner Schwierigkeit zurückzuschrecken gewohnt war, verzweifelte nun daran, dass er das lebendige Wort in gleichem Maße wie die Spitze der Feder je werde zwingen können. Hierzu waren ihm in der Tat auch die äußeren Mittel versagt. Es war nicht gerade die äußere Erscheinung, die ihm im Wege stand, denn er war von kräftiger, untersetzter, guter Mittelgestalt, aber es fehlte seiner Stimme bei lautem Ansatz die Modulation und die Vortragsweise, vor allem gebrach es ihm an Fähigkeit zu irgend welcher Posierung, in seinem Wesen lag auch nicht die leiseste Spur von dem Komödianten, der, wie Goethe sagt, "einen Pfarrer könnt' lehren". Dieser seiner Mängel war er sich wohl bewußt, und so gab er es vorläufig auf, noch einmal die Probe auf seine homiletische Beredsamkeit zu machen und von der Kanzel aus sich eine Gemeinde zu erobern.

5. Wanderjahre.

Mit dem eklatanten Mißerfolg in Oberschlesien waren zugleich alle anderen derzeitigen Aussichten für ihn rettungslos versunken. Bald stand wiederum die Sorge um das tägliche Brot neben seinem Stuhl, ohne dass seine Kraft bei diesem harten Kampf wie früher durch freundliche Hoffnungsblicke in die Zukunft gespannt und gehoben wurde. Am meisten nagte der Vorwurf an ihm, dass er noch ein anderes geliebtes Wesen in seine Aussichtslosigkeit hineingerissen habe. Da war es hoher Frauensinn, der in der reinen Hingebung an den geliebten Mann nicht wankte, seine müde Seele durch Trost und Zuspruch erquickte und den in seinem Gemüte wühlenden Aufruhr stillte. Erfrischt und angeregt wurden seine Lebensgeister wieder aufs neue durch eine Einladung seitens Zacharias Frankels, sich einer Versammlung konservativer Richtung anzuschließen, die der letztere im September 184612 nach Dresden berufen wolle, um über religiöse Tagesfragen zu beraten und zu geschlossenem Vorgehen sich zu einigen.
Dr. Zacharias Frankel hatte zu Dresden gleich am Anfang seiner Laufbahn eine überaus wirkungsvolle Tätigkeit entfaltet, um den politischen Druck, der in der sächsischen Heimat auf seinen Glaubensgenossen lastete, inssonders betreffs der Eidesleistung, zu mildern; trotzdem war er wesentlich eine wissenschaftliche Natur. Mit einer umfassenden Kenntnis des Talmuds ausgestattet und ihn kritisch durchdringend, war er der erste, der den Grund zu einer modernen Erforschung dieses Schriftwerkes legte; er hatte es sich zur Lebensaufgabe gestellt, das klassische Studium des Talmuds zu begründen und die Halachah nach ihrer Entwickelungsgeschichte zu verfolgen. Schon seine schriftstellerischen Erstlingswerke verrieten in der gründlichen, peinlich sorgfältigen und zuverlässigen Art ihrer Forschung den ernsten und hervorragenden Gelehrten und sicherten ihm in der wissenschaftlichen Welt ein hohes und unbestrittenes Ansehen.
Als die reformatorischen Bestrebungen innerhalb der deutschen Judenschaft in immer lebhafteren Fluß gerieten und immer größere Wellenringe zogen, als man einerseits Rabbinerversammlungen plante, um die angestrebten Neuerungen in ein System zu bringen und zu sanktionieren, und man anderseits aus Mißtrauen gegen die Stimmführer fürchtete, dass durch die Beschlüsse und Kundgebungen einer derartigen Versammlung bedenklicher Zündstoff in die Gemeinden geworfen werden würde, hielt Frankel es für geboten, seine bisherige Zurückhaltung aufzugeben und in die religiöse Bewegung mit einzugreifen. Er trat daher 1844 mit einer "Zeitschrift für die religiösen Interessen des Judentums" hervor, welche vierteljährlich erscheinend, einen streng wissenschaftlichen Charakter tragen und zugleich die religiösen Tagesfragen behandeln sollte. Ein Theologe von Besonnenheit, Welterfahrung und Duldsamkeit, vertrat er den Standpunkt, dass auch im Glaubensleben die veränderten Zeitverhältnisse berücksichtigt werden müßten, dass aber diese Berücksichtigung den historischen Boden nicht verlassen dürfe, und dass alle Neuordnung aus der wissenschaftlichen Erkenntnis des Wesens und der Tradition des Judentums heraus zu erfolgen habe. Das war nun ganz nach dem Sinne von Graetz, und er hatte sich kaum ein Jahr darauf öffentlich bemerkbar gemacht, als er Beziehungen zu Frankel suchte, der dieser Annäherung bereitwilligst entgegenkam und den jungen Gelehrten zur Mitarbeiterschaft an seiner Quartalschrift aufforderte. Graetz antwortete darauf mit der Übersendung eines höchst geistvollen und anregenden Aufsatzes: "Die Septuaginta im Talmud", wobei die ihm eigene Weise, Talmud und Midraschstellen untereinander und mit den Angaben und Anführungen der Kirchenväter zu vergleichen, das historische Element des talmudischen Berichtes dadurch zu fixieren und Kombinationen daran zu knüpfen, klar zutage tritt.
In demselben Jahr 1845 war Frankel auf der zweiten zu Frankfurt a.M. tagenden Rabbinerversammlung mit der Hoffnung erschienen, in mäßigendem und vermittelndem Sinne auf die Beratungen und Beschlüsse einwirken zu können; er gab jedoch diese Hoffnung auf, als die Versammlung den Beschluß faßte, dass das Hebräische als Gebetssprache beim Gottesdienst nur "ratsam", nicht "objektiv-notwendig" sei. Er trat mit Eklat aus der Rabbinerversammlung aus und rechtfertigte seinen Schritt in einer ebenso würdigen wie entschiedenen Erklärung. Frankels Auftreten fand allseitige und lebhafte Anerkennung, es rüttelte geradezu die gesetzestreuen Gemüter der verschiedensten Schattierungen auf, aus zahlreichen und angesehenen Gemeinden wurde ihm durch huldigende Dankadressen die volle Zustimmung zu seinem entschlossenen Vorgehen ausgedrückt. In Breslau hatte Graetz eine begeisterte Adresse abgefaßt und in Umlauf gesetzt; dieselbe bedeckte sich schnell mit Unterschriften, und Graetz konnte sich dabei den malitiösen Scherz nicht versagen, notorische Anhänger von Geiger, der den Austritt Frankels sehr übel vermerkt und durch dessen Erklärung sich zu schmähendem Wort hinreißen ließ, mit Erfolg zur Unterzeichnung heranzuziehen.
Warum wohl Frankel damals die ihm günstige Stimmung und Gelegenheit nicht sofort benutzte, um eine große gemäßigte Partei um sich zu sammeln? Erst im folgenden Jahre 1846 unternahm er einen Versuch in dieser Richtung, indem er an die konserva
[Einleitung: Biographie des Dr. H. Graetz, S. 49 ff.Digitale Bibliothek Band 44: Heinrich Graetz: Geschichte der Juden, S. 113 (vgl. GesJud Bd. 1, S. 28 ff.)]
 

tiven Theologen moderner Gesinnung Einladungen zu einer Zusammenkunft in Dresden ergehen ließ, vielleicht um der reformatorischen dritten Rabbinerversammlung, welche im Juli desselben Jahres zu Breslau zusammentreten sollte, ein wirksames Paroli bieten zu können. Aber selbst dieser Versuch ist von Frankel nicht mit der nötigen, sonst an ihm bemerkbaren Energie durchgeführt worden. Als Graetz im September 1846 in Dresden eintraf, fand er zu seinem Erstaunen niemanden vor. Samson Raphael Hirsch, damals Landrabbiner von Emden, hatte von vornherein abgelehnt, weil er den modernen Rabbinen die innere wie äußere Berechtigung zu Eingriffen in den religiösen Kult absprach. Rapoport in Prag hatte aus unbekannten Gründen abgesagt, ihm lagen eben nur wissenschaftliche Interessen am Herzen. Michael Sachs in Berlin war durch amtliche Abhaltungen entschuldigt. Den meisten anderen war die Zeit und der Ort zur Zusammenkunft nicht gelegen gewählt. Frankel wiederum war ein vornehmer Geist, dem es widerstrebte oder nicht gegeben war, die Werbetrommel kräftig zu rühren, durch Agitation oder Reklame Stimmung zu machen und eine Partei an sich zu locken oder gar zu fanatisieren; nur der Gerechtigkeit seiner Sache wollte er vertrauen, er verschmähte die kleinen Mittel und Kunstgriffe, um ausschließlich die Macht der Überzeugung wirken zu lassen. Es mußte naturgemäß einen tiefen Eindruck auf ihn hervorbringen, als er wahrnahm, wie Graetz der einzige war, der seinem Ruf so unbedingte Folge leistete. Beide Männer, so verschieden an Alter, Natur und Anlage, doch eins in ihren Anschauungen und Zielen, waren nun durch die persönliche Berührung einander näher getreten, und sie schlossen, wenn auch unausgesprochen, eine für das Leben vorhaltende Waffenbrüderschaft.
Graetz war jedenfalls entschlossen, von nun an bei aller Wahrung seiner Selbständigkeit seine theologische Stellung an der Seite von Frankel zu nehmen; hatte er doch erkannt, dass er in seinen religiösen Überzeugungen gerade diesem sich am meisten nähere. Der letztere hatte dasselbe seinerseits dadurch anerkannt, dass er Graetz auf seinen Wunsch die formelle Autorisation zur Ausübung rabbinischer Funktionen ( ) erteilte.
Frankel stellte übrigens mit dem Ende 1846 die Herausgabe seiner Zeitschrift ein, um seine Kraft für künftige, bessere Zeiten aufzusparen. Zu diesem dritten und letzten Jahrgang seiner Zeitschrift hatte Graetz neben einzelnen Rezensionen noch einen seiner bedeutsamsten Aufsätze beigesteuert, welcher in mehreren Artikeln "Die Konstruktion der jüdischen Geschichte" behandelt. Frisch und lebhaft im Ausdruck, reich an schönen Gedanken, die selbst von Homileten mannigfach ausgemünzt wurden, zeichnet die Abhandlung mit klaren und scharfen Strichen die Grundlinien und Gesichtspunkte, welche für eine Gesamtdarstellung der jüdischen Geschichte maßgebend sein sollen; indes ist der Verfasser noch allzusehr in der philosophischen Schulsprache und Denkweise seiner Zeit befangen, so dass er sich verleiten läßt, die Transzendenz Gottes auf Kosten der monotheistischen Idee unverhältnismäßig in den Vordergrund zu stellen.
So bedeutendes Ansehen Graetz durch seine gelehrten Arbeiten besonders in theologischen Kreisen sich erworben hatte, er spähte vergebens überall nach einem Punkte aus, an dem er die Wurzeln einer festen, wenn auch nur bescheidenen Lebensstellung einschlagen konnte. Endlich schien sich der Horizont doch lichten zu wollen, es winkte ihm die Aussicht, den eigenen Herd begründen zu können, leider eine Fata morgana. Die orthodoxe Partei in Breslau hatte nämlich Ende 1846 ihre Aktion wieder energisch aufgenommen, erkannte den Sohn des verstorbenen Salomo Tiktin, Gedalja Tiktin, der an seine Vorfahren und Vorgänger geistig bei weitem nicht heranreichte, als ihren Rabbiner an und ging damit vor, eine Religionsschule in ihrem Sinne einzurichten; zu ihrer Organisation und Leitung ward Graetz berufen.13 Wohl war die Breslauer Gemeinde aufgelöst, indem die orthodoxen Elemente sich von dem Synagogenverband getrennt hatten, indessen gab es für die Separatisten kein rechtsgiltiges Bindemittel, um sich als korporative Genossenschaft zusammenzuschließen. Überdies war am 23. Juli 1847 das Gesetz für die Verhältnisse der Juden in Preußen erschienen, und es war noch nicht abzusehen, wie sich die Zustände unter der Herrschaft des neuen Gesetzes gestalten würden. Einzelne wohlhabende Privatleute übernahmen daher die Verantwortlichkeit, um die verschiedenen Vertragsverhältnisse, vornehmlich betreffs der Religionsschule, zu ordnen. Da fegten die politischen Stürme des Jahres 1848 über die preußischen Lande hin. Wirtschaftliche Erschütterungen traten ein, noch schwerere wurden befürchtet, und in der Furcht davor zogen jene Privatleute ihre Bürgschaft zurück. Daraufhin erfolgte der Zusammenbruch der orthodoxen Religionsschule, in jenen Kreisen das erste Opfer der politischen Sturmflut, deren Wellenringe ihre zerstörende Wirkung bis in die entferntesten Lebensbeziehungen hinüber spielten. Graetz stand abermals auf der Straße, ohne Beschäftigung, ohne Brot.
Damals richteten sich aller Augen nach Wien, wo die Volksbewegung große Dimensionen angenommen und überraschende Erfolge errungen hatte; dort stand die Demokratie in Waffen, hatte sich der österreichischen Hauptstadt bemächtigt, und man knüpfte große Hoffnungen daran, dass das Waffenglück daselbst zugunsten der demokratischen Partei entscheiden würde. Durch Vermittlung eines Studienfreundes, des Dr. B. Friedmann,14 der später als Rabbiner in Mannheim fungierte, in jenen Tagen aber als wirksamer Volksredner in Breslau sich hervorgetan und bei der Redaktion der demokratischen Oderzeitung mitwirkte, wurde an Graetz das sonderbare Anerbieten gestellt, als Berichterstatter für die genannte Zeitung sich nach Wien zu begeben.15 Ratlos, wie er war, geht er, obschon mit innerem Widerstreben, auf diesen Vorschlag ein.
Auf der Reise nach Wien drängte es ihn, einen Abstecher nach Nikolsburg zu machen, um dort seinen früheren Lehrer Samson Raphael Hirsch, aufzusuchen, der indessen das Landrabbinat von Emden mit dem in Nikolsburg vertauscht hatte. Graetz war auch nach seinem Abgang von Oldenburg mit dem Landrabbiner stets in brieflichem Verkehr und freundschaftlicher Beziehung geblieben; obgleich er den starr traditionellen Standpunkt von Hirsch nicht teilte und seiner theologischen Bedeutung nicht mehr wie vormals mit enthusiastischem Gemüt, sondern mit kritischer, nüchterner Beurteilung gegenüberstand, so war doch die Neigung und Verehrung für den ehemaligen Lehrer in ihm nicht etwa verdampft, er wollte nach langen Jahren ihn wieder sehen und sprechen. Hirsch, der ebenfalls eine entschiedene Sympathie für seinen früheren Schüler hegte, trug Bedenken, ihn nach dem dermals so heißen Boden Wiens ziehen zu lassen, und Graetz, der wenig Lust und Beruf zu politischer Berichterstattung in sich spürte, ließ sich gerne zum Bleiben bereden und nahm vorläufig mit einer untergeordneten Stellung an der Nikolsburger Religionsschule vorlieb. Im Hintergrund stand freilich die Anwartschaft auf einen Lehrerposten an einem von Hirsch projektierten Rabbinerseminar, dessen Schöpfung diesen ganz ernstlich beschäftigte. Hirsch hatte sich lange mit dem Gedanken getragen, - der übrigens den hervorragenden Rabbinen jener Epoche, in dem Wunsch, eine theologische Schule ihrer Richtung zu bilden, fast durchwegs als Ziel vorschwebte, und als brennende Frage auf der Tagesordnung stand, - eine jüdisch-theologische Bi dungsanstalt ins Leben zu rufen. Es nahm den Anschein, dass dieser Plan in Nikolsburg, wo von jeher eine vielbesuchte Talmudschule blühte, sich um so leichter würde verwirklichen lassen, als man eben an eine schon vorhandene Institution nur anzuknüpfen, dieselbe umzugestalten und ihr neuen Geist einzuflößen brauchte. Graetz wurde sogleich von seinem Gönner veranlaßt, den im Talmud bewanderten und bisher nur dialektisch geschulten Jünglingen Vorlesungen über jüdische Geschichte zu halten. Es war natürlich, dass er zu
[Einleitung: Biographie des Dr. H. Graetz, S. 55 ff.Digitale Bibliothek Band 44: Heinrich Graetz: Geschichte der Juden, S. 119 (vgl. GesJud Bd. 1, S. 32 ff.)]
 

seinen Vorträgen für derartige Talmudschüler die Zeit der Mischnah und des Talmuds wählte, eine Geschichtsperiode, mit der er sich schon beschäftigt hatte und der er jetzt für den vorliegenden Zweck die sorgfältigsten Studien widmete.
Trotz allen Eifers, den er seinen Vorträgen und Studien zuwandte, sah er sich in seinen eigentlichen Erwartungen enttäuscht, und das Peinliche seiner prekären Lage verschärfte sich im Laufe der Zeit noch mehr. Die Fanatiker des Nikolsburger Ghettos hatten selbst an dem gesetzestreuen Verhalten des Landrabbiners vielerlei auszusetzen, sein Jünger wandelte vollends unter ihnen als eine fremde, unheimliche Erscheinung. Denunziationen verdächtigten ihn bei den Lokalbehörden wegen seiner demokratischen Gesinnung; damit traf ihn der schwerste Makel, mit dem besonders ein Ausländer in dem damaligen Österreich behaftet werden konnte, und es bedurste des ganzen Aufgebotes seiner Freunde, um arge Ungelegenheiten und eine sofortige Ausweisung von ihm abzuwehren. Die Schöpfung einer Rabbinerschule, auf welche Graetz wie auf eine letzte Karte alle seine Hoffnungen gesetzt hatte, erwies sich immer mehr als eine leere Seifenblase; ob die Orts- und Zeitverhältnisse dem Projekt ungünstig waren, ob Hirsch aus anderen Gründen den Plan fallen ließ, steht dahin.16 In den freundschaftlichen Beziehungen beider Männer war auch allmählich eine leise Erkaltung eingetreten. Graetz begrüßte es daher wie eine Erlösung aus unhaltbaren Zuständen, als ihm aus dem im Nikolsburger Bezirk gelegenen Lundenburg, einem Städtchen in der Nähe Wiens, seitens des Vorstandes der Antrag gemacht wurde, die Organisation und Leitung der dortigen Gemeindeschule zu übernehmen. Man verständigte sich schnell, und am 12. September 1850 erfolgte seine Anstellung als Dirigent und Oberlehrer der jüdischen Schule zu Lundenburg.
Es war ein bescheidenes Amt, in dessen Dienst er sich stellte, und ein mäßiges Einkommen, mit dem er zu rechnen hatte. Allein es bot ihm doch immerhin die Möglichkeit eine häusliche Existenz zu begründen und bis zu einem gewissen Grade seine Individualität frei zu entfalten.
Ehe er in das Amt trat, eilte er in die alte Heimat zurück, um die treue, der Vereinigung mit ihm geduldig entgegenharrende Braut, welche von fehlgeschlagenen Erwartungen nicht entmutig, den Glauben an ihn niemals verloren hatte, Anfangs Oktober 1850 unter den Trauhimmel zu führen.17 Er hätte keinen besseren und tapfereren Kameraden finden können, als die Gattin, die ihm nach seinem neuen Heim folgte. Sie hat ihm durch ihr harmonisches, maßvolles und liebreiches Wesen nicht nur das Haus geschmückt und die umwölkten Tage aufgeheitert, sondern auch das Ungestüm seines Temperament, gemäßigt und die Neigung seines Wortes zu scharfen, kaustischen, herausfordernd klingenden Akzenten abgemildert. Sie verstand sich auf die Bedürfnisse seiner Seele, in der es zuweilen wie ein Klang unbestimmter und ungestillter Sehnsucht hindurchzitterte Es lag eben in seiner Persönlichkeit manches Inkommensurable, das sich nicht erklären ließ. Er war Dritten gegenüber ein bei aller Mitteilsamkeit verschlossener Charakter, der die geheimen Regungen seines Gemütes tief in sich verbarg, so dass er stets äußerlich durchaus ruhig und gemessen erschien und niemand ahnte, welche Gedanken und Erregungen in seinem Inneren unter der ruhigen Oberfläche oftmals stürmisch durcheinanderwogten. Trotzdem bedurfte er, um sein äußeres Gleichgewicht stets zu behaupten, einer Aussprache, in welcher die leicht erregbare, innerlich stark reagierende Stimmung seines schnell unter hohen Spannungsdruck gesetzten Gemütes sich zu entladen und zu läutern pflegte. Solchem Zwecke mögen wohl die Blätter seines Tagebuchs gedient haben, da sie zumeist unter dem Druck eines hochgespannten Affektes geschrieben sind. Mit dem Tage seiner Verheiratung beginnen diese Aufzeichnungen immer spärlicher zu fließen, bis sie schließlich ganz versiegen. Hatte er doch in seiner Lebensgefährtin die sympathische Seele gefunden, welche ihm mit unbegrenzter Verehrung und Teilnahme ergeben war, in deren Empfindung sein Denken und Fühlen einem vollen und meist geklärten Widerhall begegnete. Und wie sein seelisches Leben, so teilte sie auch sein geistiges Streben, sie hat sich des Gatten wissenschaftliche Interessen zu eigen gemacht und ihm wie ein sorgsamer Hilfsarbeiter bei seiner gelehrten Beschäftigung die förderlichste Handreichung geleistet.
So ging denn der neue Schuldirigent am 15. Oktober 1850 in Lundenburg mit Eifer und Lust an seine Tätigkeit, dirigierte, klassifizierte, hielt feierliche Ansprachen und unterrichtete. Wie es scheint, fehlte auch der Erfolg nicht, denn er fand ermunternden Beifall. Im Schatten seiner kleinen, aber glücklichen Hütte nahm er seine literarischen Pläne und Arbeiten wieder auf, hatte er ja für seine Vorträge in Nikolsburg ein reiches Material über die talmudische Zeit gesammelt, das er nun verwerten wollte.
Es dauerte jedoch nicht lange so mischten sich trübe Schatten in den idyllischen Zustand. Mit Hirsch war es fast zu einem Zerwürfnis gekommen. Als das junge Ehepaar in Nikolsburg bei ihm seinen Antrittsbesuch machte, verlangte dieser von der jungen Frau, dass sie, einem talmudischen Brauch zufolge, ihr schönes Haar mit einer Art Perücke, einem sogenannten Scheitel, verdecken möge, wogegen dieselbe sich mit dem ganzen Stolz einer gekränkten Frauenseele zwar höflich, doch entschieden verwahrte; auch Graetz wies das Ansinnen energisch zurück, und man schied wenig befriedigt von einander. Schwerer und lästiger drückten die dunklen Nebel, wie sie sich aus dem trüben Dunstkreis des engen und undisziplinierten Ghettolebens, zumal in einer österreichischen Kleingemeinde, zu entwickeln pflegten. Die Eifersucht der rabbinischen Lokalgröße, eines beschränkten Talmudisten, der von Graetz' Ruhm verdunkelt zu werden fürchtete und daher ab und zu seine amtliche Überlegenheit geltend machte, krähwinkelige Rivalitäten, gegen die Notabilitäten der Gemeindestube gerichtet, welche die leitenden Personen in den Angriffen auf die von ihnen begünstigten Einrichtungen und Männer treffen wollten, ließen es Graetz in ihrem verbissenen Ingrimm empfinden, dass des Lebens ungemischte Freuden keinem Sterblichen und am allerwenigsten dem Dirigenten einer israelitischen Gemeindeschule in Österreich zuteil werden. Angebereien, namentlich beim Bezirksamt, welche ihn als eingefleischten Demokraten denunzierten, machten ihm viel zu schaffen, gingen aber dieses Mal, ohne irgend welchen Schaden anzurichten, glücklich vorüber.
Das Jahr 1851 erhöhte sein Glücksgefühl, es schenkte ihm Familiensegen, eine Tochter, welche die einzige neben seinen vier Söhnen blieb, und mit der er stets in außerordentlicher Innigkeit zusammenhing. Dazu kam, dass Zacharias Frankel in selbigem Jahr die theologische Arena wieder mit einer "Monatsschrift" betrat, welche abweichend von der früheren "Zeitschrift" in erster Reihe wissenschaftlichen Interessen dienen sollte, und Graetz in ehrenvollster Weise zur Mitarbeit aufforderte. Freudig stellte er sich unter diese Fahne und veröffentlichte in schneller Folge im ersten Jahrgang der "Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums" (Oktober 1851 - Dezember 1852) eine ganze Reihe historischer Abhandlungen: "Jüdischgeschichtliche Studien", "Rezension der Rapoportschen Enzyklopädie", "die talmudische Chronologie und Topographie", "die absetzbaren Hohepriester während des zweiten Tempels", welche Abhandlungen sämtlich große Gelehrsamkeit, klaren Überblick und gereiftes Urteil bekunden. Es waren dies Vorarbeiten und Fundamente für die Darstellung der Ereignisse vom Untergang des jüdischen Staates bis zum Abschluß des Talmuds, mit der er sich lange schon herumgetragen, und welche er nun in raschem Fluß niederschrieb und fertig stellte.
Mittlerweile mag wohl im Laufe des Jahres 1852 bei der Behörde des Bezirksamts ein Wechsel eingetreten sein, oder der Wind umgeschlagen haben, denn Graetz macht auf einmal wider alles Erwarten die ganz überraschende und schmerzliche Wahrnehmung, dass die unermüdlichen Ränke und böswilligen De
[Einleitung: Biographie des Dr. H. Graetz, S. 61 ff.Digitale Bibliothek Band 44: Heinrich Graetz: Geschichte der Juden, S. 125 (vgl. GesJud Bd. 1, S. 36 ff.)]
 

nunziationen bei dem Bezirkshauptmann endlich doch verfangen hatten. Schwere Kränkungen und Demütigungen drohten ihm, die versuchte Gegenwehr erwies sich als aussichtslos, daraufhin kündigte er in Lundenburg sein Amt.
Es trieb ihn jetzt in das preußische Vaterland zurück, und er entschloß sich, mit seiner Familie nach Berlin überzusiedeln. Ihn leitete dabei die Hoffnung, dort für die Geschichte des talmudischen Zeitalters, die er fast druckreif beendet hatte, leicht einen Verleger zu finden. Es lag auch der Gedanke nicht fern, dass er zur Ausführung seines Planes, der auf eine Gesamtgeschichte der Juden gerichtet, bereits seinem Geiste deutlich vorschwebte, einer an Bibliotheken reichen Stadt, wie Berlin, füglich gar nicht entbehren könne. In der zweiten Hälfte des September 1852 traf er in Berlin ein, woselbst ihm Dr. Michael Sachs und andere Freunde wohlwollend und dienstwillig zur Seite traten. Sachs vermittelte ihm die Bekanntschaft des vortrefflichen Dr. Veit, der den Verlag seines Buches übernahm.
Im Winterhalbjahr 1852/53 hielt er, vom Berliner Gemeindevorstand aufgefordert, neben Zunz und Sachs geschichtliche Vorlesungen für Kandidaten der jüdischen Theologie, die beifällig aufgenommen wurden. Als er um die Mitte des Februar eine dieser Vorlesungen beendet hatte, trat der mit Recht eines großen Ansehens sich erfreuende Eisenbahndirektor und Redakteur einer angesehenen Zeitschrift, des "Magazin für die Literatur des Auslands", Joseph Lehmann aus Glogau, an ihn heran und fragte im Auftrage des Kuratoriums der Fränkelschen Stiftungen zu Breslau an, ob er eventuell in das Lehrerkollegium des in Breslau zu schaffenden Rabbinerseminars einzutreten gewillt sei, man unterhandle mit dem Oberrabbiner Dr. Frankel in Dresden wegen Übernahme der Direktion, derselbe habe unter anderen Bedingungen auch die Anstellung von Graetz als Lehrer gefordert, auf welche das Kuratorium mit Freuden eingehe und seine Erklärung wünsche. Graetz machte seine Zusage von der definitiven Entschließung Frankels abhängig, die letztere erfolgte bald hernach und die schwierigen Konferenzen über die Gestaltung des Seminars nahmen ihren Anfang.
Die Schwierigkeit bestand zunächst darin, dass gar kein Muster und Schema vorlag, an das man sich bei der Einrichtung einer rabbinischen Lehranstalt in Auswahl des Lehrplans, der Pensen und Wissenszweige anlehnen konnte, dass es sich um eine Neuschöpfung handelte, für welche es an jeder Erfahrung fehlte, und welche sofort durch praktische Ausgestaltung unter den überaus eigentümlichen Verhältnissen die Bürgschaft des Erfolges in sich tragen sollte. Überdies hatte der Stifter, Kommerzienrat Jonas Fränckel, bei seiner Testierung einige Bestimmungen getroffen, deren Realisierung unter den veränderten Zeitumständen der neuen Anstalt verhängnisvoll werden konnten.18 Es war der Geist Frankels, der mit klarer und energischer Einsicht das zu verfolgende Ziel erkannte, der den Plan, den Wissensstoff und Lehrgehalt für die künftige Anstalt feststellte und dadurch die Grundlagen für die jüdische Theologie der Gegenwart schuf. Auf seinen Wunsch, für sich und für das Kuratorium eine fachmännische Kraft jederzeit frei zur Verfügung zu haben, ging das letztere um so bereitwilliger ein, als auch sonst ein vermittelndes Element nicht ganz überflüssig erschien, da Frankel sich nur schweren Herzens von Dresden trennte und geneigt war, jeden ihm berechtigt scheinenden Anlaß zu benützen, um sein den Kuratoren gegebenes Wort zurückziehen zu dürfen. Zu solcher Aushilfe war nun Graetz vorläufig ausersehen.

6. Im Hafen des theologischen Lehramtes.

So trat denn Graetz den 1. Juli 1853 in den Dienst der in Vorbereitung begriffenen Anstalt mit der Zusicherung, falls Statuten und Plan die behördliche Genehmigung finden sollten, woran übrigens nicht zu zweifeln war, als einer der Hauptlehrer neben Frankel Verwendung zu finden. Zu gleicher Zeit verließ sein Buch die Presse und trat vor die Öffentlichkeit unter dem Titel "Geschichte der Juden vom Untergang des jüdischen Staates bis zum Abschluß des Talmud". Auf einem Nebentitelblatt war es zugleich bezeichnet als: "Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Vierter Band", damit von vornhinein ankündigend, dass schon mehr als der Plan und Umriß zu einer Gesamtgeschichte in seinem Geiste feststehe, und dass er eben nur mit dem vierten Band als dem erstgeborenen Buch seiner Geschichte zuerst herauskomme.
Es zeigte sich als ein glücklicher Wurf, dass unser Verfasser mit der Darstellung der talmudischen Zeit debutiert hatte. Es findet sein Gegenstück, insofern man beides überhaupt miteinander vergleichen kann, nur noch in der Biographie Raschi's, mit der Zunz, der Schöpfer der jüdischen Wissenschaft, seine bedeutsame Wirksamkeit eröffnet hatte. Wie es dort die Zeitgenossen enthusiasmiert haben soll, dass der von Kindheit auf ihnen vertraute, als unentbehrlicher Berater und Gefährte hochgehaltene Interpret für Bibel und Talmud aus dem verschwimmenden Nimbus eines überirdischen Glorienscheines heraus in die menschliche Wirklichkeit hinübertrat, so hat es eine ähnlich elektrisierende Wirkung geübt, als die nebelhaft dunkle Zeitepoche, in der die Grundbücher des nachbiblischen Judentums, Mischnah und Talmud, entstanden sind, mit einemmal unter helle Beleuchtung gestellt ward und die rabbinischen Urheber dieser Werke, deren Namen und Sinnsprüche allen geläufig waren, leibhaftig vorgeführt wurden. Diese Männer, welche man bis dahin nur für verkörperte Lehrsätze anzusehen gewohnt war, von denen man nicht viel weiter wußte, als dass sie sagten, fragten und zuweilen auch klagten, welche man sich wie eine Art polnischer Wanderrabbis oder Kabbalisten vorzustellen allenfalls geneigt war, - sie tauchten unter der Feder unseres Historikers aus dem wesenlosen Schein hervor; in ihren Adern pulsiert frisches Leben und heißes Blut, deutlich heben sich die scharfgeschnittenen Physiognomien in ihrem geistigen Gegensatz, mit ihren charakteristischen Vorzügen und Schwächen von einander ab. In bunter Mannigfaltigkeit stehen sie vor uns da als echte Ritter vom Geist, antike Charaktere von glühendem Patriotismus, von unbeugsamer Willenskraft und unverwüstlicher Glaubenshoffnung. Ebenso lebhaft und anschaulich wird die geistige Atmosphäre der Zeit nach ihren Stimmungen und Spannungen, Gärungen und Kämpfen geschildert, wie die Ideen, Parteiungen, Meinungen und Strebungen wirr und heftig durcheinander wogen und sieden, und wie daraus die treibenden Kräfte hervorgehen, welche durch das Spiel von Stoß und Gegenstoß den Ereignissen ihren geschichtlichen Verlauf bestimmen. Den Herzschlag der Zeit will Graetz hörbar und fühlbar machen. Darum kümmert es ihn wenig, ob Stil und Ausdruck immer schulgerecht bleiben, er scheut in seinen Worten nicht den schroffen Ton und in seinen Bildern nicht die satte, starke Farbe. Ohne Rücksicht auf irgend welche Empfindlichkeit wählt er die deutlichste, schlagendste Bezeichnung, um gemeinverständlich zu sein, um über seine Ansicht keinen Zweifel aufkommen zu lassen, um die Gestalten und Begebenheiten, wie sie in seinem Kopfe sich malen, in klarem Umriß und am richtigen Platz auf der Bildfläche hervortreten zu lassen. Es war begreiflich, dass das Buch bei seinem Erscheinen großes Aufsehen machte und sich sofort sein Publikum eroberte, bei dem es Gunst und Beifall in reichem Maße fand. Dagegen verhielten sich die gelehrten Fachgenossen zum größten Teil anfangs zurückhaltend. Sie stutzten über die neuen Momente, die, wie z.B. die christlichen Sekten
[Einleitung: Biographie des Dr. H. Graetz, S. 67 ff.Digitale Bibliothek Band 44: Heinrich Graetz: Geschichte der Juden, S. 131 (vgl. GesJud Bd. 1, S. 39 ff.)]
 

 

bildungen, zur Vervollständigung des Gesamtbildes ungescheut herangezogen wurden, und konnten sich nicht hineinfinden, dass moderne Schlagworte und feuilletonistische Wendungen auf jene alten Verhältnisse übertragen wurden.
Wenn der Verfasser beispielsweise Nachum aus Gimso, dem die vielen Widerwärtigkeiten seines Lebens immer zum Guten ausgeschlagen seien, als den "Candide"19 der tannaitischen Sagenwelt bezeichnet, wenn er die Details des Bar-Kochbaschen Aufstandes, dessen Kapitel zu den schönsten und ergreifendsten Partien seines Geschichtswerks gehören, aus einzelnen Namen und versprengten Trümmerstücken zu rekonstruieren sucht und sogar von zwei Verteidigungslinien, der Esdrelonlinie und der Tur-Malkalinie spricht,20 wenn er dem gefeierten R. Jehudah ha- Nassi "reizbare Empfindlichkeit" zuschreibt,21 wenn er, den talmudischen Berichten vertrauend, den Römern die zivilisatorische Mission in Asien abspricht und sie namentlich für Vorderasien als Kultur zerstörend, Moral vergiftend schildert, so waren die Kritiker und Sachkundigen damals mit sich noch nicht im Klaren und wagten nicht zu entscheiden, ob hier die Kühnheit einer genialen Originalität durchbricht, oder nur die Unmanier einer phantastischen Effekthascherei sich aufspielt, deren falscher Flitter die Probe der Zeit nicht bestehen würde. Es kam noch hinzu, dass die religiösen Parteien, welche unter den welterschütternden Ereignissen von 1848 und deren Nachwirkungen wohl den öffentlichen und lauten Streit eingestellt, aber in der Schärfe ihres Gegensatzes innerlich nicht nachgelassen hatten, scheel und unbefriedigt auf ein Buch blickten, das nur der Wahrheit dienen wollte und für keine andere Tendenz sich verwerten ließ. Die Anhänger der Reform warfen dem Verfasser vor, dass er den Talmud und seine Lehrer nur zu glorifizieren wisse, hingegen den wundesten Punkt, dass sie "die Versteinerung und Verknöcherung des Judentums" verschuldet hätten, mit keiner Silbe berühre,22 während die Stockorthodoxen darüber ungehalten waren, dass er die Träger der Tradition einer ihrer Anschauung nach unbefugten Kritik unterzieht und den traditionellen Lehrbegriff als das Produkt historischer Prozesse nachzuweisen sich bestrebt.23
Darüber freilich gab es nur eine Stimme, dass die jüdische Wissenschaft in Graetz einen hervorragenden, vielverheißenden Forscher gewonnen habe und dass dieser über eine ganz staunenswerte Gelehrsamkeit und Originalität verfügte. Man konnte ihm die Anerkennung nicht versagen, dass er durch seine Beherrschung der beiden Talmude und des gesamten Midrasch, durch seine Vertrautheit mit den Schriftwerken der Kirchenväter, durch die geschickte Methode, beide disparate Literaturkreise für kritische Punkte miteinander zu konfrontieren und sich gegenseitig beleuchten zu lassen, durch die glückliche Kombinationsgabe, etwaige über abgelegene Literaturgebiete verstreute Notizen, die überdies häufig noch einer Reparatur bedurften, als Ergänzungsstücke heraus zu erkennen und aneinander zu fügen, durch den scharfsinnigen Spürsinn, mit dem er verschollene geographische Namen und verwitterte Bezeichnungen, welche verschüttet und vergessen in irgend einem Winkel lagen, mit festem Blick herauszuheben, zu beleben und zu befruchten wußte,24 - dass er durch solche Vorzüge und Leistungen, welche durch die unvermeidlichen Verfehlungen und Verstöße im einzelnen keineswegs beeinträchtigt werden, die gelehrte Forschung wesentlich gefördert und die geschichtliche Erkenntnis erheblich bereichert hat. Wenn ein hoher Mut dazu gehörte, sich an eine der dunkelsten und schwierigsten Partien der jüdischen Geschichte heranzuwagen, für welche damals in Vorarbeiten und Spezialforschungen noch überaus wenig geschehen war, so konnten auch die Gegner "nicht umhin, einzugestehen, dass er seine Aufgabe im ganzen gut gelöst"25 habe.
Allerdings wurde es als ein noch höherer Mut angesehen und vielleicht auch ironisiert, dass Graetz auf dem Seitentitelblatt und in der Vorrede seines Buches, das er als vierten Band bezeichnet hatte, ohne Scheu und Schüchternheit ankündigte, er werde von demselben Standpunkt kritischer Geschichtsforschung und in gleicher Darstellungsweise eine Gesamtgeschichte der Juden liefern. Das wollte ein einzelner Mensch fertig bringen! War ihm denn wirklich die schöpferisch gestaltende Kraft des echten Historikers gegeben? Oder wollte er sich gar den historischen Lorbeer auf Kredit reichen lassen?
Die äußeren Verhältnisse gestalteten sich nun doch für ihn immerhin günstig genug, so dass die Ausführung seines kühnen Vorhabens dadurch in hohem Grade erleichtert schien. Nicht etwa dass sich eine Gemeinde oder gar ein Mäcen gefunden, um ihm die Mittel bereit zu stellen, die zur Durchführung einer Aufgabe, wie er sie sich vorgesetzt, erforderlich waren; wie noch ganz anders hätte er dieselbe gelöst, wenn er bei seiner wunderbaren Arbeitskraft in die Lage gesetzt worden wäre, die handschriftlichen Schätze der verschiedenen Bibliotheken in aller Muße zu durchmustern und zu benutzen! Eine derartige Gunst hat bis auf den heutigen Tag der jüdischen Wissenschaft noch nicht gelächelt, und es ist, als wenn unserer Glaubensgemeinschaft, die doch sonst für alle humanen Interessen ein einsichtiges Herz und eine offene Hand hat, noch immer nicht das richtige Verständnis für diese Ehrenschuld an die Vergangenheit aufgegangen wäre. Graetz war schon zufrieden, dass die drückende Sorge um das tägliche Brot von ihm genommen war, als am 10. April 1854 Statuten, Plan und Personalien des Rabbinerseminars die Bestätigung der preußischen Regierung erlangten. Wiederum siedelte er nach Breslau über, wo sein literarischer Stern zuerst aufgetaucht war und er sich einstmals vergebens bemüht hatte, festen Fuß zu fassen, um fortab als ordentlicher Lehrer an der ersten jüdisch-theologischen Bildungsanstalt, die am 10. August 1854 unter der Direktion Frankels eingeweiht und eröffnet wurde und den Namen "Jüdisch-theologisches Seminar, Fränckelsche Stiftung" erhielt, eine ihm erwünschte Lebensstellung einzunehmen.
Es war eine providentielle Fügung, dass drei Männer von so ungewöhnlicher Bedeutung wie Frankel, als Direktor der neuen Anstalt, Graetz und Jakob Bernays, als ihre ordentlichen Lehrer, dazu berufen waren, die theologische Bildung des Rabbinentums in die moderne Richtung hinüberzuleiten. Jeder von ihnen hatte seine ausgeprägte Eigenart, jeder von ihnen war ein homo trium litterarum in dem Sinne, dass sie, ein jeder nach Vortritt und Maßgabe seines Spezialstudiums, das hebräisch-rabbinische, das antike und das moderne Schrifttum beherrschten, jeder von ihnen hatte sich durch ernstes und tiefes Denken zu einer konservativen Auffassung des Judentums durchgerungen. Jakob Bernays,26 ein Meister der klassischen Philologie von weithin reichendem Ruf, besaß unstreitig das wirkungsvollste Lehrgeschick, das jedoch begabte Schüler hauptsächlich zu seiner Voraussetzung forderte, Frankel wirkte durch organisatorische und praktische Befähigung und übte eine Autorität, welche die Zöglinge in religiöser, wie wissenschaftlicher Richtung auf das Heilsamste beeinflußte; beide hatten jedoch das Streben, ihre wissenschaftliche Sonderart dem Schüler aufzuprägen, wohingegen Graetz auf jede Individualität achtete und seine Lehrtätigkeit besonders auf die Anregung, Befruchtung und Aufmunterung seiner Hörer zu richten pflegte. Während Frankel gern die straffe Ordnung und minutiöse Sorgfalt des elementaren Schulwesens auf sein theologisches Seminar übertragen wollte,27 weil ihm am Herzen lag, tüchtige Talmudisten und praktische Rabbiner auszubilden, und Bernays wiederum den romantischen Schimmer einer theologischen Fakultät im Auge hatte und theologische Gelehrte heranzuziehen wünschte, war Graetz mit richtigem und gesundem Takt bemüht, zwischen beiden Gegensätzen zu vermitteln und eine Mittelrichtung für die Anstalt anzustreben. Obschon nun Frankel mit fester Hand das direktoriale Steuer führte, war er doch einsichtig und wohlwollend genug, auf klugen Rat zu hören und den Wünschen und Anschauungen seiner Mitarbeiter Rechnung zu tragen, so dass das Lehrer
[Einleitung: Biographie des Dr. H. Graetz, S. 73 ff.Digitale Bibliothek Band 44: Heinrich Graetz: Geschichte der Juden, S. 137 (vgl. GesJud Bd. 1, S. 43 ff.)]
 

 

kollegium sich immerdar im besten Einvernehmen befand, was auch auf die Jünger wohltuend zurückwirkte.
Neben Frankel, der mit Fug und Recht, so lange er lebte, amtlich und moralisch eine dominierende Stellung behauptete, der im Aufblühen der Anstalt den Ruhm seines Tagewerks sah, und da er kinderlos war, in seinen Schülern seine Kinder erblickte und sich ihrer aller wahrhaft väterlich annahm, war es Graetz, der seine Räume seinen Hörern gastlich öffnete, jedem von ihnen, der bei ihm um Hilfe und Rat nachsuchte, bereit und willig zur Verfügung stand und namentlich zugunsten derer, die seine Sympathie besaßen oder von deren Fähigkeit und Charakter er eine gute Meinung gefaßt, mit der ganzen Lebhaftigkeit seines Temperaments sich einzusetzen liebte. Durch die Dozentur an dem Breslauer Seminar, mit dessen Interessen er sich ebenso wie Frankel identifiziert hatte, war er endlich nach vielen Querzügen und nach mancherlei Jahren von sorgenvoller Ungewißheit in das erwünschte Fahrwasser gekommen, in dem er in voller Unabhängigkeit alle Segel seines geistigen Wesens aufspannen und mit aller Kraft sich hinter die Ruder legen konnte, um geschwellt von dem frohen, hoffnungsvollen Mut seiner sanguinischen Art, begünstigt von Wind und Flut, dorthin zu steuern, wohin ihn der Zug seiner Natur trieb. Jetzt fielen endlich äußere Amtspflicht und innere Berufsneigung für ihn zusammen; indem er den Dienst, für den er bestellt war, treu und eifrig besorgte, förderte er zugleich das Werk, das er als Lebensziel sich vorgesetzt und das nun in regelmäßiger, ununterbrochener Folge seiner vollen Verwirklichung entgegenschritt.
Im Jahre 1856 erschien der dritte Band "Geschichte der Juden von dem Tode Juda Makkabis bis zum Untergang des jüdischen Staates", um dadurch seine Auffassung der talmudischen Epoche, mit der er "als der am wenigsten innerlich verstandenen" begonnen hatte, zu ergänzen und zu begründen, und um zugleich den ganzen Boden klar und fest zu stellen, in welchem die Wurzeln für die jüdische Geschichte des diasporischen Zeitraumes liegen. Die Geschichte der Diaspora bis auf die neueste Zeit herab wollte er nämlich zuerst erledigen, und so war er wieder, wie er in der Vorrede zu dem darauf folgenden Band erklärte, "in das rechte Geleis eingefahren", als er im Jahre 1860 den fünften Band veröffentlichte: "Geschichte der Juden vom Abschluß des Talmud (500) bis zum Aufblühen der jüdisch-spanischen Kultur (1027)".
Nun mußte jeder Zweifel schwinden, es war dem Judentum nach langen Jahren ein echter Historiker erstanden.

7. Der Historiker.

Bei dem damaligen Stand der jüdischen Wissenschaft, wo es für alle Seiten und Zeiten an sorgfältigen Einzelforschungen noch fehlte, hielt man die Zeit noch gar nicht gekommen, um eine Geschichte der Juden mit Aussicht auf Erfolg schreiben zu können. Einem solchen Unternehmen schienen innere und äußere Schwierigkeiten, schier unübersteiglich, und noch dazu gewaltige Vorurteile entgegen zu stehen. Graetz achtete ihrer nicht. Ohne jede Unterstützung seitens einer Behörde oder irgend einer Körperschaft, rein und allein aus der überschwellenden Kraft des eigenen Genius hat er das anscheinend unausführbare Werk vollbracht. Er hat seinen Glaubensgenossen die Geschichte geschaffen und die allgemeinen Sympathien für die Vergangenheit des Judentums geweckt. Mit kühner Hand wagte er es, von den geschwärzten und verdunkelten Bildern die Staubkruste und das Spinngewebe abzuheben und den abgeblaßten, verblichenen Konturen und Formen neue Frische und strahlenden Farbenglanz wiederzugeben. Die wichtigsten Momente, auf denen das Verdienst und die Wirkung seiner Geschichtsschreibung beruht, mögen noch besonders hervorgehoben werden.
Er hat vor allem den richtigen Standpunkt, von dem aus der geschichtliche Verlauf des Judentums beurteilt werden muß, zwar nicht geschaffen, aber doch zuerst hergerichtet und durchgeführt; er hat allenthalben das Gesichtsfeld frei gelegt, um die verschiedenen und vielgestaltigen Phasen dieses Verlaufs leicht und sicher überblicken zu können. Es gab für ihn nur einen einzigen Vorgänger,28 der als solcher in Betracht kommt, Isaak Markus Jost. Derselbe war schon 1820 mit einer "Geschichte der Israeliten seit der Zeit der Makkabäer" hervorgetreten und hatte sie bis 1829 in neun Bänden bis auf die Gegenwart hinabgeführt, woraus er 1850 einen etwas verbesserten, schon mit Abraham beginnenden Auszug "Allgemeine Geschichte des israelitischen Volkes" in zwei Bänden gegeben; aber als wirklicher Pfadfinder hat er sich dabei nicht erwiesen. Jost war ein Gelehrter, aber kein Historiker; ein edler, verdienstvoller Mann, hat er durch seine reichen Kenntnisse für die Förderung der jüdischen Geschichtsschreibung viel getan, aber er hat keine geschichtlichen Offenbarungen empfangen, auch nicht solche durch frohes, kräftiges Auftun seines Mundes weiter verkündet. Bei dem gänzlichen Mangel an Vorarbeiten und Spezialforschungen war es zu jener Zeit schon eine nicht hoch genug anzuschlagende Leistung und ein großes Verdienst, dass Jost die mehr oder minder offen zutage liegenden, jedoch überaus zerstreuten Daten aufgesucht und zusammengetragen hat, dass er ihren Inhalt zu erforschen und durch Vergleichung richtig zu stellen suchte, und dadurch doch ein Handbuch für das Chaos von verwirrenden Einzelheiten und Tatsachen lieferte. Seine Geschichtsdarstellung erscheint jedoch wie eine Art Herbarium, eine aufgespeicherte Sammlung von Personen und Vorkommnissen, welche durch keinen höheren Pragmatismus aneinander geknüpft, nur nach äußerlichen, oberflächlichen Gesichtspunkten klassifiziert werden. Die Reflexion ist nüchtern und dringt nicht in die Tiefe, der Stil trocken, umständlich und eintönig, ohne Feuer und Kraft. Von einer lebendigen Vergegenwärtigung der Vergangenheit ist nichts zu spüren. Voller Verehrung für das Römertum, von christlichen Anschauungen durchsetzt, ist er unbewußt in der innerlichen Scheu befangen, nicht auf der Höhe des Zeitbewußtseins zu stehen und fürchtet, des Mangels an Objektivität geziehen zu werden, wenn er dem Judentum und dem Rabbinismus vollauf gerecht werden soll; daraus fließt seine Verkennung der Pharisäer und ihrer Nachfolger, der Rabbinen, wie seine schiefe, fast karikaturenhafte Behandlung des Talmud und des dazu gehörigen Schrifttums. Er fühlte, dass schon die bloße historische Betrachtung des Judentums zu dessen Glorifizierung wurde, aber er wollte um keinen Preis als Apologet desselben gelten.29 Von derartigen Bedenken und Rücksichten war Graetz durchaus frei, irgendwelche Furcht oder Scheu hat zur Bildung seines Urteils und seiner Anschauung niemals mitgewirkt, und hat ihn ebenso wenig gehindert, unbekümmert ob er bei Freund oder Feind damit anstößt, sich in seinem vollen Empfinden auszusprechen. Er war der erste moderne Schriftsteller, der bei der Würdigung der jüdischen Vergangenheit mit dem Standpunkt der christlichen Anschauung ganz und gar gebrochen hat, er hat es zuerst versucht, die Entwickelung des Judentums, wie es ja bei jeder anderen Erscheinung geschieht, aus sich selbst heraus zu begreifen und von diesem Gesichtspunkt aus, ohne Schönfärberei zu treiben, Licht und Schatten gleichmäßig darzulegen. Es war erst kurze Zeit, dass Graetz in Berlin sich aufhielt, als er im Hause von Michael Sachs mit Zunz zusammentraf. Der Hausherr stellte die beiden Männer, die sich persönlich noch nicht kannten, einander vor und bemerkte zum Lobe von Graetz, dass derselbe eben im Begriff sei, eine jüdische Geschichte zu veröffentlichen. "Wieder eine Geschichte der Juden?" fragte Zunz spitz.30 "Allerdings" replizierte Graetz scharf "aber dieses Mal eine jüdische Geschichte!" In der Tat war Graetz der erste, welcher der jüdischen Geschichte das ihr gebührende Recht wiederzugewinnen suchte und den Standpunkt der jüdischen Anschauung geltend machte. Die christliche Anschauung erblickt
[Einleitung: Biographie des Dr. H. Graetz, S. 79 ff.Digitale Bibliothek Band 44: Heinrich Graetz: Geschichte der Juden, S. 143 (vgl. GesJud Bd. 1, S. 47 ff.)]
 

 

nämlich die Vollendung und den Abschluß der Lehre Moses und der prophetischen Verkündigungen in dem Glauben an die Messianität des Gottmenschen und an die Wunder, die von seiner Geburt, seinem Tod und seiner Auferstehung berichtet werden; nur was auf diesem dogmatischen Glaubensboden wurzelt, könne sich zum richtigen Gottesbegriff, zu wahrer Sittlichkeit erheben und die Fortbildung der Zivilisation fördern. Das Judentum habe demnach, indem es das Christentum aus sich herausgesetzt, seine religiöse Mission erschöpft, und mit dem fast gleichzeitigen Zusammenbruch seiner nationalen Selbständigkeit sei seine geistige Bedeutung und sein geschichtliches Leben erloschen; was sich darüber hinaus fortspinnt, sei nichts weiter als Verkümmerung und Entartung, Thoravergötterung und religiöser Formalismus.
Dieser von bewußter oder unbewußter Befangenheit getrübten Auffassung will Graetz eine wahrheitsgetreue Darstellung der Tatsachen, frei von jeder Tendenz, Geflissentlichkeit und Schönmalerei gegenüberstellen; es bedarf nach seiner Meinung nur einer objektiven, vorurteilslosen Geschichtsbetrachtung, um die durch Not und Druck immer wieder hindurchbrechende Lebenskraft und den fortwirkenden Geistestrieb des Judentums zu erkennen, wie es unabhängig von seiner nationalen Existenz, getragen von der Macht seiner Innerlichkeit und Idealität, den Ausbau seines monotheistischen Lehrbegriffs und sittlichen Gedankens fortsetzt, wie es trotz seiner unsäglichen Leiden Denker und Dichter, selbst Staatsmänner erzeugt, wie es, obwohl entwurzelt und zersplittert, an den Kulturaufgaben der Menschheit eifrig und erfolgreich mitgearbeitet hat. Der Standpunkt solcher Geschichtsbetrachtung ist von Graetz energisch aufgenommen und konsequent durchgeführt worden und damit der Boden bereitet, um die verschiedenen Seiten des Judentums in ihrer Fülle und Reichhaltigkeit zu Bewußtsein und Verständnis zu bringen.
Graetz hat ferner nicht nur neue Quellen erschlossen, er hat den bereits erschlossenen nicht selten neue Gesichtspunkte und überraschende Aufklärungen abgewonnen. Er verstand es besonders, jüdischen Berichten, die fast verblaßt schienen oder gar unglaubwürdig klangen, durch Aufspürung schwer erkennbarer Parallelen und Belege bei nichtjüdischen Schriftstellern den farbenfrischen Hintergrund oder die lebensvolle Wirklichkeit oder doch den tatsächlichen Kern zu rekonstruieren, und suchte bald mit mehr bald mit weniger Glück überall Mittelglieder und Ergänzungsstücke heraus zu finden und einzufügen. Als er mit dem Mut der Begeisterung an das kühne Werk ging, war die jüdische Geschichte zumeist noch ein weites, unübersehbares Trümmerfeld, über welches flammende Ereignisse ihre Lava ergossen, der Staub der Jahrtausende sich niedergeschlagen hatte. Nur einzelne Schöpfungen ragten aus der weiten unwegsamen Öde der trostlosen Verwüstung spärlich hervor; sonst gab es weder Steg noch Spur, um sich in diesem Labyrinth von Trümmern, Schutt und Gestrüpp zurecht zu finden. Allerdings hatten die großen Schöpfer der jüdischen Wissenschaft, Zunz und Rapoport, welche noch immer nicht, ihrem außerordentlichen Verdienst entsprechend, nach Gebühr von unseren Glaubensgenossen gewürdigt sind, bereits ihre trefflichen, grundlegenden Vorarbeiten gefördert; weite Strecken waren wohl von ihnen erfolgreich aufgeschlossen und fruchtbar gemacht worden, dieselben glichen jedoch nur kleinen oder größeren Inseln in dem wüsten Schuttmeer, sie boten keinen Überblick über das Ganze, reichten nur selten über das literarische Gebiet hinaus und führten nicht zu den das Gesamtgebiet beherrschenden Knotenpunkten. Hierin hat sich Graetz vornehmlich als Pfadfinder betätigt. Welche Zeit er auch behandelt, wie sehr er den Einzelheiten auf den Grund zu gehen sucht, sein Blick bleibt unverwandt auf das Ganze gerichtet, allenthalben will er durch das wild wuchernde Buschwerk einen Weg schlagen, oder aus den umher verstreuten Splitterstücken und ihren Bruchflächen die Adern und Linien erkennen, an denen sich die wesentliche Richtung und der Verlauf des historischen Prozesses verfolgen läßt. Durch die Energie, mit der er große Gedankenmassen fast spielend zu bewältigen und zu gruppieren versteht, durch die Klarheit, mit der er in seinen gelehrten Exkursen das Für und Wider disparater Berichte, Belege und Indizien einander gegenüberstellt, um dann mit geschickter Hand den leitenden Faden aus dem verknäuelten Durcheinander herauszugreifen und festzuhalten, durch die Enschiedenheit, mit der er, auch auf die Gefahr zu irren, zu allen Ereignissen und Persönlichkeiten scharf Stellung nimmt und seiner Stellungnahme einen unumwundenen, kräftigen Ausdruck gibt, ist es ihm gelungen, in das öde und wirre Chaos des geschichtlichen Stoffes Licht und Übersichtlichkeit, Ordnung und System zu bringen. Man vergleiche einmal die Betrachtungen, welche er als "Einleitung" einzelnen Teilen seines Werkes, wie dem 4., 5., 7. vorausgeschickt, um den glücklichen Blick zu würdigen, mit dem er die treibenden Ideen und die orientierenden Punkte herauszuheben und zu fixieren versteht; es ist dies nicht bloß in großen und allgemeinen Zügen hingeworfen, es wird auch im einzelnen ausgeführt.
Um doch das eine oder andere Beispiel dafür beizubringen, wie unser Historiker auf solche Weise die geschichtliche Forschung gehoben und auch bereichert hat, sei auf das Kapitel von Gaon Saadiah (Bd. 5) hingewiesen, der von Rapoport ans Licht gezogen worden, über den Geiger dann wertvolle Aufschlüsse gegeben, dessen epochemachende Bedeutung und schriftstellerische Tätigkeit erst von Graetz in das volle Licht gerückt wurde. - Chasdai Creskas ist in seinem hochbedeutsamen Einfluß auf philosophischem und sozialem Gebiet erst von Graetz wieder erkannt (Bd. 8) und gewürdigt worden. - Der große Religionsdisput von Tortosa, über den eine gute jüdische Quelle berichtet, ist doch erst durch eine scharfsinnige Konfrontation dieser Quelle mit christlichen Mitteilungen in seinem geschichtlichen Zusammenhang und seiner politischen Tendenz (Bd. 8) klar gestellt worden. - Aus dem sagenhaften Zwielicht, das die Schwärmer David Reubeni und Salomo Molcho umspielte, und dem man keinen größeren Glauben als etwa einer Halluzination und Phantasterei beizulegen geneigt war, hat Graetz (Bd. 9) die abenteuerliche Wirklichkeit herausgefunden. Er besaß eben einen merkwürdigen Instinkt für die Realität von Tatsachen, so verwunderlich sie auch erschienen, und dazu eine seltene Sagazität, um einen entstellten Text auf seinen tatsächlichen Inhalt zu verstehen und zu emendieren.
Solche Eigenschaften hatten ihn befähigt, die talmudische Denk- und Ausdrucksweise erfolgreich in die moderne Empfindung und Anschauung zu übertragen und eine musterhafte Anleitung zu geben, wie man die Schriften der talmudischen Zeit als wertvolle Geschichtsquellen kritisch zu verwerten und auszunutzen habe. Die nichtjüdischen Gelehrten und Ungelehrten waren schnell fertig damit, was so häufig auf diesem Schriftgebiet unverständlich oder befremdlich lautet, als talmudische Unwissenheit oder rabbinischen Aberwitz zu erklären, und die Männer der jüdischen Aufklärungsperiode schwankten zum mindesten, ob sie nicht solcher Verurteilung beipflichten müßten. Graetz wies nun nachdrücklich darauf hin, dass gerade in den historischen Relationen meist eine heillose Verwüstung des Textes eingerissen sei, welcher repariert werden müsse. Ebenso liege zuweilen bald eine pragmatische, bald eine tendenziöse Ausgestaltung der geschichtlichen Überlieferung vor, oder es haben legendäre Schichten um einen tatsächlichen Kern sich abgelagert, der eben herauszuschälen sei; ganz abgesehen davon, dass die plastische Ausdrucksweise der Rabbinen einem fremden Anschauungskreis entlehnt, durch moderne Begriffe ausgelöst werden müßte.
Um auch hiefür eine Probe beizubringen, so wird in einer altrabbinischen Chronik Seder olam rabbah berichtet, dass von dem Krieg des Vespasian bis zum Kriege des Titus () 22 Jahre abliegen. Ist es schon unhistorisch und unberechtigt, zwischen einem Krieg des Vespasian und einem solchen des Titus zu
[Einleitung: Biographie des Dr. H. Graetz, S. 85 ff.Digitale Bibliothek Band 44: Heinrich Graetz: Geschichte der Juden, S. 149 (vgl. GesJud Bd. 1, S. 51 ff.)]
 

 

scheiden, so bleibt die Zeitangabe von 22 Jahren schlechterdings unbegreiflich; dieselbe unverständliche Scheidung zwischen einem Krieg des Vespasian und des Titus wiederholt sich auch in der Mischnah zum Schluß des Traktats Sotah. Graetz änderte nur einen einzigen Buchstaben in und liest statt (Titus) vielmehr (Kitus) = Quietus. Damit hat er einen palästinensischen Aufstand unter Lucius Quietus entdeckt, über den freilich nichts näheres zu erfahren ist, dessen Existenz aber außer Zweifel steht; merkwürdigerweise ist diese ebenso einfache, wie geistvolle Konjektur durch eine handschriftliche Lesart bestätigt worden.31 - Nicht minder seltsam klingt eine Erzählung (Sabbath 17a): "Man steckte ein Schwert ins Lehrhaus und sagte: wer will, darf hineingehen, aber niemand darf herausgehen usw." Graetz löst dieses Rätsel: eine terroristische Synode, in dem ersten Jahr der Revolution gegen Nero von den Schammaiten in Szene gesetzt,32 wie er überhaupt den Gegensatz zwischen der Schule Hillels und Schammais nicht bloß als einen theoretischen, sondern als einen politischen erfaßt und in den verbissenen Zeloten die extremen Schammaiten wieder erkannt hat. "Ein anerkennenswertes Verdienst hat sich Graetz durch Aufdeckung dieser bis dahin von niemand recht gewürdigten Tatsache (der terroristischen Synedrialsitzung) erworben, welche an sich sehr bedeutsam erscheint und noch mehr Beachtung fordert wegen anderer sich daran knüpfenden Ergebnisse ... Jedenfalls ist ein zweites Verdienst des Herrn Graetz, nämlich die Benützung der Megillath Taanith als Geschichtsquelle und die Ermittelung der Angaben derselben, wenn auch manches noch zweifelhaft bleibt, von gleich großer Bedeutung," so urteilt der Historiker33 Jost, gewiß ein spruchbefugter Richter in diesen Dingen.
Wo soviel Licht ausstrahlt, kann es auch an Schatten nicht fehlen. Die Kehrseite seiner hohen Vorzüge zeigt sich darin, dass er seine Subjektivität zuweilen stark vorwalten läßt, dass er bei seinen Hypothesen allzusehr nach klarer, scharfer Bestimmtheit strebt, während die Ere gnisse häufig ineinander fließen, die Charaktere oft vielleicht wechselnden, widersprechenden Stimmungen und Motiven nachgeben, die Texte möglicherweise von ihren Verfassern eine uns gar nicht mehr verständliche, unberechenbare, selbst irrationelle Wendung erhalten haben. Es kann überhaupt doch nicht Wunder nehmen, wenn bei einem geschichtlichen Riesenwerk von zwölf umfangreichen Bänden, - wo stets durch das Unterholz kleinlicher Einzelberichte der zu einer pragmatischen Betrachtung des Geschehens führende Pfad aufgefunden wird, neue Tatsachen oder doch neue Gruppierungen ermittelt werden - einzelne Inkorrektheiten, menschliche Versehen und Verstöße mitunterlaufen. Derartige Mängel und Schwächen verschwinden vor dem Reichtum des Dargebotenen, vor der Größe der Leistung. Perspektive, lebendige Charakteristik, scharfe Zeichnung, leuchtendes Kolorit verdankt die jüdische Geschichte einzig und allein seiner phantasievollen Feder; er hat dadurch neue Probleme angeregt, hat die historischen Typen geschaffen, er hat gleichsam das ganze Kartennetz für die jüdische Geschichte vorgezeichnet. Als sein höchstes, von keinem anderen bisher erreichtes Verdienst muß jedoch gerühmt werden, dass er durch sein gemeinfaßliches, hinreißendes Wort sich in allen Schichten seiner Glaubensgenossen Eingang verschafft34, in ihnen das Bewußtsein einer trotz aller Verfolgungen und Erniedrigungen ruhmvollen Vergangenheit wieder angeregt und den Glauben an die geistige Zukunft Israels neu geweckt hat. Mit der Energie und Glut seines Temperamentes hatte er gleichsam das eigene Dasein in die Vergangenheit seines Stammes getaucht, hatte er sich in die geheimsten Regungen der jüdischen Volksseele versenkt. "Wie ein vertrauter Bekannter und Genosse wandelt er" unter den Rabbinen, Philosophen und Dichtern, deren Physiognomien er zeichnet; man merkt es ihm an, wie bei bevorstehenden Stürmen Furcht und Hoffnung, bei hereinbrechenden Katastrophen Angst und Qual durch seine Brust wogt und wühlt, und man wird von diesen Gefühlen mitergriffen. Er zittert beispielsweise bei dem Gedanken an die Schmach und das Unheil, das die Verirrung des Pseudomessias Sabbathai Zewi über Juda heraufbeschwören wird, und tröstet sich mit der Fülle des Lichtes, das gleichzeitig aus jüdischem Quell in Spinoza über die Welt heraufzieht, indem er beide, wie es seine mit Vorliebe geübte Weise ist, Menschen und Ereignisse durch ihren Gegensatz sich gegenseitig beleuchten zu lassen, als grellen Kontrast einander gegenüberstellt; beide aus demselben spekulativen, das Unendliche suchenden Trieb des Judentums hervorgegangen, beide schließlich von ihrem jüdischen Ursprung sich lösend, der erstere, von dem mystischen Irrlicht verlockt, in dem moralischen Sumpf schwindelhafter Verworfenheit versinkend, der letztere, von philosophischem Geist getragen, zur wetterlosen aber kalten Höhe eines idealen Weisen sich emporschwingend.35 Seiner schöpferischen und zugleich warmblütigen Gestaltungskraft ist es gelungen, in die kalte Atmosphäre stumpfer Gleichgültigkeit, welche sich immer erstarrender über die Gemüter der jüdischen Glaubenswelt ausbreitete, den warmen erlösenden Frühlingshauch zu leiten und das allgemeine Interesse für den Geist und die Geschichte des Judentums neu zu beleben. Der populärste Schriftsteller innerhalb der jüdischen Wissenschaft, konnte er den für einen jüdischen Autor beispiellosen Erfolg verzeichnen, dass sein so bändereiches Werk, welches nur auf gelehrte Leser berechnet schien, in verhältnismäßig kurzer Zeit es auf drei Auflagen, ja in einigen Teilen sogar zu einer vierten Auflage gebracht hat; dasselbe ist überhaupt Gemeingut der gesamten Glaubensgenossenschaft geworden und wurde in alle Weltsprachen übersetzt, ins Französische, ins Englische, ins Russische, und last not least, ins Hebräische36.
Die einzige Förderung, die Graetz dabei erfahren, ging von einem Literaturverein aus, den Dr. Ludwig Philippson, der genialste und fruchtbarste Journalist des Rabbinertums und dazu ein ungewöhnliches, erfolgreiches Organisationstalent, 1855 unter dem Namen "Institut zur Förderung der israelitischen Literatur" ins Leben gerufen. Für einen durchaus mäßigen Jahresbeitrag wurden mehrere sehr gute Bücher alljährlich geliefert, unter welchen allerdings meist ein Geschichtsband von Graetz die pièce de résistance bildete. Dadurch war seiner Geschichte von vornherein eine große Verbreitung gesichert, anderseits aber wurde auch das "Institut" so wirksam durch die Graetzschen Bücher getragen, dass dasselbe, als Graetz den letzten (elften) Band wegen Differenzen mit Philippson aus diesem Verlag zurückzog, sich nicht lange mehr halten konnte. Dahingegen hat es dem Historiker an zahlreichen Anfeindungen, Eifersüchteleien und Nörgeleien nicht gefehlt. Man benützte ihn allenthalben und sekretierte ihn am liebsten. In der ersten Zeit namentlich mäkelte und meisterte man an seiner Arbeit herum, als wenn jeglicher Banause, der in seinem beschränkten Kreise als kenntnisreicher Talmudist angesehen wurde, nur die Feder anzusetzen brauchte, um solch eine Geschichte viel besser zu schreiben und richtiger zu gestalten. Als man später jedoch anerkennen mußte, geschah es meist nur mit halber Stimme und mit sauersüßer Miene. Die jungen Theologen beider extremer Richtungen nach rechts wie nach links konnten sich nicht genug tun, ihm im einzelnen allerlei Verstöße und Irrtümer nachzuweisen, ohne zu ahnen, dass sie ihn dabei größtenteils mit seinem eigenen Fett beträufelten, und ohne zu begreifen, dass ein solches Monumentalwerk sich der kleinen Flecken und Verbildungen gar nicht erwehren könne. Mit seinem einstigen Lehrer Samson Raphael Hirsch war es darüber zu einem vollständigen Bruch gekommen. Doch ließ sich seine arbeitsfrische, lebensfrohe Natur von alledem nichts anfechten, auch der durchschlagende Erfolg seiner Schriften wurde dadurch nicht im mindesten aufgehalten. Mit besonderer Genugtuung erfüllte ihn die Auszeichnung, als er im Dezember 1869 von der preußischen Regierung zum Honorarprofessor an der Breslauer Universität ernannt wurde; der schwache Punkt seines
[Einleitung: Biographie des Dr. H. Graetz, S. 91 ff.Digitale Bibliothek Band 44: Heinrich Graetz: Geschichte der Juden, S. 155 (vgl. GesJud Bd. 1, S. 55 ff.)]
 

 

Lebens, gegen den seine hämischen Gegner ihre Pfeile mit Vorliebe richteten, der Mangel an einem zunftmäßigen Stufengang der gelehrten Laufbahn, ward durch diese behördliche Anerkennung wesentlich ausgeglichen und saniert.
Mit dem Erscheinen des elften Bandes im Jahre 1870 hatte er die jüdische Geschichte von der Erhebung der Makkabäer bis dicht auf die Gegenwart - 1848 - durch neun Bände hindurch in ununterbrochener Aufeinanderfolge hinabgeführt. Es galt jetzt, um das Werk zu vervollständigen und abzuschließen, die Uranfänge des Judentums, die biblische und vormakkabäische Zeit zur Darstellung zu bringen. Graetz hatte dieser Partie die angelegentlichste Sorgfalt gewidmet und auf ihre Darstellung großen Wert gelegt, weil er die Behandlung gerade dieser Geschichtsperioden für eine der schwierigsten Aufgaben hielt. Sie war natürlich nicht ohne bibelexegetische und textkritische Forschungen zu lösen, für solche jedoch glaubte sich Graetz besonders befähigt und berufen, wie er ihnen sein ganzes Leben hindurch mit besonderer Vorliebe obgelegen. Ehe er jedoch an die Geschichtserzählung von Israel und Altjuda herantrat, drängte es ihn, das heilige Land Israels, das er so oft mit seiner Seele suchte, auch mit eigenen Augen zu schauen Es war wohl ebenso sehr der Drang der Sehnsucht, wie ein künstlerischer Trieb, der ihn unwiderstehlich nach Palästina zog, um den weihevollen Stätten, welche die Unterlage und die Zeugen jener altehrwürdigen Begebenheiten gewesen, für die Schilderung dieser Begebenheiten die lokale Farbe und Stimmung abzulauschen. Schon 1865 hatte er eine Palästinafahrt geplant, aber erst im März 1872 konnte er, als sich zwei Freunde ihm anschlossen, den Plan ausführen. Da er dabei nur auf seine engen Privatmittel angewiesen war, auch auf seine Reisegefährten Rücksicht zu nehmen hatte, so konnte ihn wohl die dabei gewonnene wissenschaftliche Ausbeute nicht recht befriedigen, er hatte indes gefunden, was zu suchen er eigentlich ausgezogen war; hatte er doch Eindruck, Schwung und Begeisterung heimgebracht. In schnellem Fluge veröffentlichte er nun von 1874 ab hintereinander die zwei beziehungsweise drei37 ersten Teile über die biblische und vormakkabäische Zeitepoche und schloß 1876 die Kette seiner Geschichtsdarstellung ab, indem er die ersten Glieder anfügend das Ganze krönte. Das Wort, mit dem er kühn hervorgetreten, als er 1854 mit dem vierten Band seine historische Laufbahn eröffnete, "eine Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart nach den Quellen neu zu bearbeiten", war jetzt glänzend eingelöst. Ein Werk war vollendet, das großartig in seiner Konzeption, klar und durchsichtig in seiner Ausführung, fesselnd und anziehend in seiner Darlegung, den Weg zum Herzen seiner Glaubensgemeinde nicht verfehlt hat, über das die Gegenwart bisher noch nicht hinausgekommen ist, das der jüdischen Geschichtsschreibung die bleibenden orientierenden Grundlagen geschaffen hat. Durch die mancherlei kleinen Schlacken und Verfehlungen, wie sie ja jeder menschlichen Arbeit anhaften, wird an dem Gesamteindruck nichts geändert; mögen auch vielfach im einzelnen die Tatsachen durch Erschließung ungeahnter, verborgener Quellen korrigiert und bereichert werden, auf die allgemeinen Gesichtspunkte, die pragmatischen Anschauungen, die bewegenden Ideen, wie er sie aus den schwer zu verfolgenden Zuflüssen und Abflüssen im Stromlauf der jüdischen Geschichte erkannt und fixiert hat, wird man immer wieder zurückkommen müssen. Graetz' Geschichte der Juden, so voluminös auch ihr Umfang ist, wird dem eisernen Bestand der jüdischen Literatur einverleibt bleiben.

8. Der Exeget.

Die zwei oder vielmehr drei ersten Teile des Geschichtswerkes greifen bereits in die bibelexegetischen Studien über und zeigten daher in ihren Vorzügen und Schwächen alle Merkmale seiner bibelkritischen Exegese. Es schien fast, als wenn Graetz nur die Fertigstellung der nachmakkabäischen, bis an die Gegenwart herangerückten Geschichte des Judentums abwarten wollte, um alsdann die zweite Phase seiner schriftstellerischen Tätigkeit mit voller Kraft aufzunehmen. Diese zweite Phase seiner literarischen Wirksamkeit, die er sich ebenfalls als Lebensziel gestellt, galt der Exegese und der Kritik der biblischen Schriften, sie beginnt 1871 und hat ihn seitdem unaufhörlich beschäftigt, bis ihm der unvermutete Tod die bibelkritische Feder aus der Hand nahm. Man müßte diese Phase eigentlich schon von 1869 ab datieren, denn als Zacharias Frankel, um sich in seine Forschungen über den sogenannten Jerusalemitischen Talmud zu vertiefen, die Redaktion der "Monatsschrift" 1869 an Graetz zur Fortführung übergab, eröffnete der letztere seine Redaktion sofort mit einem Artikel über "Die Ebjoniten des alten Testamentes", veröffentlichte in den nächsten Jahren eine Reihe von Aufsätzen über alttestamentliche Schriftauslegung und hebräische Sprachforschung, welche man teilweise als Vorarbeiten für die Geschichte der biblischen Zeit betrachten darf, und setzte diese Studien unablässig fast durch alle Jahrgänge bis 1887 fort, in welchem Jahre er zu seinem Leidwesen sich genötigt sah, das Erscheinen der Monatsschrift einzustellen.
Bei dem geringen Umfang des biblischen Schrifttums, in welchem uns all das vorliegt, was sich von der altisraelitischen Literatur gerettet hat, bei dem mangelhaften Besitz an hebräischem Sprachgut, über den wir infolgedessen zu verfügen haben, bleibt selbst demjenigen Ausleger, der sich treu und sklavisch an das Wort und die Überlieferung hält, immer noch ein überaus weiter Spielraum für individuelles Ermessen und subjektive Hypothesen, für welche nicht der bündige Beweis die Überzeugung schafft, sondern der Wille und das Gemüt; um wieviel mehr wird eine Persönlichkeit von so starker Subjektivität, von so scharfer Feinhörigkeit und kühner Kombination, wie Graetz, leicht zu Resultaten kommen, die einen schneidenden Gegensatz zu allen landläufigen Begriffen bilden, ohne dass sie in jedem und allem stets auf eine objektive, sichere Basis gestellt werden können. In der Tat sind seine Ergebnisse und Erläuterungen, die von einem leidenschaftlichen Streben nach voller Klarheit und Folgerichtigkeit beherrscht werden, oft von einer verblüffenden Originalität. Jedenfalls aber hat er allerlei neue Fragen in Fluß gebracht, viele fruchtbare Anregungen gegeben und manchen schönen Triumph auf diesem strittigen Boden davon getragen. Mit solcher Kühnheit wird die Exegese zweier hagiographischer Bücher behandelt, welche 1871 unmittelbar aufeinander folgten, und mit denen er zuerst vor die Öffentlichkeit trat: Koheleth (oder der salomonische Prediger, übersetzt und kritisch erläutert), dessen Entstehung bis in die Regierungszeit des Herodes hinabgerückt wird, und Schir ha-Schirim (oder das salomonische Hohelied, übersetzt und kritisch erläutert), dessen Verfasser er der syrisch-mazedonischen Zeit zuweist. So sonderbar die Hypothesen betreffs der Abfassungszeit der beiden Bücher und manche andere Auffassungen den Leser berühren und stutzig machen, weil sie sich von allen bisher begangenen Heerstraßen überaus weit entfernen, man muß gestehen, dass diese Hypothese über die Ursprungsperiode von Kohelet viel Bestrickendes für sich hat, man muß jedenfalls anerkennen, dass gut und geschmackvoll übersetzt worden, dass sehr instruktive Bemerkungen und Hinweise gegeben werden, dass die alten Übersetzungen eingehend und aufmerksam herangezogen und benutzt sind. Im Kommentar zu Koheleth, welcher überhaupt denjenigen zum Hohelied an Wert übertrifft, finden sich zugleich interessante Aufschlüsse über die griechische Übersetzung. Ein wirkliches und
[Einleitung: Biographie des Dr. H. Graetz, S. 97 ff.Digitale Bibliothek Band 44: Heinrich Graetz: Geschichte der Juden, S. 161 (vgl. GesJud Bd. 1, S. 59 ff.)]
 

 

bleibendes Verdienst hat sich Graetz als Exeget darin erworben, dass er stets auf Analogien aus der Mischnah und dem Talmud zurückzugreifen und namentlich den bibelkritischen Stoff, den die talmudische Literatur bietet, auszubeuten sucht, wobei er neues Material beibringt und alles in scharfsinniger Weise für die Fragen der höheren Kritik fruchtbar macht.
Zwei Voraussetzungen sind es insonders, von denen er bei seiner Auslegung sich leiten läßt, und welche in seinem ganzen Wesen tief begründet sind. Zunächst neigte er zu der Annahme, dass bei den biblischen Schriften allenthalben ein historischer Hintergrund durchschimmern müsse und selbst allgemeine Bezeichnungen und Reflexionen ihren individuellen, tatsächlichen Charakter nicht verleugnen können, der eben herausgehört und erkannt werden muß. Alsdann war er der Ansicht, dass ein Widersinn, eine Unbegreiflichkeit im biblischen Wortlaut nicht durch Verrenkung des Wortes oder Satzes, nicht durch eine weit hergeholte Analogie aus einem entfernten, obschon verwandtschaftlichen Idiom wirklich gelöst werden könne, sondern dass hier der Text zu Schaden gekommen sei und der ursprüngliche Wortlaut durch eine Konjektur aus der Tiefe des Zusammenhanges oder nach einer talmudischen Parallele oder mit Hilfe der alten Übersetzungen konstruiert und annähernd wieder hergestellt werden müsse; denn daran sei nicht zu zweifeln, dass die Katastrophen und die Jahrhunderte, vielleicht auch die Abschreiber in ihrer Unzulänglichkeit, an der Urgestalt des biblischen Textes, bevor derselbe mit aller Sorgfalt festgelegt werden konnte, gezerrt und gelöscht haben, ja dass selbst noch später allerlei Irrungen mituntergelaufen sein mögen. Nach diesen Grundsätzen hat Graetz auch die Psalmen bearbeitet, von denen er 1881 eine deutsche Übersetzung herausgab, worauf dann 1882 bis 1883 ein "kritischer Kommentar zu den Psalmen nebst Text und Übersetzung, 2 Bände" folgte. Der Kommentar ist großartig angelegt, bietet eine Fülle von Gelehrsamkeit und enthält neben vielem Vortrefflichen doch auch viele abenteuerliche Kombinationen und vage, wenn auch geistreiche Hypothesen. Ein wegen seiner Gelehrsamkeit, wie wegen seiner Besonnenheit gleich hochgeschätzter Orientalist, Justus Olshausen, der den alttestamentlichen Text zu linguistischen Zwecken kritisch zu läutern suchte, äußerte sich über den Psalmenkommentar in einem Schreiben an den Verfasser folgendermaßen:38 "Zwar wird Ihr kritischer Kommentar wegen der Kühnheit Ihrer Kritik bei der großen Zahl der Exegeten großen Anstoß erregen, die als Exegeten selber überkühn, aber schwache Kritiker sind. Für mich hat, wie Sie wissen, die Kühnheit in der Kritik nichts Erschreckendes, wo sie mit Sprach- und Sachkenntnis, mit Scharfsinn und vor allem mit gesundem Menschenverstand verbunden auftritt. Gewiß werde ich Ihnen nicht in jedem Falle zustimmen können, wo Sie vielleicht mit allzu großer Zuversicht das Richtige getroffen zu haben meinen; allein das hindert mich nicht anzuerkennen, dass Ihr Buch durch eine Fülle vortrefflicher Emendationen eine wesentliche Bereicherung der biblischen Literatur ist." Mancher glückliche Griff ist Graetz offenbar gelungen, und es fehlte ihm auch nicht an Zustimmung; im allgemeinen jedoch wurden seine Resulate so entschieden abgelehnt, dass wohl von einer späteren Zeit sicherlich eine Nachprüfung zu erwarten steht, welche den Weizen von der Spreu sondern wird. Er selbst ließ sich in seinem exegetischen Vorgehen durch nichts beirren; entschlossen, aller Schwierigkeiten im alttestamentlichen Wortlaut mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln Herr zu werden, glaubte er sich berechtigt, auf dem Gebiet der Textkritik, worauf sich schließlich seine Auslegung hauptsächlich konzentrierte, sich mit immer größerer Freiheit zu bewegen und durch kühne Konjekturen, in deren Auffindung sein nachfühlender Geist unerschöpflich war, den schadhaften Bibeltext, wenn auch nicht gerade auf seine ursprüngliche Gestalt, so doch auf die ursprüngliche Tendenz des Schriftsinnes annähernd zurückzuführen. Wiewohl er sonst stets darauf bedacht war, den Anschluß und die Fühlung mit der Überlieferung zu behalten, und eine destruktive Tendenz ihm überaus fern lag, trieb ihn hierbei sein konstruktiver Eifer so weit fort, dass er schließlich den Boden des Schriftwortes und der realen Wirklichkeit immer mehr unter sich verlor und seinen Scharfsinn meist in dem blendenden Feuerwerk raketenartig aufblitzender Emendationen versprühen ließ. In dieser Richtung bewegen sich seine exegetischen Studien zum Propheten Jeremiah (Monatsschrift 1883, Jahrg. 32), zu den Salomonischen Sprüchen (Monatsschrift 1884, Jahrg. 33) und der schöne Aufsatz zur Bibelexegese (Monatsschrift 1886, Jahrg. 35). Ja, er ging sogar in seinen letzten Lebensjahren an die Ausführung eines weit ausschauenden, umfassenden Planes, den er schon lange mit sich umhergetragen und mit dessen Verwirklichung er das Tagewerk seines Lebens als abgeschlossen betrachten wollte: die Textgestalt sämtlicher biblischer Bücher sollte kritisch gesichtet und restauriert werden. Aber auf diesem Arbeitsfelde leuchtete ihm kein so glücklicher Stern und war ihm kein so glänzender, siegreicher Erfolg beschieden wie auf historischem Gebiet, wo er bahnbrechend durchgegriffen hatte. Trotzdem dürfen seine exegetischen und kritischen Leistungen in ihrem Wert und ihrer Wirkung nicht etwa unterschätzt werden. Die exegetischen Schriften und Aufsätze sind reich an neuen Gesichtspunkten und interessanten Anregungen, sie haben immerhin für die Bibelkritik zahlreiche Keime fruchtbarer Förderung ausgestreut und für die Entwicklung der Bibelexegese tiefe und bleibende Spuren zurückgelassen. Schon diese Arbeiten, für sich allein originell und bedeutend genug, um sonst ein ganzes Gelehrtenleben auszufüllen, würden hinreichen, um dem Verfasser einen ehrenvollen Namen und einen hervorragenden Platz in der Geschichte der jüdischen Wissenschaft zu sichern.

9. Die letzten Lebensjahre.

Die steigende Anerkennung und Verehrung, deren sich Graetz aus den Kreisen seiner zahlreichen Leser und Bewunderer, aus der wachsenden Zahl seiner aufblühenden Schüler und Freunde zu erfreuen hatte, war nicht ganz ohne Trübung geblieben. 1879 wurde der leicht entzündliche Judenhaß in Deutschland als antisemitische Bewegung wieder entfesselt, um ein sicher wirkendes politisches Agitationsmittel zur Verfügung zu haben. Heinrich von Treitschke, ein mehr patriotisch erglühter, als Wort und Wahrheit sorgsam wägender Historiker, ein Publizist von eindringlich rednerischem Pathos und glänzender Stilbegabung, trat bald als Rufer im Streit dabei hervor. Er skandalisierte sich über den Geist der Überhebung, der neuerdings in jüdischen Kreisen erwacht sein und eine Gefahr für das deutsche Reich bedeuten sollte, und exemplifizierte dabei auf Graetz, der in seiner Polemik gegen das Christentum angeblich kein Maß halte und über die deutsche Nation in seiner Geschichte sich ganz respektlos äußere.39 Graetz erwiderte und Treitschke widmete ihm einen Artikel,40 in welchem er seine Behauptung unter Beweis zu stellen suchte, wobei er die angeführten Stellen meistenteils aus dem Zusammenhang löste und es an Sophismen nicht feh
[Einleitung: Biographie des Dr. H. Graetz, S. 103 ff.Digitale Bibliothek Band 44: Heinrich Graetz: Geschichte der Juden, S. 167 (vgl. GesJud Bd. 1, S. 62 ff.)]
 

 

len ließ. Die Führer der jüdischen Intelligenz in Berlin mochten die Tragweite dieser Bewegung unterschätzt haben, keinesfalls waren sie über die Mittel sich klar, um der immer höher anschwellenden Flut zu begegnen; die Ausfälle Treitschkes wollte man jedoch nicht unerwidert lassen, weil man in ihnen mehr als bloß die Auslassungen eines Professors zu vermuten Grund hatte. Daraufhin ließ der als nationalökonomischer Schriftsteller bekannte, als lauterer und edler Charakter hochgeschätzte H. B. Oppenheim sich verleiten, auf die herausfordernden Inkriminationen Treitschkes ohne weitere Prüfung Graetz', dessen Schriften er eingestandenermaßen gar nicht recht gelesen hatte, über Bord zu werfen und ihn "als einen taktlosen und zelotisch einseitigen Mann, dessen große Gelehrsamkeit durch die Absurdität seiner Nutzanwendungen um ihren ganzen Segen gebracht wird", abzutun.41 Diese eigentümliche Verteidigungsweise des Judentums hatte einen geradezu tragikomischen Eindruck gemacht und hatte zwar niemanden tief aufgeregt, aber sie erwies sich als symptomatisch für die Gesinnung und Denkweise der geistigen Notabilitäten der damaligen Berliner Judenschaft.
Eine Verkennung und Unterschätzung der Bedeutung, die Graetz als Historiker unstreitig gewonnen hatte, trat dann auch in bedauerlichem Maße zu Tage, als bei der Bildung der vom deutsch-israelitischen Gemeindebund ins Leben gerufenen historischen Kommission zur Herausgabe von Quellen der Geschichte der Juden in Deutschland (1885) gerade Graetz übergangen und völlig ignoriert wurde. Den verdientesten Historiker, den das Judentum zur Zeit aufzuweisen hatte, durfte man nicht schlechtweg ausschließen; man durfte nicht vergessen, dass Graetz auf diesem Arbeitsfeld jedenfalls am meisten heimisch war, und dass er besser und genauer als jeder andere alle Probleme und Desiderien, die in Betracht kamen, kannte. Wenn auch die Kommission aus hochangesehenen Gelehrten zusammengesetzt war, so gab es in ihr doch keinen, der die für diese Zwecke unentbehrliche Kenntnis des jüdischen Schrifttums in dem Maße und in dem Umfange wie Graetz besaß, und keinen, der die Beherrschung dieses Arbeitsgebietes durch namhafte Arbeiten so nachweisen konnte, wie Graetz. Die Ergebnisse der durch die Kommission veranlaßten Arbeiten stehen denn auch in keinem Verhältnis zu den großen Erwartungen, die man anfangs an sie geknüpft hatte.
Was von Berlin aus oder anderwärts an Rücksichtslosigkeit gegen Graetz gesündigt wurde, griff ihm keineswegs tief ins Herz und wurde vollends durch London ausgeglichen, als er von dort im Sommer 1887 die ehrenvolle Einladung erhielt, die englisch-jüdische Ausstellung historischer Sehenswürdigkeiten mit einer Vorlesung zu eröffnen. Die Ehrungen, die ihm in der englischen Hauptstadt bereitet wurden, die Menschen, die er kennen lernte, die Eindrücke, die er empfing, all dies hat seine Seele wohltuend erfrischt und hoffnungsvoll gestimmt, gehörte zu seinen schönsten und glücklichsten Erlebnissen und bestärkte ihn in der schon früher öfters von ihm ausgesprochenen Hoffnung, dass von England und Amerika dem Judentum neues Heil erblühen werde. Als er am 31. Oktober 1887 das siebzigste Lebensjahr erreicht hatte, beeilten sich nicht bloß seine Schüler und Freunde, ihm den Jubeltag zu einer großartigen Ovation zu gestalten, aus allen Erdteilen und Himmelsstrichen liefen Huldigungen ein, eine überwältigende Flut von Adressen, Ehrengaben, Glückwünschen und Gedichten aus den verschiedensten Ländern bewies, wie allgemein seine Würdigung und Verehrung in der gesamten gebildeten Judenschaft durchgegriffen hatte. Als eine besonders erfreuliche Überraschung hat es ihn mit stolzer Genugtuung erfüllt, als die spanische Akademie zu Madrid ihn, den Juden, der in seiner Geschichtsdarstellung mit der spanischen Nation gar nicht glimpflich ins Gericht gegangen war, am 27. Oktober 1888 zu ihrem Ehrenmitglied in der historischen Abteilung ernannte.
Wunderbar war bis zuletzt die Frische und Elastizität seines Körpers und Geistes, an welcher die Jahre fast spurlos vorüberzugehen schienen und ebenso erstaunlich seine unverwüstliche, außerordentliche Arbeitskraft, wie seine schriftstellerische Fruchtbarkeit. Selbst als er bereits seine volle Kraft auf die exegetischen Arbeiten konzentriert hatte, ermüdete er nicht, die überall zerstreuten, in allen Kultursprachen auftauchenden Forschungen, welche der jüdischen Wissenschaft galten oder irgend welche, sei es noch so entfernte, Beziehungen zu ihr aufwiesen, mit gespannter Aufmerksamkeit zu verfolgen, dieselben auf ihre Resultate sorgfältig zu prüfen und die gewonnenen Ergebnisse immerdar zur Bereicherung und Berichtigung einer neuen Auflage seiner Geschichte zu verwerten oder, wenn es ihm genügend wichtig dünkte, in einem besonderen Aufsatze niederzulegen. Denn außer seinen geschichtlichen und exegetischen Werken, welche schon durch ihre stattliche Zahl wie durch ihren äußeren Umfang überaus bedeutsam erscheinen, hat er nebenhin zahllose Abhandlungen und Programmarbeiten über die verschiedensten Themata veröffentlicht. Unter den Aufsätzen gibt es wahre Perlen, Muster von stilistischer Klarheit und gründlicher Gelehrsamkeit, in manchen kommen allerdings gewagte Behauptungen zum Vorschein; als eine derartige Aufstellung, an der er stets festhielt, sei hier beispielsweise aufgeführt, dass die Massorah von den Karäern herrühre und aus ihrem Schrifttum zu uns herübergedrungen sei; eine Hypothese, über welche man sich mehr emphatisch entrüstet hatte, als dass man sie durchschlagend widerlegte, und für welche manches verdächtige Anzeichen spricht. Von seinen Programmschriften seien als besonders wertvoll hervorgehoben: "Die westgothische Gesetzgebung in betreff der Juden" zum Jahresbericht des jüdisch-theologischen Seminars 1858, "Frank und die Frankisten" zu 1868, "Das Königreich Messena und seine jüdische Bevölkerung" zu 1879. In der Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums, deren Redaktion er, wie bereits angegeben, von 1869 bis Ende 1887 führte, stammt der größte Teil der darin enthaltenen Aufsätze von seiner Feder her.
Er verstand es eben merkwürdig, seine Zeit ganz und gar auszukaufen. Jeder Morgen fand ihn schon um 5 Uhr vor seinem Schreibtisch, und bis 9 Uhr beschäftigte er sich ununterbrochen mit schriftstellerischen Arbeiten; nach 9 Uhr pflegte er seine Vorlesungen aufzunehmen. Er unterhielt eine ausgedehnte Korrespondenz, fand für alles Muße und gab sich gern den harmlosen Freuden heiterer Geselligkeit hin. Freilich suchte er erst spät sein Nachtlager auf und bedurfte überhaupt nur wenig Schlaf. Die kerngesunde, fast unbezähmbare Kraft seines Nervensystems gebot über eine körperliche Konstitution, welche die materielle Grundlage für eine außergewöhnliche Leistungsfähigkeit in vollstem Maße in sich barg. Von Statur mittelgroß, die Haltung etwas vornüber geneigt, besaß er eine gute Muskulatur, welche fettarm und mager, aber sehnig und von einem starken Knochenbau getragen war. Der Kopf, obschon im Gesicht durch Pockennarben etwas beeinträchtigt, machte einen aparten und bedeutenden Eindruck. Die brettartige Stirne trat kantig hervor, über ihr lag nicht gerade dicht jedoch auch nicht spärlich, weiches, kastanienbraunes Haar, das später ergraute. Die graubraunen Augen lugten scharf und spähend aus und verrieten Lebensfreude, eine schmalflügelige, scharf und spitz ausgeprägte und nicht eben kleine Nase gab dem ovalen, starkknochigen Gesicht einen charakteristischen, fühlerartig forschenden Ausdruck, um seine Lippen schien es zumeist wie Wehmut zu spielen, zuweilen aber lagerte über denselben eine Wolke von Spott, Ironie und Angriffslust, als wenn jeden Augenblick sarkastische Worte heraussprühen wollten. In der Tat brachen manchmal spitze Sarkasmen über das Gehege seiner Zähne hervor, im allgemeinen indes blieb die mündliche Unterhaltung weit hinter den Erwartungen zurück, welche seine Feder erregt hatte. Zu glücklicher Stunde war er in jüngeren Jahren für den häuslich vertrauten Kreis voll scherzhafter Worte und lustiger Einfälle, immer aber beseelte ihn eine unbesiegbare Lebenslust und ein glücklicher Optimismus. In
[Einleitung: Biographie des Dr. H. Graetz, S. 109 ff.Digitale Bibliothek Band 44: Heinrich Graetz: Geschichte der Juden, S. 173 (vgl. GesJud Bd. 1, S. 66 ff.)]
 

 

niger Familiensinn beherrschte ihn. Gegen seine Frau bewies er jederzeit eine Zartheit und Aufmerksamkeit, als ständen sie in den Flitterwochen, gegen seine Tochter übte er eine vollendete Ritterlichkeit, gegen seine Söhne war er von hingebender Nachsicht und Opferfähigkeit, sein Verhalten dem greisen Vater gegenüber erinnerte geradezu an die talmudisch-antike Pietät. Mit großer Vorliebe pflegte er seine freundschaftlichen Verhältnisse. Für einen Freund, wie überhaupt für jede Sache, die seine Sympathie besaß, war er jederzeit bereit, voll und ganz einzustehen. Aus Palästina hatte er, von den dortigen Übelständen tief bewegt, den Plan zur Erziehung jüdischer Waisen in Jerusalem auf deutscher Grundlage mitgebracht; zusammen mit seinen Reisegenossen stiftete er einen Verein und bot alles auf, um hierfür einen festen, wenn auch kleinen Grundfonds zu beschaffen. Zu diesem Zwecke unternahm er allerlei Reisen, hielt, so sehr ihm derartiges anfangs widerstrebte, in vielen Städten Vorträge und ging sogar auf eine Einladung nach Galizien, wo er allerdings mit großem Jubel empfangen und mit schmeichelhaften Huldigungen überhäuft wurde. Von solchem Erfolge gehoben, ruhte er nicht eher, bis diesem Verein der noch heute segensreich wirkt, eine gesicherte, wenn auch bescheidene Unterlage bereitet war.
Rüstig und frisch, wie er sich fühlte, hatte er in seinen letzten Lebensjahren sich noch eine große Aufgabe gestellt, in der er das Fazit seiner bibelkritischen und exegetischen Studien ziehen wollte, für deren Ausführung er von der Gegenwart keinen Dank erwartete, sondern auf die Anerkennung einer späteren Zukunft rechnete. Alle sonstigen Nebenbeschäftigungen ließ er aus diesem Grunde zurücktreten, er stellte sogar 1888 die Herausgabe der "Monatsschrift" ein, da keiner seiner Schüler damals die Redaktion zu übernehmen geneigt war, und ging mit seinem gewohnten Eifer und Ungestüm ans Werk. Um die Resultate seiner langjährigen biblischen Textforderungen in klarer Übersicht zu geben, wollte er einen Abdruck der ganzen hebräischen Bibel mit emendiertem Wortlaut und mit kurzen, die Emendationen des Textes begründenden Anmerkungen veranstalten. 1891 hatte er sämtliche Vorarbeiten hierzu beendet und ging mit dem Druck vor. Wie sehr ihm dieses Lebenswerk am Herzen lag, geht aus dem Prospekt hervor, in dem er sich gegen seine sonstige Gewohnheit mit der Bitte an seine Freunde wandte, sein Bemühen zu unterstützen. "Auf der Neige meines Lebens" - so heißt es daselbst - "habe ich das mühevolle Werk unternommen, die Emendationen des Textes der heiligen Schrift übersichtlich zusammenzustellen, deren Zulässigkeit und Berechtigung nicht nur, sondern auch deren Notwendigkeit der Ihnen gleichzeitig zugehende Prospekt auseinandersetzt ... Ich ersuche Sie, mein Bemühen zu unterstützen ... damit das von mir übernommene Risiko nicht meine Verhältnisse allzusehr übersteige". Dieser Prospekt erschien im Juli 1891 und war das letzte, was seine rastlose Feder dem Druck übergab. Wiewohl die vorgerückten Jahre ihm eigentliche Beschwerden nicht verursachten, er sich für gesund hielt und sich jedenfalls durchaus kräftig fühlte, war er dennoch vom Alter, ihm unbewußt, ins Innerste getroffen worden; denn sein Herz war schwer angegriffen und erregte die Besorgnis der Ärzte. Wie alljährlich war er, um kleine körperliche Indispositionen zu beseitigen, nach Karlsbad gegangen und hatte vor, von dort einen Abstecher nach München zu machen, um den ältesten seiner Söhne, der eine außerordentliche Professur der Physik an der Münchener Universität inne hatte, zu besuchen und dann mit dessen Familie noch einige Zeit im Bade Reichenhall der Ruhe zu pflegen. Kurz vor der geplanten Abreise nach München befiel ihn in Karlsbad, wo er sich nicht schonte, eine tiefe Ohnmacht, so dass die Ärzte seine Frau dringend zur Rückreise nach Breslau mahnten. Er jedoch hielt diese Vorsicht für übertrieben, erklärte sich wohl schießlich zur Heimkehr bereit, nur die Reise nach München wollte er nicht aufgeben. Daselbst angekommen, wurde er in der Behausung seines Sohnes am Abend vom 6. auf den 7. September von einer heftigen Kolik angefallen. Dieselbe wurde vom Arzt durch Opium beruhigt, so dass er bald hernach zu Schlaf kam. Als seine Frau früh am Morgen sein Befinden beobachten wollte, fand sie ihn leblos im Bette vor, ein Herzschlag hatte in der Nacht zum 7. September 1891 seinem arbeitsvollen und erfolgreichen Leben ein immer noch allzu frühes Ziel gesetzt. Die Leiche wurde nach Breslau übergeführt und drei Tage später auf dem dortigen Friedhofe unter zahlreicher Beteiligung seiner Schüler und allgemeiner Teilnahme zur letzten Ruhe bestattet.
Die Gattin, welche nur noch dem Andenken ihres hochgefeierten Mannes lebte42, hat es als eine Ehrenschuld angesehen, sein letztes Lebenswerk, das im Manuskript fast fertig vorlag, von dem erst einige wenige Bogen durch die Presse gegangen waren, zu Ende zu führen. Professor W. Bacher zu Budapest, ein Schüler von Graetz, der sich durch seine Editionen und Studien zur Geschichte der hebräischen Grammatik und Exegese einen angesehenen Namen erworben, hatte die Redaktion übernommen; derselbe war überdies gezwungen, ein beträchtliches Stück aus den Propheten, welches durch einen unglücklichen Zufall abhanden gekommen war, aus anderweitigen Notizen zu ergänzen. Ein solcher Unstern waltete über diesem textkritischen Bibelwerk, auf welches der verewigte Verfasser gar hohen Wert gelegt; ohne dass er wie sonst während des Druckes beständig die nachbessernde Hand anlegen konnte, mußte das Buch als ein unvollständiges, weil nachgelassenes, erscheinen unter dem Titel: Emendationes in plerosque Sacrae Scripturae Veteris Testamenti libros secundum veterum versiones nec non auxiliis criticis caeteris adhibitis. Ex relicto defuncti auctoris manuscripto edidit Guil. Bacher. 3 Th. Breslau 1892 bis 1894. Der hebräische Wortlaut der Bibel wird freilich kühn und subjektiv behandelt, immerhin bleibt erst einer spätern Zukunft die richtige Würdigung vorbehalten, wie weit die kritische Sichtung des Bibeltextes durch seine Forschungen auch wirklich gefördert worden; denn darüber kann kein Zweifel bestehen, Graetz war ebenso wie auf historischem, auch auf exegetischem Gebiete ein Meister, dessen Anregungen selbst dort, wo er irrt, immer noch wertvoll bleiben.
Einst wird die Zeit kommen, wo man uns um das Große und Herrliche beneiden wird, dessen wir uns von Angesicht zu Angesicht erfreuen durften. Man wird freilich nicht an den Schmerz und die Trauer denken, womit wir es unvermutet und unvermittelt aus unserer Mitte haben scheiden sehen. Noch weniger wird man die Selbstvorwürfe ahnen, die sich nachträglich bei uns eingestellt, dass wir häufig ein schärferes Auge für die kleinen Schwächen und Unzulänglichkeiten hatten, welche jeder menschlichen Existenz anhaften, als dass wir ein williges und verständnisvolles Ohr für die Anregungen, Intuitionen und Aufschlüsse zeigten, die uns jederzeit wie aus einem immer stärker sprudelnden Quell zur Verfügung standen. Die schönsten Blüten jedoch, die sein Geist getragen, die besten Früchte, die sein Leben gereift, sind in seinen Schriften niedergelegt, jedem zugänglich und jedem verständlich, der lesen will. Ein Prophet in seiner Art, hat er den Schleier der jüdischen Vergangenheit gelüftet und ihrer Stimme für alle Zukunft lebendigen Klang und neue Frische wiedergegeben. Indem er ohne Menschenfurcht und ohne Lohnsucht nur der historischen Gerechtigkeit und Wahrheit zu dienen strebte, hat er den Ruhm Zions verkündet und wie mit einer Wünschelrute den Quellengrund aufgeschlossen, aus dem für die Bekenner des einzig-einigen Gottes stets Trost und Labung, Hoffnung und Erhebung in reicher Fülle hervorströmen wird.
[Einleitung: Biographie des Dr. H. Graetz, S. 115 ff.Digitale Bibliothek Band 44: Heinrich Graetz: Geschichte der Juden, S. 179 (vgl. GesJud Bd. 1, S. 69 ff.)]

1 Was hier unter Anführungszeichen gegeben wird, ist der Originaleingabe wörtlich entnommen. Geheimes Staatsarchiv Berlin, General-Direktorium Südpreußen, Ortschaften Nr. 964, Vol. II.

2 Staatsarchiv Posen, Wollstein C. 13.

3 Das Werkchen ist fein säuberlich abgeschrieben in seinem Nachlaß vorgefunden worden; er hatte es, wie er angiebt, am Mittwoch den 27. Elul (15. September) 1830 in Zerkow begonnen und in Wollstein, etwa 15 Jahre alt, vollendet.

4 Wahrscheinlich von Simcha Arje ben Efraim Fischel, Lemberg 1833.

5 Diese Biographien sind nicht gedruckt worden, und auch die Handschrift war nicht aufzufinden.

6 Talmudische Werke des R. Isaak Alfassi.

7 Ein großer, schwerer, mit irgend welchem Zierrat am Griff geschmückter Stock wurde in Polen wie ein Emblem des Rabbinats getragen und gebraucht.

8 Giganten oder Heroen. Graetz spielt hier mit dem Worte.

9 Ein Philologe von Ruf, der in der lateinischen Lexikographie Bedeutendes geleistet.

10 Als sein erstes literarisches Auftreten kann wohl ein Artikel bezeichnet werden im Hauptblatt des Orients, Jahrg. 1843, S. 391 ff. über die damals schwebende Streitfrage "Über die Heiligkeit der jüdischen Begräbnisplätze", anonym und von Breslau 22. Nov. datiert. Das Scharmützeln gegen Geiger beginnt im Hauptblatt des Orients, Jahrg. 1844, S. 21.

11 "Das Buch der Schöpfung", das eine halb philosophische, halb mystische Weltanschauung entwickelt.

12 Ursprünglich war hierzu der 15. Oktober angesetzt; es wurde aber von vielen Seiten der September als der geeignetste Monat bezeichnet.

13 Dazu bedurfte es indes einer behördlichen Genehmigung, welche nur infolge eines amtlichen Lehrerzeugnisses erteilt werden konnte. Daraufhin besuchte Graetz als Hospitant eine Zeitlang das katholische Schullehrerseminar zu Breslau und erhielt am 4. November 1847 nach abgelegter Rektoratsprüfung ein Zeugnis, welches ihm die Fähigkeit zuspricht, an einer Elementarschule zu unterrichten und eine solche als Rektor zu leiten. Es war das einzige amtliche Prüfungszeugnis, das Graetz überhaupt aufzuweisen hatte.
14 Derselbe Friedmann zeichnet in Gemeinschaft mit Graetz einen Aufsatz, der 1848 in den theologischen Jahrbüchern von Bauer und Zeller, Bd. VII, S. 338 erschienen ist: "Über die angebliche Fortdauer des jüdischen Opferkultus nach der Zerstörung des zweiten Tempels". Wie weit der Anteil Friedmanns dabei reicht, ist nicht ersichtlich. Die Einleitung zeigt ganz deutlich die Art und den Stilcharakter von Graetz, der diese Arbeit als die seinige anzusehen pflegte. Es ist übrigens die einzige Veröffentlichung, die in den Jahren von 1846 bis 1851 von ihm ausgegangen war.

15 Nach persönlichen Mitteilungen von Graetz an den Schreiber dieses.

16 Graetz äußert sich darüber in seinem curriculum vitae (bei den Akten des Kuratoriums der Kgl. Kommerzienrat Fränckelschen Stiftungen, "den Seminarlehrer Graetz betreff.") folgendermaßen: "Im Jahre 1849 folgte ich dem Rufe, der von dem mährischen Landrabbiner an mich erging, mich bei der Gründung eines Rabbinerseminars für die mährischen und österreichisch-schlesischen Gemeinden zu beteiligen und an demselben als Lehrer zu wirken. Doch kam dieses Institut nicht zustande; die schwankenden Verhältnisse des österreichischen Staates überhaupt und die einem ewigen Provisorium anheimgefallene Stellung der Israeliten im Kaiserstaate zogen die Verhandlungen über die Verwirklichung eines derartigen Seminars in die Länge. Ich sah mich infolgedessen in die Notwendigkeit versetzt, provisorisch die Leitung einer öffentlichen israelitischen Schule in Lundenburg bei Wien zu übernehmen".

17 Die Trauung in Krotoschin vollzog Hirsch Fassel, Rabbiner von Proßnitz in Mähren, mindestens hielt er dabei die Trauungsrede. Er weilte damals in Breslau, woselbst man mit ihm wegen einer Anstellung als Rabbiner neben Geiger verhandelte. Doch führten die Verhandlungen zu keinem Resultat.

18 Vgl. Das jüdisch-theologische Seminar Fränckelsche Stiftung zu Breslau, am Tage seines 25 jährigen Bestehens, den 10. August 1879, S. 5.

19 Geschichte der Juden, B. IV. (l. Auflage), S. 22.

20 Geschichte der Juden, B. IV, (l. Auflage), S. 169.

21 Ebenda S. 236.

22 Der israelitische Volkslehrer von L. Stein, Jahrg. V, 1855, S. 37.

23 Jeschurun von S. R. Hirsch, Jahrg. II und III.

24 Vgl. Geschichte der Juden, Bd. IV, Note 20 (in späteren Auflagen Note 16.)

25 Israelitischer Volkslehrer a.a.O.
26 Er war ein Sohn des Hamburger Rabbiners, oder - wie er sich nannte - Chacham, Isaak Bernays.

27 Diese Tendenz fand ihre Berechtigung in dem Umstande, dass man unter den obwaltenden Verhältnissen für die Aufnahme in die Anstalt kein höheres Maß profaner Kenntnisse fordern konnte, als für die Sekunda eines preußischen Gymnasiums ausreichte, und Schülern vom 15. Jahr an den Eintritt gewähren wollte.

28 Der erste, der eine Geschichte der Juden bis auf seine Zeit, wenn auch trümmerhaft und mit unzulänglichen Mitteln, doch im Zusammenhang abgefaßt hat, war der protestantische Geistliche und Diplomat Jakob Basnage, der Historiograph der Niederlande, gest. 1723, an welchen sich Jost angelehnt hat. Der zweite Versuch einer Darstellung der jüdischen Geschichte ging von einer christlichen Amerikanerin aus, Hannah Adams aus Boston, 1818, welche nur sekundäre Quellen benutzen konnte. Vgl. über die Vorgänger von Graetz dessen Geschichte, XI. Band, 2. Aufl., S. 409 ff.

29 In seinem letzten Geschichtswerk "Geschichte des Judentums und seiner Sekten" (3 Bände, 1857 bis 1859) hat Jost seinen alten Ton nicht beibehalten, sondern sich mehr auf den von Graetz eingenommenen Standpunkt gestellt.
30 Zunz hielt nicht nur jede Geschichtsdarstellung des Judentums damals für verfrüht, er hatte bei seiner Äußerung wohl ein 1846 erschienenes Machwerk "Geschichte der Israeliten" von Dr. J. H. Dessauer, im Auge; in der zwar sehr verblümten Anspielung auf dieses unbedeutende Buch lag wahrscheinlich der verletzende Stachel.

31 Vgl. Band 4, zweite Auflage, Not. 14.

32 B. 3, zweite Auflage, Not. 26.

33 Jost, Gesch. des Judentums und seiner Sekten. Abt. 1, S. 437, Anm. 3.

34 Graetz hat mit großem Geschick, um den Fluß der Erzählung nicht durch trockene, gelehrte Exkurse zu unterbrechen, jeden Band seines Werkes in zwei Teile geschieden, gleichsam in einen exoterischen Teil, für alle zugänglich, und in einen esoretischen, für den Fachmann bestimmt. Der letztere Teil befindet sich am Schluß als Beigabe und enthält den gelehrten Notenapparat, in welchem über die Methode, über die mehr oder minder zwingenden Schlußfolgerungen und Voraussetzungen, die zu den in der Geschichtsdarstellung vorgetragenen Resultaten geführt haben, Rechenschaft gegeben wird, in welchem alles niedergelegt ist, was der Verfasser als Gelehrter, an neuen Tatsachen, Daten und Gruppierungen gefunden und geför
[Einleitung: Biographie des Dr. H. Graetz, S. 121 ff.Digitale Bibliothek Band 44: Heinrich Graetz: Geschichte der Juden, S. 185 (vgl. GesJud Bd. 1, S. 0 ff.)]
 

 

dert hat. In diesen Noten, die in gewissem Sinne die Werkstatt darstellen, um den vom Verfasser selbst herbeigeschafften wissenschaftlichen Rohstoff zu den für den Geschichtsaufbau geeigneten Werkstücken zu verarbeiten, ist ein ebenso reiches, wie neues Material nicht bloß aus handschriftlichen Funden, sondern oft aus ganz unvermuteten, scharfsinnig aufgespürten und entlegenen Quellen zusammengetragen. Eine staunenswerte Fülle von Gelehrsamkeit wird aufgespeichert und für die wissenschaftliche Forschung nutzbar gemacht und all dies meist so gründlich durchgearbeitet und so klar durchleuchtet, dass dieser Teil schon für sich allein eine wissenschaftliche Leistung ersten Ranges bedeutet. Diese Noten werden von dem unvergeßlichen David Kaufmann s.A. sehr treffend den Kellern einer Zettelbank verglichen, in denen das kostbare Edelmetall und der reiche Barvorrat gelagert wird, um die in Umlauf befindlichen Scheine und Wechsel jederzeit zum vollen Wert einlösen zu können. In gleicher Weise sollen die Noten für die Ausführungen des Textes die erforderlichen Garantien bieten und ihre Zuverlässigkeit auch dort sichern, wo sie auf bisher unbekannte Forschungen hinweisen.

35 Band 10, cap. 6 und 7.

36 Die französischen, englischen und hebräischen Übersetzungen seiner Geschichte hat Graetz zumeist selbst überwacht und die Aushängebogen zum größten Teil durchgesehen. Die französische Übersetzung wurde von seinem Freunde M. Heß, einem sozialistischen Schriftsteller, dem Verfasser von "Rom und Jerusalem", angefertigt. Der dritte Band wurde zuerst übersetzt und erschien unter dem Titel "Sinai und Golgatha" (Paris 1867). Darauf folgte der sechste mit der Bezeichnung "Les Juifs d'Espagne". Der Krieg von 1870 hatte die deutschen und französischen Juden einander überaus entfremdet, so dass die Fortsetzung des Werkes abgebrochen wurde und erst in den achtziger Jahren wieder aufgenommen werden konnte. Bei der englischen Übersetzung wurde mit dem vierten Band begonnen (New-York 1873). Übersetzer war James K. Gutheim auf Veranlassung der zweiten American Jewish Publication Society. Als Graetz im Jahre 1887 London besuchte, wurde die englische Übersetzung des ganzen Werkes von dort aus in Angriff genommen und durchgeführt. Sowohl die französische wie die englische Übersetzung bildeten zugleich eine Umarbeitung des deutschen Originals, indem Graetz nicht bloß die Resultate der neuesten Forschungen hineingeflochten, sondern auch der Geschichte der Juden desjenigen Landes, in dessen Sprache die Übersetzung erfolgte, eine besondere Berücksichtigung zuwandte. Die hebräische Übersetzung wurde zuerst von Kaplan und dann von Rabbinowiez besorgt.

37 Der zweite Band hatte einen solchen Umfang genommen, dass er ihn in zwei Abteilungen zerlegen mußte, von denen jede die stattliche Zahl von fast 500 Seiten umfaßt.

38 Abgedruckt in Rippners: Zum siebzigsten Geburtstag des Professors Dr. H. Graetz, S. 31.

39 Preußische Jahrbücher 1879, Bd. 44, S. 572 ff.

40 A. a.O., S. 660.

41 Die Gegenwart von Lindau, 1880, Bd. 17, S. 18 ff.

42 Marie, geb. Monasch aus Krotoschin, verstarb am Abend des 31. Mai 1900. Eine stattliche, schlanke Figur, mit angenehmem Äußeren und von gemessenem, zurückhaltenden Wesen, verband sie Freundlichkeit und Takt und verstand es, auch dem freundschaftlichen Verkehr einen gewissen feierlichen Anstrich zu geben. Über dem Verhältnis zu ihrem Gatten schwebte bis zum letzten Tage eine Art bräutlichen Schimmers. Infolge des Alters hatten in der letzten Zeit ihre körperlichen und geistigen Kräfte nachzulassen begonnen. Da war es rührend zu sehen, wie ihre Züge, sobald die Rede auf ihren verstorbenen Gatten kam oder es sich um dessen Schriften handelte, sich alsdann belebten, sie an der Unterhaltung oder Verhandlung vollen Anteil nahm und ihre Geisteskräfte nichts zu wünschen ließen.





Erster Zeitraum.

Die vorexilische biblische Zeit.

Einleitung.

Die Anfänge eines Volkes sollen hier erzählt werden, das aus uralter Zeit stammt und die zähe Ausdauer hat, noch immer zu leben, das, seitdem es vor mehr denn drei Jahrtausenden auf den Schauplatz der Geschichte getreten ist, nicht davon weichen mag. Dieses Volk ist daher zugleich alt und jung; in seinen Zügen sind die Linien grauen Altertums nicht zu verwischen, und doch sind diese Züge so frisch und jugendlich, als wäre es erst jüngst geboren. Lebte ein solcher steinalter Volksstamm, der sich in ununterbrochener Reihenfolge der Geschlechter bis auf die Gegenwart erhalten, und unbekümmert um andere und unverkümmert von anderen, sich von der Barbarei des Urzustandes losgewunden, sonst aber nichts Besonderes geleistet und keinen Einfluß auf die übrige Welt ausgeübt hätte, lebte ein solcher Stamm in einem entlegenen Winkel der Erde, so würde er als eine außerordentliche Seltenheit aufgesucht und erforscht werden. Ein Stück Altertum aus urdenklicher Vorzeit, das Zeuge der Gründung und des Zerfalles der ältesten Weltreiche war, und das noch in die unmittelbare Gegenwart hineinragt, verdiente allerdings volle Aufmerksamkeit. Nun hat aber das Volk, dessen Urgeschichte hier erzählt werden soll, das hebräische oder
[Einleitung: Biographie des Dr. H. Graetz, S. 127 ff.Digitale Bibliothek Band 44: Heinrich Graetz: Geschichte der Juden, S. 191 (vgl. GesJud Bd. 1, S. 0 ff.)]
 



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