Heinrich Graetz:
Geschichte der
Juden
Die
Biographie des Dr. H. Graetz
verfasst von Dr. Ph. Bloch
1.
Einleitung.
Mit dem Zerfall des polnischen Reiches, welches 1795 von seinen
Nachbarstaaten vollends aufgelöst und aufgeteilt worden, tritt für die
zahlreiche Judenschaft in jenen Gebieten, welche unter preußische und
österreichische Herrschaft kamen, die entscheidende Wendung ein, durch
welche dieselbe in den Kreis des modernen Kulturlebens hineingezogen
wird, und welche man füglich als den Übergang aus dem Mittelalter in die
Neuzeit bezeichnen kann.
Preußen war es vornehmlich, das sofort nach vollzogener Okkupation daran
ging, die neuen Erwerbungen zu organisieren und sie als die Provinzen
"Südpreußen" und "Neuostpreußen" seinem Staatswesen anzugliedern. Von
diesem Landzuwachs war jedoch endgültig nach 1815 nur dasjenige Stück,
welches ehemals den Grundstock des alten Großpolens bildete, als
Großherzogtum und später als Provinz Posen der preußischen Krone
verblieben; aber gerade dieser Landesteil hatte für die Juden erhöhte
Wichtigkeit, da auf seinem Boden zahlreiche alte und angesehene
Gemeinden sich befanden, und da er überdies von der preußischen
Hauptstadt nicht weit entfernt lag und derselben durch die neugewonnene
Staatszusammengehörigkeit noch näher gerückt erschien.
Einerseits durfte man erwarten, dass infolgedessen die wirtschaftlichen
Beziehungen zu Berlin, die bis dahin schon lebhaft bestanden hatten,
sich noch inniger und reger gestalten und geschäftliche Vorteile bieten
würden, anderseits mißtraute man der preußischen Hauptstadt, weil die
von Mendelssohn und seiner Schule ausgegangene Bewegung, welche über die
Einseitigkeit des bisherigen Talmudstudiums hinausstrebend, die modernen
Bildungsmittel und Wissensgebiete der Jugend zu erschließen sich
bemühte, dort ihren Mittelpunkt hatte.
Durch die straffe Organisation, welche die polnischen Gebietsteile auf
preußischen Fuß stellte, hatten sämtliche Verhältnisse eine so
grundstürzende Umwandlung erfahren, dass die Juden in den neuen
Zuständen sich anfangs gar nicht zurecht zu finden vermochten. Gegen die
staatlichen und wirtschaftlichen Mächte war nicht anzukämpfen, ihnen
musste man sich ohne weiteres anzuschmiegen suchen. Dagegen war man mit
aller Kraft bestrebt, die religiöse Observanz und die überkommene Sitte
im altgewohnten Geleis, rein und unberührt von fremden und verdächtigen
Einflüssen, zu erhalten. Das talmudische Schrifttum sollte auch ferner
Ausgangsund Zielpunkt alles Lernens und Wissens bleiben, die religiösen
Formen oder die als religiös angesehenen Lebensgewohnheiten sollten von
ihrer rigorosen Strenge und Geltung nichts einbüßen. Dem Drängen und
Mahnen der preußischen Regierung, durch Errichtung geeigneter Schulen
für eine zeitgemäße Erziehung und Ausbildung der Jugend zu sorgen,
wusste man bald durch Ausflüchte, bald durch Versprechungen
auszuweichen. Auf die Dauer waren jene Einflüsse trotzdem nicht fern zu
halten, Funken von dem Berliner Aufklärungsherd flogen nach der Provinz
herüber und traten bald in einer Großgemeinde sichtbar zutage, und zwar
in Posen, das über den talmudischen Ruhm und die altersgraue Frömmigkeit
seines Ghettos stolz und eifersüchtig wachte.
In Posen wurde nämlich das Rabbinat erledigt, und man hatte im Jahre
1802 für dessen Besetzung den Bruder des verstorbenen Rabbiners, einen
Stocktalmudisten alten Schlages aus dem fernen Tarnopol, Samuel ben
Moses Pinchas Falkenfeld, Verfasser des Beth Schmuel Aharon in Aussicht
genommen. Da wagten es einige jüngere Männer, allerdings unter
fingierten Namen, bei der Regierung gegen die Wahl eines "rohen Polack"
Protest einzulegen, für welchen die Menge "durch die kabbalistische
Fabel" eingenommen werde, "dass nach einer angeblichen Genealogie dieser
Podolier zu demjenigen Stamme gehöret, aus welchem der jüdische Erlöser
zu erwarten sei u. dgl. m." Die Regierung berücksichtigte den Protest
und beschied die Beschwerdeführer in einem ihnen günstigen Sinne. Wegen
der fingierten Namen missglückte die Behändigung des Bescheides an die
Urheber, derselbe verfehlte die eigentliche Adresse und fiel in die
Hände des Vorstandes und der sogenannten Vizerabbiner, B'ne Jeschibah.
"Sie versammelten sogleich alle sogenannten Gelehrten und talmudischen
Studenten nach Art der ehemaligen Sanhedrin, zogen sämtliche Eltern und
Schwiegereltern und Verwandte derjenigen Personen herbei, von denen eine
andere Denkungsart zu präsumieren war, dann forderten sie einen jeden
von uns im einzelnen vor, schlossen ihn in einen fürchterlichen Zirkel
der rohen Studenten ein, und schrieen ihn unter Begleitung der
schrecklichsten Flüche wie folgend an: Du teuflische Seele! die du dich
dem Satan anvertraut hast. Deine Gestalt zeuget auf deine Abneigung
gegen unsere Gebote; dein barbierter Bart, deine Tracht (deine jüdische
Tracht trägst du nur zum Schein), alles beweiset, dass du Gottloser! ein
Verräter der jüdischen Geheimnisse bei Christen bist. Du liesest die
deutschen Bücher; du hast auf deiner Bodenkammer Landkarten versteckt,
Zeitungen und andere christliche Schriften statt heiliger Talmudbücher,
bekenne also deine Sünden, dass du Mit-Konzipient der verdammten
Vorstellung warst! Befolge die Buße, die wir dir auferlegen werden,
liefere uns deine unreinen Bücher sogleich aus; unterzeichne dich sofort
auf dieser heiligen Rabbinerwahl oder sonst usw."1
Die heiß umstrittene
Wahl jenes streng talmudischen, dabei milden Rabbiners wurde zwar
durchgesetzt, aber der neue Geist war trotz aller Anstrengungen nicht
mehr einzudämmen, drang zwar langsam, aber stetig vor, bis es 1816
glückte, eine höhere jüdische Privatschule in Posen zustande zu bringen.
Wohlhabende und unabhängige Väter fanden vereinzelt den Mut, ihre Kinder
den Gymnasien oder höheren christlichen Schulen zuzuführen, deren es
übrigens damals in der Provinz nur sehr wenige gab. 1824 griff die
Regierung ein und verordnete, dass in allen existenzfähigen
Judengemeinden deutsche Elementarschulen eingerichtet werden.
Die Verhältnisse gestalteten sich nun eigentümlich dahin, dass man
allgemeine Bildung, die Kenntnis deutscher, französischer und englischer
Klassiker als einen Vorzug und Schmuck der Persönlichkeit zu schätzen
begann und dennoch das heranwachsende Geschlecht über Lesen, Schreiben
und Rechnen hinaus in der Aneignung derartiger Kenntnisse nicht
förderte, dasselbe vielmehr auf die Beschäftigung mit dem rabbinischen
und hebräischen Schrifttum zu beschränken wünschte, dass man ferner in
den Großgemeinden, wie Posen und Lissa, den Zentren des Talmudstudiums,
die jungen Leute, insonders die Talmudschüler, von der Erlernung
profanen Wissens geradezu abzuschrecken suchte, während häufig in den
kleinen Gemeinden diesem Bildungsstreben, soweit es möglich war,
Vorschub geleistet wurde. So schwer und mühsam also gerade die besseren,
die aufstrebenden Kräfte jener Generation in der Provinz sich
durchzuringen hatten, um ihren Weg zu finden, so wurde doch dies
wiederum durch den Vorteil aufgewogen, dass dadurch ihre geistige
Energie und Selbständigkeit gestählt wurde, dass sie fast durchwegs von
dem Geist des Talmuds durchtränkt, mit seinem Wesen innig vertraut
waren, und dass sie, von Enthusiasmus für die rabbinischen Heroen
erfüllt, die Begeisterung für die Ideen des Judentums in sich einsogen
und durch das Leben trugen.
Das war der Boden, auf dem Heinrich Graetz heranwuchs; derartig waren
die Verhältnisse und Faktoren, von denen der Bildungsgang eines Mannes
bestimmt wurde, der dazu berufen war, ein Geschichtswerk zu schaffen,
monumental und volkstümlich zugleich, welches Tausende von Jahren, die
entlegensten Himmelsstriche, die verschiedenartigsten Kulturgebiete
umspannt, welches die geschichtliche Entwickelung des Judentums wie eine
magische, verblichene und unsichtbar gewordene Schrift mit allen
Hilfsmitteln der Gelehrsamkeit und des Scharfsinnes in hellem,
zauberhaftem Glanz wieder hervortreten läßt und durch den begeisterten
Ausdruck seiner geschichtlichen Darlegungen zu einem Erbauungsbuch im
besten Sinne des Wortes für seine Glaubensgenossen geworden ist.
2. Jugendzeit.
Heinrich Hirsch Graetz ist am 31.
Oktober (21. Cheschwan) 1817 zu Xions geboren, einem armseligen
Städtchen im Osten der Provinz Posen, das damals 775 Seelen zählte. Er
war unter seinen Geschwistern, im ganzen zwei Brüder und eine Schwester,
der Erstgeborene.
Von seinen Eltern hatte der Vater, Jakob Graetz, eine hochgewachsene
Gestalt, sein Alter über 90 Jahre hinausgeführt, als er 1876 zu Posen
starb, während seine Mutter, Vogel geb. Hirsch aus Wollstein, von
kräftiger Mittelstatur mit leuchtenden grauen Augen, mit welcher der
Sohn innerlich wie äußerlich große Ähnlichkeiten zeigte, schon 1848 zu
Kosten, einem Städtchen in der Nähe Posens, aus dem Leben schied und
ihre Jahre nur auf einige fünfzig gebracht hatte.
Sie ernährten sich kümmerlich, doch schlecht und recht von einem kleinen
Fleischereibetrieb. In der Hoffnung, ihre Vermögenslage zu verbessern,
verzogen sie einige Jahre später nach dem nur wenige Meilen entfernten
Zerkow. Freilich zählte dieses Städtchen zu jener Zeit ebenfalls nicht
mehr als 800 Einwohner, allein der Ort enthielt eine jüdische Gemeinde
von 100 Seelen, wies eine merkliche Zunahme seiner Bevölkerung auf und
schien ein Aufblühen zu verheißen. Auch die Gegend ist nicht so flach
und reizlos, wie sonst meist in der Provinz, das Städtchen ist von Hügel
und Fluß, von Wald und Wiese umkränzt.
Hier empfing der Knabe seine ersten Eindrücke, hier genoss er seinen
ersten Unterricht in einer Schule, welche nur insoweit von einem
richtigen "Cheder" sich unterschied, als man bereits begann, den
bescheidenen Anforderungen der Regierung an eine jüdische
Elementarschule sich anzupassen. Er lernte Lesen, Schreiben, Rechnen,
das Übersetzen der Bibel und wurde auch, da man große Lernbegier und
Begabung bei ihm wahrnahm, in die Kenntnis des Hebräischen und des
Talmuds eingeführt.
Als er nach zurückgelegtem 13. Lebensjahr konfirmiert wurde, in welchem
Alter man damals die Knaben einem selbständigen Lebensberuf zuzuführen
pflegte, waren die Eltern keinen Augenblick zweifelhaft, dass ihr Sohn
seine Ausbildung fortsetzen müsse. Da wäre es nun das Nächstliegende
gewesen, Posen hiefür zu wählen, wo unter Leitung des hochangesehenen
Oberrabbiners Akiba Eger eine vielbesuchte Talmudschule blühte.
Allein die Mittel der Eltern reichten zu seinem Unterhalt nicht aus, und
der junge Graetz war zu scheu und zu stolz, um nach fahrender Schüler
Art sich seinen Lebensbedarf erbitten und erbetteln zu können. Man hatte
also keine andere Wahl, als ihn nach Wollstein zu schicken, wo seine
Mutter Schwestern und Verwandte besaß, die zwar selbst über keine großen
Schätze verfügten, sich aber doch ihres Schützlings annehmen würden.
Der Aufenthalt in Wollstein erwies sich für ihn als eine überaus
günstige Fügung. Die Stadt selbst, im Westen der Provinz gelegen,
entbehrte nicht des landschaftlichen Reizes, dem des Knaben
empfängliches Gemüt sehr zugänglich war, sie enthielt überdies eine
vorwiegend deutsche Bevölkerung von 2258 Seelen, darunter 841 Juden.2
Die also gar nicht
unansehnliche, dabei wohlhabende jüdische Gemeinde hatte stets eine Ehre
darin gesucht, eine gute Talmudschule zu unterhalten, und zeichnete sich
derzeit dadurch aus, dass in ihr ein heller, freier Geist herrschte und
sie das Bildungsstreben unter ihren Angehörigen eifrigst zu fördern
beflissen war.
Der Rabbiner Samuel Samwel Munk war gegen Anfang des Jahrhunderts aus
Bojanowo nach Wollstein berufen worden; von ihm ging die Sage, dass er
deutsch zu lesen und zu schreiben verstünde, und dass er in den Stunden,
die "nicht Tag und nicht Nacht" wären, deutsche Bücher und selbst
Zeitungen zu lesen pflegte. Keinesfalls trat er seinen Schülern störend
in den Weg, wenn sie ihre Sehnsucht nach profanem Wissen zu befriedigen
suchten, ja sich gegenseitig hiezu anfeuerten, indem jeder dem anderen
in jugendlich ungestümem Wetteifer den Vorrang abzulaufen trachtete.
Ende des Sommers 1831 langte Graetz in Wollstein an. Der junge "Bachur",
der sich bereits an die Ausarbeitung eines kalendarischen Werkes, unter
dem Titel "Jüdische und deutsche Zeitrechnung" in einem allerdings
mangelhaften Hebräisch gewagt hatte,3
besuchte die talmudischen Vorträge des Rabbiners mit großem Eifer und
Erfolg, so dass der letztere ihm ein reges Wohlwollen zuwandte und große
Stücke auf ihn hielt, ohne jedoch seine künftige Bedeutung zu ahnen.
Indes füllten die rabbinischen Studien seinen Geist nicht aus, ein
unauslöschlicher Wissensdurst brach bei ihm durch, und er verschlang
jedes Buch, das ihm in die Hände fiel. Das waren freilich zunächst
Ritterromane, wie sie damals in Schwung waren, unter denen namentlich
der heute vergessene "Raspo von Felseneck" einen tiefen Eindruck auf ihn
machte. Von einem Gönner zurechtgewiesen und mit geeigneterer Lektüre
versorgt, las er mit großem Wohlgefallen die erzählenden und moralischen
Schriften von Campe und fiel zugleich über geschichtliche Bücher her,
die ihn mächtig anzogen, studierte die kleine Weltgeschichte von Bredow,
dann die große von Becker, und eine Lebensgeschichte Napoleons, wobei er
kleinlaut sich gestehen musste, das Meiste nicht verstanden zu haben.
Bald begriff er die Notwendigkeit, sich die Kenntnis des Französischen
und Lateinischen anzueignen. Ohne Lehrer, ohne Anleitung, ohne anderen
Beirat, als den gleichgesinnter Genossen, nahm er sich die französische
Grammatik von Meidinger und später die lateinische von Bröder vor, und
lernte eben alles auswendig, was er darin vorfand. Er war überglücklich,
als er die fremden Klassiker in ihrer eigenen Sprache zu lesen beginnen
konnte. In seinem Lerneifer ließ er sich stets vom Zufall treiben; was
dieser ihm in die Hand spielte, das ergriff er leidenschaftlich und
sprungweise. Er stößt auf einen Euklid in irgend einer Übersetzung,
sofort macht er sich ungestüm über denselben her, so schwer es ihm auch
wird, einen klaren Einblick in den Begriff und die Methode der Geometrie
zu erlangen. Ein polnischer Wanderrabbi, der einen von ihm verfassten
Hiobkommentar4
ausbietet, kommt nach Wollstein und findet dort Beifall und Ehrung;
Grund genug für den eifrigen, dabei höchst ehrgeizigen Talmudschüler,
monatelange für nichts anderes Interesse zu haben, als für Bibelexegese
und hebräische Grammatik.
Ein feines lebhaftes Naturgefühl, dessen Empfänglichkeit er sich bis ins
späteste Alter bewahrt hat, überkommt ihn und er bietet alles auf, um
sich mit der heimischen Flora, wie mit dem gestirnten Himmel vertraut zu
machen. Eine wunderbar schnelle Fassungsgabe, ein glückliches Gedächtnis
und ein weltverlorener Fleiß, dazu eine eiserne Körperkonstitution mit
unverwüstlicher Arbeitskraft, der es nichts schadete, dass er Essen,
Trinken und Schlafen vergaß, um auf ein vorgestecktes Ziel loszugehen,
führte ihn schließlich zum Erfolg.
Trotz seiner Bedürfnislosigkeit hatte er immer wieder mit Mangel und Not
zu kämpfen; er war eine stolze, unabhängige und eigentlich auch
unpraktische Natur, dem ein übertriebenes Ehrgefühl selbst zu einer
berechtigten Bitte den Mund schloß, ja der es vorzog, seine Sorgen vor
anderen zu verheimlichen und beispielsweise an manchem Sabbath, für
welchen Tag man die Talmudschüler doch gerne reichlich versorgte,
trockenes Brot zu essen und unbekümmert um Wind und Wetter mit einem
Buche in der Tasche sich ins Freie hinauszuschleichen, um nur in seiner
Hilflosigkeit nicht entdeckt zu werden, bis endlich der eine oder andere
Freund doch dahinter kam und Wandel zu schaffen half. Er selbst,
jederzeit sanguinisch gestimmt, suchte und fand in den Büchern seinen
Trost.
Es ist geradezu erstaunlich, was Graetz alles in den 41/2 Jahren seines
Wollsteiner Aufenthaltes zusammengelesen und zusammengelernt hat. Den
meisten Fleiß verwandte er auf französische Sprache und Literatur,
welche damals hoch im Kurse stand und der er mit großer Vorliebe oblag;
mit den landläufigen Werken Voltaires, Rousseaus, Fenelons u.a., wie mit
den Dramen von Racine und Viktor Hugo, hatte er sich völlig vertraut
gemacht. Von deutschen Klassikern fesselte ihn neben Lessing,
Mendelssohn, Schiller u.a. namentlich Wieland, mit dem er sich eifrigst
beschäftigte; auffälligerweise ist in seinen Tagebüchern niemals von
Goethe die Rede, als ob ihm dieser Geist, sei es durch Zufall oder aus
anderen Gründen, fremd geblieben wäre, dagegen wurde er in der letzten
Wollsteiner Zeit auf die Schriften von Börne, Heine und Saphir
aufmerksam, von denen der in ihm schlummernde Hang zu Spott und Ironie
geweckt wurde. Die schwerste Qual hatte er mit den lateinischen
Schriftstellern, doch bewältigte er den Cornelius Nepos, den Curtius,
von Ovids Metamorphosen und Virgils Äneide mehrere Bücher. dass er
zugleich eine große Belesenheit im rabbinischen Schrifttum sich erwarb
und auch das Talmudstudium nicht vernachlässigte, bezeugt die
Auszeichnung, mit der ihn der Rabbiner Munk zu Neujahr 5595 (Oktober
1834) überraschte, indem er ihm den Chabertitel verlieh, mit welchem
Titel in solchem Alter nur ganz begabte und würdige Talmudjünger
ausgezeichnet wurden.
Nun aber geriet der junge Most ins
Gären und begann die federweißen Flocken aufzutreiben. Ganz und gar
Autodidakt, hatte er sich planlos und unmethodisch der Lektüre
hingegeben, wie ihn gerade der Zufall oder die Laune trieb, und dadurch
einen sehr reichen, aber ebenso buntscheckigen Wissensstoff in seinem
Geist aufgespeichert; ein chaotisches Gemisch unvereinbarer, disparater
Ideen und Meinungen wogte durch seinen Kopf und setzte sein ganzes
Denken und Fühlen in stürmische Wallung. "Durch die verschiedenen, sich
widersprechenden Meinungen, heidnische, jüdische und christliche,
epikureische, kabbalistische, maimonidische und platonische, welche alle
meinen Kopf verdreht" - so schreibt er November 1835 in seinem Tagebuch
- "wurde mein Glaube so wankend gemacht, dass ich, wenn mich eine Idee
von Gottheit, Ewigkeit, Zeit und dergl. anwandelte, mich in die tiefsten
Abgründe der Unterwelt hinabwünschte". Obschon er mit seiner Stimmung
und in seinen Gesinnungen ganz aus dem Gleichgewicht geraten war, so
verlor er doch keineswegs den Halt; das Dasein Gottes und die
Unsterblichkeit der Seele blieben die unerschütterlichen Pole seiner
Empfindungswelt, an denen er sich festhielt. "Wie Furien" - heißt es
bald darauf weiter - "rissen solche Gedanken dann an meinem Innern, wenn
sie, wie oft geschah, sowohl durch meine Dürftigkeit, als durch
dergleichen Lektüre auf diese Untersuchung gebracht worden sind. Nur der
heitere sternbesäte Himmel, an welchem Sonnabends nach Sonnenuntergang
mein Auge mit Entzücken hing, frischte das beseligende und erwärmende
Gefühl auf: - Ja, es ist ein Gott dort über dem Sternenzelte!" Dagegen
wurden ihm die alltäglichen Religionsübungen des Judentums, die er bis
dahin mit skrupulöser Gewissenhaftigkeit respektiert hatte, wie er von
frühester Jugend dazu angehalten worden, immer mehr verleidet; obschon
er sie auch ferner nicht vernachlässigte, so stieß ihn doch die Menge
der Observanzen ab, und noch mehr die kleinliche, geistesarme und
formlose Art und Weise, mit der er sie in allen seinen Kreisen
gewohnheitsmäßig geübt sah. Weil er all dies auf den Talmud
zurückführte, warf er einen Groll auf denselben, und seine Abneigung
nahm noch mehr zu, wenn er in seinem Geiste Stil und Methode der ihm
bekannt gewordenen vorzüglichen Literaturwerke dagegen hielt und
Vergleichungen anstellte, welche nicht zum Vorteil des rabbinischen
Schriftwerkes ausfielen. Dazu kam noch ein anderes: Bisher hatte er
gedankenlos in den Tag hineingelebt oder vielmehr hineinstudiert; nun
mag ihm wohl von seinen Eltern und Verwandten die Notwendigkeit nahe
gelegt worden sein, an einen Lebensberuf zu denken oder ein Brotstudium
zu wählen. Einer so berechtigten Forderung konnte er sich zumal in
seiner damaligen Gemütsverfassung gar nicht verschließen, und brütend
sann er oft über die Frage nach: was nun? und faßte und verwarf die
seltsamsten Pläne. Da trat ein scheinbar geringfügiges Ereignis ein,
welches jedoch den heftigen Sturm in seinem Innern beschwichtigte, das
zwischen bedenklichen Klippen auf- und niederschwankende Schifflein
seines Geistes flott machte und in günstiges Fahrwasser trieb; es war
dies die Wirkung eines Büchelchens, das unter dem Titel " " "Neunzehn
Briefe über Judentum, herausgegeben von Ben Usiel" eben damals
erschienen war.
Auf religiösem Gebiet hatten bislang die Männer der Reformpartei, welche
die religiösen Gepflogenheiten und die herkömmlichen Satzungen des
traditionellen Judentums als mit dem modernen Leben unvereinbar
umgestalten und beseitigen wollten, das literarische Feld beherrscht,
das nachwachsende Geschlecht immer stärker zu sich herübergezogen und
waren in ihrem Bestreben, die religiösen Besonderheiten möglichst zu
verwischen, immer kühner und stürmischer vorgegangen. Dagegen hatte
ursprünglich die Gegenpartei, welche den alten Glauben und Brauch der
Väter unversehrt erhalten wollte, an die veränderten Zeitverhältnisse
jedes Zugeständnis verweigert, ja nicht einmal dafür gesorgt, sich mit
modernen Waffen für die Abwehr zu versehen, und als die Bewegung immer
drohender anschwoll, stand sie ratlos und unbeholfen da; weltfremd auf
dem Gesellschaftsboden des Ghettos ruhend, eingesponnen in den
talmudischen Gedankenkreis, erwies sie sich außerstande, dem Gegner
einen wirkungsvollen Wortführer oder einen Regenerator
entgegenzustellen. Was sie so lange schmerzlich vermißte, das schien nun
mit einem Male in einem jungen Theologen erstanden zu sein. Samson
Raphael Hirsch, Rabbiner zu Oldenburg, war in der genannten Schrift
"Neunzehn Briefe" gewandt, beredt und tapfer für die volle Geltung
sämtlicher Religionsgesetze eingetreten und verhieß, die alten
Religionsformen mit neuem Geist zu beleben. Schon durch die Kühnheit,
einen solchen Standpunkt mit allen seinen Konsequenzen unumwunden zu
vertreten, wirkte diese Schrift in jüdischen Kreisen geradezu als ein
sensationelles Ereignis; in Graetz' nach einem Halt suchendes Gemüt fiel
sie wie ein Lichtstrahl, um ihn die Spur erkennen zu lassen, der folgend
er seine Ideale finden sollte. Er selbst berichtet: "Oft sprach ich mit
B. B. davon (nämlich von religiösen Zweifeln), denn nur vor diesem
konnte ich über solche Dinge meine Meinung äußern. Dann brachte er vor,
wie sehr eine Reform bei dem allmählichen Verfall der Religion notwendig
sei. Ich wußte aber, dass eine Reform, das heißt Auslassung einiger mit
dem Ganzen verflochtener Gesetze, das ganze Gesetz aufheben würde. Wie
angenehm mußte mir also ein neues Buch sein, "Neunzehn Briefe über das
Judentum, anonym," worin ich eine noch nie gehörte oder geahnte Idee des
Judentums mit überzeugenden Argumenten fand, wie dieses die beste
Religion und zum Heile der Menschen notwendig ist. Mit gierigen Blicken
sog ich die Sätze darin ein, und so abtrünnig ich dem Talmud vorher
gewesen, so söhnte dieses Buch mich mit ihm aus, und ich kehrte zu ihm
wie zu einer untreu gehaltenen, aber treu gefundenen Geliebten zurück,
nahm mir vor, ihn womöglich zu ergründen, ihn philosophisch zu lernen
und, da mir viele weiß machten, ich könne ein sogenannter studierter
Rabbiner werden, dessen Wahrheit und Nützlichkeit allen zu zeigen.
Sogleich setzte ich mich daran, fing den ersten Folianten an - und das
erste Buch Moses, mit großem Vergnügen über jedes nachdenkend, nicht wie
über Altertumsmonumente, sondern wie über ein göttliches, dem Menschen
Heil bringendes Buch. Dazu kamen mir die wenigen Kenntnisse, die ich
hier gesammelt, - worunter auch die Theologie, die ich jetzt erst als
eine Kenntnis beachtete, Geometrie, da ich von Euklides beinahe die
ersten drei Bücher gelernt, und Geschichte - gut zu statten."
Damit war aber in Wollstein seines Bleibens nicht mehr, denn der Ort
hatte ihm nichts mehr zu bieten. Der Domizilwechsel eines Oheims, mit
dem er seine beste Stütze verlor, die übliche Schwärmerei einer
phantastischen Jugendliebelei, der die ernüchternde Enttäuschung gefolgt
war, Konflikte mit Studiengenossen und Gönnern, welche von seinem
disharmonischen Seelenzustand wohl mitverschuldet und durch Zuträgereien
verschärft worden, erleichterten ihm den Entschluß, von dem Städtchen,
das ihm wie eine zweite Heimat ans Herz gewachsen war, sich zu trennen.
Doch wohin sich wenden, um das zu finden, was seine Seele suchte? Er
verfiel auf Prag, das derzeitige Mekka der jungen jüdischen Theologen,
"eine Stadt, durch Gelehrsamkeit, Gastfreiheit und andere Vorzüge so
sehr berühmt".
3. Lehrjahre.
So verließ denn Graetz im April 1836 Wollstein und wandte sich zunächst
nach Zerkow, um die Eltern von seinem Vorhaben zu unterrichten und mit
ihnen das Weitere zu beraten. Empfehlungsbriefe an Prager Familien
wurden herbeigeschafft, Eltern und Verwandte schossen eine kleine Summe
zusammen, Graetz besorgte seinen Paß, schnürte im vollen Sinne des
Wortes sein Ränzchen und machte sich wohlgemut auf den Weg. Teils zu
Fuß, teils billige Fahrgelegenheit benutzend, nahm er die Straße über
Breslau, schritt fürbaß durch das schlesische Gebirge und gelangte
unweit Reinerz an die österreichische Grenze. Hier aber trat ihm wie ein
Cherub mit feurigem Schwert der Grenzbeamte entgegen und wehrte ihm den
Eintritt nach Österreich, weil er zwar einen Paß, aber keine 10 flor. (=
20 Mark) in bar vorzeigen konnte; über den Barbesitz einer solchen Summe
mußte man nämlich sich ausweisen, wenn man, ohne die Post zu benutzen,
Einlaß in die Lande des kaiserlichen Doppeladlers erhalten wollte. Der
junge Wandersmann verlegte sich bestürzt aufs Parlamentieren und berief
sich auf seine Empfehlungsschreiben; vergebens, die Grenzwacht ließ sich
auf keinen Kompromiß ein. Da Graetz, stolz und unbeugsam wie er war, zu
Bitten oder Stillschweigen sich nicht verstehen mochte, machte er
trotzig kehrt und ging desselben Weges und in derselben Weise, wie er
gekommen war, kleinlaut wieder zurück gen Zerkow in das väterliche Haus,
wo seine Eltern nicht wenig über seine Heimkehr erstaunt, aber doch
zugleich erfreut waren, ihren Sohn wieder einige Zeit bei sich sehen zu
können.
Das kleine Abenteuer darf als charakteristisch für das wunderliche
Mißgeschick gelten, von dem Graetz im praktischen Leben, zumal am Anfang
seiner Laufbahn oft empfindlich genug betroffen wurde, ohne dass er
jedoch dadurch an seinem Stern je irre wurde. Seine initiative und
temperamentvolle Natur verstand es wohl, mit schnellem Scharfblick die
leitenden Gesichtspunkte und richtigen Ziele herauszufinden, aber es
will oft scheinen, als wenn sein Geist zu weitsichtig und ungestüm
gewesen, um die kleinen Mittel und Hebel zur Erreichung seiner Absichten
stets gebührend zu würdigen. Vorläufig suchte er Vergessenheit für die
verunglückte Reise in seinen Studien. Er vertiefte sich jetzt in das
Lateinische, las den Livius, Cicero's de natura deorum, welches Buch ihm
gewaltig imponierte, Virgils Äneide und Terenz' Komödien, beschäftigte
sich viel mit Schrökhs Universalhistorie und mit seinem Wieland, dessen
"Sympathien", "goldener Spiegel" u.a. ihn "ungemein ergötzten,
erheiterten und beseligten"; nicht minder eifrige Sorgfalt widmete er
dem Talmud, wie dem Hebräischen und war besonders emsig über die Exegese
der "ersten Propheten" her. Sein unruhiges Gemüt, einerseits durch die
Ratlosigkeit im Hinblick auf die Zukunft herabgestimmt und anderseits
durch die kleinstädtische und enggeistige Umgebung zum Spott
herausgefordert, entlud sich in allerlei übermütigen Streichen, wie
solche im genialen Drang junger Jahre durchzubrechen pflegen. Er
verspottete den Rabbiner, hänselte den Vorstand, bereitete dem
Bürgermeister Verdruß, wußte aber stets heil davon zu kommen und
erschreckte sogar die Eltern durch Anwandlung religiösen Freimuts. In
den östlichen Gegenden ist es nämlich am Abend vor dem Rüsttag des
Versöhnungstages Brauch, dass ein Mann einen lebendigen Hahn und eine
Frau eine lebendige Henne mehrere Male sich um das Haupt schwingt und in
einem kurzen Gebet die Strafe für die Sündenschuld möglichst auf den
unglücklichen Vogel zu übertragen wünscht. Graetz hatte kurz vorher
erklärt, sich diesem "Kappores"- Brauch schlechterdings nicht fügen zu
wollen, man nahm indes seine Äußerung für eitel Ruhmredigkeit. Als
jedoch die Abendstunde herankam und man lange vergebens mit dem komisch
feierlichen Akt auf das Erscheinen des ältesten Sohnes gewartet hatte,
zürnte der Vater und drohte, er werde seinem ketzerischen Kinde alle
Bücher, die nicht hebräisch wären, verbrennen; die Mutter aber machte
sich auf, um den verirrten Sohn überall zu suchen; sie fand ihn
schließlich, liebevoll folgte er ihr nach Hause, doch zu irgend welcher
Manipulation mit dem Hahn war er durchaus nicht zu bewegen, so dass
derselbe ohne Schwung und ohne Verwünschung zum Schlächter wandern
mußte, und erst am folgenden Tage eine rührende Versöhnung mit den
Eltern stattfand. Nach dem Feste wurde Graetz von einem befreundeten
Buchhändler aus Wollstein, der ihm gewöhnlich die neuen Erscheinungen
des jüdischen Büchermarktes zusandte, mit den "Neunzehn Briefen des Ben
Usiel" beschenkt, deren Besitz er gewünscht hatte. Die Schrift
elektrisierte ihn aufs neue und gab ihm den Gedanken ein, sich dem
Verfasser, der ihm inzwischen bekannt geworden war, als Schüler
anzubieten.
Samson Raphael Hirsch erschien ihm nämlich als das Ideal eines jüdischen
Theologen der Gegenwart und als der vertrauenswürdige Lehrer, nach dem
er sich gesehnt, um von ihm irgendwelche Anleitung oder gar Aufschluß
über die mannigfachen, seinen Geist beschäftigenden Fragen zu erhalten.
In diesem Sinne schrieb Graetz an den Landrabbiner zu Oldenburg, wobei
er aus seiner Gesinnung kein Hehl machte, sondern klar und aufrichtig
seine Gemütslage und seinen Bildungsgang darlegte. Dieser Schritt hatte
Erfolg.
[Einleitung: Biographie des Dr. H. Graetz, S. 19 ff.Digitale Bibliothek
Band 44: Heinrich Graetz: Geschichte der Juden, S. 83 (vgl. GesJud Bd.
1, S. 11 ff.)]
Am 1. Februar
1837 erfolgte die förmliche Einladung von Hirsch, nach Oldenburg zu
kommen, Kost und Wohnung biete er ihm in seinem eigenen Hause an, für
die weiteren Bedürfnisse müßten die Eltern sorgen, nach dem Passahfeste
(im Mai) erwarte er sein Eintreffen. Schon anfangs April trat Graetz die
Reise an, weil er unterwegs Verwandte besuchen, auch in Berlin und
Leipzig sich einige Zeit umsehen wollte.
In Berlin macht das Museum und die Gemäldegallerie einen tiefen Eindruck
auf ihn. Dort lernt er den Prediger Salomon Pleßner kennen, von dem er,
ein merkwürdig scharfer Beobachter, folgende zutreffende Charakteristik
sich aufzeichnet: "Auch diesen rühmlichst bekannten Mann besuchte ich
und fand einnehmende, Scharfsinn versprechende Züge, aber
vernachlässigtes Äußere und nachlässige, ungrammatische, ja mauschelnde
Sprache; und dieses wundert mich, da seine Sprache in den Predigten doch
recht gediegen und gewählt ist. Er ist ungefähr in den Vierzigen, trägt
einen Bart und scheint so recht und echt religiös zu sein. Aber sein Tun
ist wilder Art, er spricht alles rasch aufeinander, immer hin und her
laufend, die Bücher räumend, und zerstreut."
In Leipzig besuchte er seinen Landsmann Dr. Fürst und berichtet:
"Ein kleiner Mann, dessen Gesicht mir von der Kindheit noch bekannt war,
kam mir entgegen. Ich überreichte ihm den von seiner Mutter mir
gegebenen Brief, worauf er gleichgültig erwiderte: Ich werde nächstens
schreiben. Als ich ihm aber das Ziel und die Veranlassung meiner Reise
sagte, dann ihm die Briefe von Hirsch zeigte, ward er anderen Sinnes und
sprach ganz freundlich mit mir. Endlich als er einsah, ich sei kein
Ignorant, vertraute er mir mehreres und erzählte mir von seinen
wissenschaftlichen Adversairen, brüstete sich, er sei auch Gesenius'
Lehrer gewesen, dass er nun mit Ewald versöhnt sei, dass ihm die größten
Gelehrten Briefe schreiben usw ... Ich sprach immer vertrauter mit ihm,
und jetzt schieden wir als Freunde, indem er mich wieder zu sich lud,
wenn ich anders über da bleiben sollte ... Sollte ich nicht bleiben, so
müßte ich ihm versprechen, mit ihm künftig Briefe zu wechseln. Es freute
mich besonders, dass Fürst sich nicht taufen lassen und für das Judentum
wirken will ... Streben fürs Judentum meint er, sei die erste Bedingnis
jedes studierenden Juden, das heißt ihm: streng wissenschaftliches, wohl
auch - philologisches Studium." Um die Zeit während der Reise nicht ganz
zu vergeuden, begann Graetz unterwegs Griechisch zu lernen und benutzte
die griechischen Konjugationen dazu, um sich die öden Stunden und die
Ungelegenheiten, welche bei dem weiten Weg und seinen knappen Mitteln
nicht ausbleiben konnten, und den Kleinmut, welcher ihn infolgedessen
öfters befiel, möglichst zu vertreiben.
In einem elenden Örtchen, wo er des Sabbaths wegen gezwungen ist, einen
ganzen Tag Rast zu machen, findet er ein neues Testament vor und liest
es zum ersten Mal. Der erste Eindruck dieser Lektüre wird folgenderweise
von ihm geschildert: "Trotz der vielen Seltsamkeiten und Widersprüche
sprach mich die Sanftmut in Christi Charakter an, aber es stieß mich
zugleich ab, so dass ich recht konfus wurde."
Am 8. Mai trifft er endlich in Oldenburg ein, wo sich eine neue Welt vor
ihm auftut.
Hier trat ihm in Samson Raphael Hirsch eine Persönlichkeit entgegen, zu
deren geistiger Überlegenheit und sittlicher Hoheit er mit unbedingter
Verehrung aufblickt, die all den Erwartungen, mit denen er hergekommen
war, auch wirklich entspricht. Hirsch war ein moderner Mensch mit guten,
ja vornehmen Formen, obschon er sich jedem geselligen Umgang entzog;
zwar klein von Statur, imponierte seine äußere Erscheinung durch
gemessene, würdevolle, die Vertraulichkeit ablehnende Haltung. Mit
großen Geistesgaben und seltenen Herzenseigenschaften verband er nicht
nur ein reiches theologisches Wissen, sondern auch eine vorzügliche
klassische Bildung. Weitausblickende oder tiefe Ideen standen ihm nicht
gerade zur Verfügung, aber er sprühte von originellen Bemerkungen und
anregenden Einfällen, welche seinen neuen Schüler in helle Begeisterung
versetzten. Er war der einzige wirkliche Lehrer, von dem Graetz'
autodidaktische Natur wissenschaftliche Impulse empfing, ja vielleicht
der einzige Mann, der auf diesen spröden und selbständigen Charakter
eine nachhaltige Einwirkung geübt, insoweit die starke Eigenart seines
Wesens es eben zuließ.
Bei seinem Eintreffen in Oldenburg wurde der Ankömmling von Hirsch sehr
wohlwollend empfangen und sogleich in dessen Haus installiert, wo er
fortab Wohnung und Verpflegung erhält. Gleich am anderen Tage wird mit
dem Unterricht begonnen, sie beschäftigen sich des Vormittags mit dem
Talmud, am späten Nachmittag mit den Psalmen, und der Jünger fühlt sich
von dem Geist und der durchdringenden Methode, mit der die Exegese
dieser Schriftwerke behandelt wird, wunderbar angezogen und angeregt,
geradezu gehoben. Es kommt nun Plan und Ordnung und Zusammenhang in
seine Kenntnisse. Hirsch nimmt sich seines Schützlings wahrhaft
väterlich an, er bemüht sich, seinen Geist zu disziplinieren, seine
sittliche und religiöse Kraft zu festigen; dabei hütet er sich, als wenn
ihm jetzt schon eine Ahnung von der ungewöhnlichen Kraft und Begabung
dieses nach Wissen und Belehrung lechzenden Jünglings aufgegangen wäre,
ihn von oben herab zu schulmeistern, er behandelt ihn stets als einen
bei allem Abstand doch ebenbürtigen Jünger. Mag auch die Wirkung der
Jahre dazu beigetragen haben, Graetz reifte sichtlich unter der Leitung
dieses Meisters, der an ihm seinen ersten Schüler gefunden.
Die Verwendung, die er im Hause seines Lehrers fand, war hauptsächlich
das Amt eines Famulus. Er begleitet den Landrabbiner auf seinen
Inspektionsreisen, wobei sie sich die Stunden unterwegs mit Erörterungen
über talmudische und biblische Gegenstände verkürzen. Er sieht mit ihm
die letzten Abschnitte des "Horeb" durch, hilft ihm bei diesem Buch die
Korrektur der letzten Bogen besorgen, von dem der Jünger ganz entzückt
und ergriffen wird, u. dgl. m.
Welch vorteilhafte Meinung muß der rigorose Landrabbiner von seinem
Famulus gefaßt haben, wenn er, zur Herstellung seiner geschwächten
Gesundheit ein Bad aufsuchend, demselben die Befugnis erteilt, während
seiner Abwesenheit in religionsgesetzlichen Fragen () zu entscheiden!
Unser Famulus verfährt auch dabei so gewissenhaft, dass die übernommene
Verantwortlichkeit ihn drückt, und er gesteht, wie er sich das Treffen
korrekter Entscheidung viel leichter vorgestellt habe. Seine Stimmung
lodert fast schwärmerisch auf, als ihm von Hirsch ein überaus
liebevolles Schreiben zukommt. Diese enthusiastische Anhänglichkeit an
den Meister erlischt keineswegs durch den täglichen und vertrauten
Verkehr mit ihm, trotz der kritisch veranlagten, dabei sanguinischen
Gemütsart des Jüngers auch alsdann nicht, da er nicht mehr in Zweifel
sein kann, dass es seinem Ideal an historischer Vertiefung, an
wissenschaftlichem oder vielmehr philologischem Blick gebricht.
Graetz hatte überhaupt für Freundschaft starken Trieb und schwungvolle
Empfindung. Wie er jederzeit gerne an allen Ereignissen um ihn her
lebhaften Anteil nahm, so liebte er es schon damals, was später vielen
seiner Schüler zum Heil wurde, in die Vorkommnisse des Tages tätig
einzugreifen, sobald er glaubte, sich seinen Freunden nützlich erweisen
zu können und für ihr Wohl eine Art Vorsehung zu spielen. Als daher im
Januar 1838 aus der Heimat, mit der er natürlich einen regen
Briefwechsel unterhielt, die verspätete Kunde bei ihm eingeht, dass der
Oberrabbiner Akiba Eger in Posen verstorben war, schreibt er ohne irgend
welchen Auftrag, nur weil er von der Sehnsucht seines Gönners nach einem
größeren Wirkungskreis Kenntnis hat, an den Posener Vorstand, um die
Aufmerksamkeit desselben auf Hirsch zu lenken, und er jubelt in heller
Freude darüber auf, dass der Vorstand von Posen bald darauf in eine
gewisse Beziehung zu Hirsch tritt; ja es hatte sich dort sogar eine
Partei zugunsten des Oldenburger Landrabbiners gebildet, ohne indes ein
greifbares Resultat
[Einleitung: Biographie des Dr. H. Graetz, S. 25 ff.Digitale Bibliothek
Band 44: Heinrich Graetz: Geschichte der Juden, S. 89 (vgl. GesJud Bd.
1, S. 14 ff.)]
zu erzielen.
Dasselbe Spiel wiederholte sich, als 1840 das Wollsteiner Rabbinat sich
erledigte, nur dass Hirsch die Begeisterung seines Jüngers für Wollstein
zu dessen großem Leidwesen nicht teilen mochte.
Man sieht hieraus, dass Graetz sich niemals weltscheu in Bücher
vergraben hatte; wie überall, so suchte er auch in Oldenburg
Bekanntschaften anzuknüpfen, freundschaftlichen Verkehr zu pflegen, und
sein heiterer Sinn gab sich mit einem gewissen Behagen der harmlosen
Fröhlichkeit geselliger Freuden und Anregungen hin. Dabei
vernachlässigte er weder seine Pflichten, noch seine Studien. Er
erlernte daselbst das Englische und hatte, da er in der Bibliothek des
Landrabbiners syrische Bücher vorfand, auch Syrisch zu studieren
angefangen; das erstere scheint Hirsch gefördert zu haben, nicht aber
das letztere. Hirsch begegnete seinem Jünger jederzeit mit
ununterbrochen gleichmäßiger Freundlichkeit und erwidert dessen
enthusiastische, teilnehmende Gefühle mit väterlichem Wohlwollen. Wie
ein Familienglied wurde Graetz in seinem Hause gehalten und als solches
auch von sämtlichen Angehörigen behandelt.
In so angeregter Weise flossen Graetz drei Jahre in der Umgebung seines
Lehrers hin. Allmählich jedoch, zumal im vierten Jahre klingen allerlei
kleine Differenzen mit der Frau des Hauses durch, wie solche bei so
enger und langjähriger Hausgenossenschaft nicht auszubleiben pflegen und
dazu beitragen, die gegenseitige Intimität bald ebben, bald fluten zu
machen. Für Graetz reichen sie bei seinem stolzen Unabhängigkeitsgefühl
schließlich hin, um den ruhigen Spiegel seines an die Gegenwart
hingegebenen Gemütes zu trüben. Die Sorge um die Zukunft steigt
beunruhigend vor ihm auf. Der Drang ein bestimmtes Lebensziel endlich zu
ergreifen, die Sehnsucht nach seinen Eltern, welche indessen von Zerkow
nach einem etwas größeren Städtchen, Kosten, übergesiedelt waren, all
dies vereinigt sich, um ihm die Trennung von Oldenburg ratsam erscheinen
zu lassen. Nach offener und friedlicher Aussprache mit seinem Lehrer
entschließt er sich, die Heimreise anzutreten.
4. Aufstieg und Absturz.
Der Abschied aus dem Hirschschen Hause erfolgte unter rührender
Herzlichkeit, und nach mehr als dreijähriger Abwesenheit wendet sich
Graetz wieder der Heimat zu, nach Kosten, wo er um die Mitte August 1840
eintrifft. Von der jüngeren Generation wird er allenthalben als Schüler
von Hirsch freudig begrüßt und veranlaßt, in Wollstein, Kosten und
Zerkow zu predigen. Seine Predigten schlagen zwar nicht durch, aber sie
bekunden hinlänglich, dass in dem Prediger ein eigener Fonds von Wissen
und Geist sich birgt; seine sämtlichen Freunde kommen also darin
überein, dass es sich für ihn empfehle, zu "studieren", d.h. die
Universität zu absolvieren und sich den Doktorhut zu holen. Sie weisen
darauf hin, dass wenigstens die kleineren Gemeinden in der Provinz, wie
Wreschen, Wollstein, Kosten, mit der Anstellung, "studierter Rabbiner"
teilweise vorgegangen, teilweise vorzugehen entschlossen sind. Um einige
Mittel für die Universitätszeit sich zu beschaffen, versteht er sich zur
Übernahme eines Hofmeisterpostens in Ostrowo, den er gegen Ende 1840
antritt.
In Ostrowo, einer kleinen Stadt im Südosten der Provinz mit einer großen
jüdischen Gemeinde, welche noch tief in den alten, wenig anmutenden
Lebensformen des Ghetto steckte, fühlte er sich überaus unbehaglich.
Seine Position innerhalb des Hauses sagte ihm nicht zu, außerhalb fand
er aber niemanden, dem er sich freundschaftlich anschließen mochte. Um
Ersparnisse zu machen, hatte er sich der übrigens nicht allzu
anstrengenden Hofmeisterei unterzogen; hierzu fehlte es ihm an
finanziellem, wie an haushälterischem Geschick. Ja, seine
verwandtschaftliche Hingebung, seine Gutmütigkeit und Unbedachtheit
verwickelten ihn in so arge, Geldverlegenheiten, dass die Monologe
seines Tagebuches von pessimistischer Schwermut überströmen und selbst
das Gottvertrauen, das sonst durch diese Blätter innig und hoffnungsvoll
haucht, zu erlahmen scheint. Trost suchte er in vielfachen, kleinen
Ausflügen nach den Nachbarstädten, in der Abfassung einer hebräischen
Biographie der Mischnahlehrer unter dem Titel 5 und, wie es scheint, in
der Lektüre der - Kirchenväter. Bei einem derartigen Ausflug anläßlich
der Verlobung eines Jugendfreundes fiel sein Auge auf die Schwester der
Braut, ein blutjunges Mädchen, welches sein Wohlgefallen erregte und
dazu bestimmt war, auf sein Leben einstmals einen heilsamen,
entscheidenden Einfluß zu gewinnen; in seiner Verstimmung hatte ihn der
Eindruck wohltuend berührt, ohne dass er dermalen an irgend welche
weitere Konsequenzen dachte. Gegen 11/2 Jahre, bis zum Juli 1842,
verblieb er in Ostrowo auf seinem Posten, bis ein läppischer
Zwischenfall das wenig erquickliche Verhältnis in nicht ganz
freundlicher Weise löste.
Nun aber gings nach Breslau zur Universität zu deren Besuch Graetz, da
er keine Maturitätsprüfung abgelegt hatte, die ministerielle Erlaubnis
nachsuchte und erhielt. Im Oktober 1842 erfolgte seine Immatrikulation,
und mit ehrerbietiger Scheu und Spannung betrat er, der Autodidakt, die
mysteriösen Hörsäle der strengen Wissenschaft, um sie kopfschüttelnd
über die vernommene Weisheit meist enttäuscht und unbefriedigt zu
verlassen. Es war ein so reicher und vielseitiger Wissensstoff, über den
er schon damals verfügte, als er die Universität bezog, wie dies sonst
naturgemäß nicht der Fall zu sein pflegt; und dieses Wissen war zwar
nicht schulgemäß hergerichtet und abgerundet, trotzdem aber in sich
geschlossen und kristallisierte bereits um einen festen Mittelpunkt. In
der Tat hatte er seine eigentlichen Lehrjahre schon hinter sich; auch
seine Gereiftheit in Anschauung und Urteil läßt sich nicht verkennen.
Die verschiedenartigsten Vorlesungen, geschichtliche, philosophische,
orientalische, selbst physikalische wurden von ihm während seiner
Universitätszeit besucht, ohne dass tiefere Spuren wahrzunehmen sind,
welche sie in seinem Geiste zurückgelassen. Selbst der Professor
Bernstein, ein Orientalist von ansehnlichem Ruf, der ihn zu engerem
Verkehr heranzog, verstand es nicht, in seinem Schüler den ihm sonst
eigenen ungestümen Eifer für ein umfassendes Studium des Syrischen und
Arabischen zu entfachen; er selbst scheint nicht mehr die Absicht gehabt
zu haben, es auch in diesen Fächern zu irgend welcher Meisterschaft zu
bringen. Nur der seiner Zeit geschätzte Philosoph, Professor Braniß, dem
er ebenfalls näher trat, mag ihm allenfalls die Bekanntschaft mit der
Hegelschen Philosophie vermittelt und das Bewußtsein eingeflößt haben,
dass auch in der Welt der Freiheit alle Entwicklung mit absoluter
Gesetzmäßigkeit, natürlich idealer Natur, sich vollzieht, dass daher die
geistigen Kräfte, welche durch Verwirklichung einer immer höheren Idee
die Geschichte der Menschheit erzeugen, wohl ihren immanenten Gesetzen
folgen, zugleich aber dabei dem Kausalnexus sich unbedingt fügen, und
dass bei der Betrachtung geschichtlicher Erscheinungen das Prinzip von
Satz und Gegensatz (Thesis - Antithesis - Synthesis) sich besonders
förderlich erweist.
So sehr Graetz in seine Studien sich vertiefte, er verfehlte nicht, den
Vorgängen in der Breslauer Gemeinde seine volle Aufmerksamkeit
zuzuwenden. Was zu jenen Tagen im Schoß der Breslauer Judenschaft
vorging, hatte freilich kein bloß lokales Interesse, sondern warf seine
Schatten oder seine Strahlen
[Einleitung: Biographie des Dr. H. Graetz, S. 31 ff.Digitale Bibliothek
Band 44: Heinrich Graetz: Geschichte der Juden, S. 95 (vgl. GesJud Bd.
1, S. 18 ff.)]
weit über
Schlesien hinaus und hatte sämtliche jüdische Kreise Deutschlands
mächtig ergriffen und erregt. Dort war das orthodoxe und das
reformatorische Prinzip zum ersten Male in ganzer Wucht im Kampf ums
Dasein zusammengestoßen; heftig und wild tobte Streit und Sturm zwischen
der alten und neuen Partei, da die Orthodoxie, blind gegen die
Zeitverhältnisse, jegliches Ausgleichsanerbieten starrköpfig mit einem
Non possumus beantwortete. Die Vertreter beider Parteien, der
altgläubige Salomo Tiktin einerseits und der fortschrittliche Abraham
Geiger anderseits, suchten mit rücksichtsloser Schärfe einander
niederzuringen. Geiger siegte, und selbst die hierdurch herbeigeführte
Sprengung der Gemeinde tat seinem Siege keinen Abbruch.
Dr. Abraham Geiger, dessen erstes Auftreten auf dem rabbinischen
Schauplatz sofort Sturm ankündigte, der den anscheinend ruhig, aber
unaufhaltsam sich vollziehenden Prozeß der neuzeitlichen religiösen
Entwicklung in seinen Tiefen heftig aufwühlte, gehörte zu den
hervorragendsten Rabbinen seiner Zeit. Rednerisch wie schriftstellerisch
handhabte er das populäre Wort mit wahrer Meisterschaft; dieser
Meisterschaft war es mehr eigen, das Wort in die Breite ausströmen zu
lassen, als es in präzisem, schlagendem Ausdruck zusammenzuziehen. Einer
der besten Kanzelredner des Judentums, verstand er es, durch schlichte
Art und geistvolle Wendungen zu fesseln und anzuregen; die wenigen von
ihm veröffentlichten Predigten geben nicht annähernd eine Vorstellung
von der Macht, mit der sein lebendiges Wort wirkte, wiewohl dasselbe
keineswegs durch die äußeren Mittel seiner Persönlichkeit besonders
gehoben oder gar getragen wurde. Auch als Gelehrter hat er für die
jüdische Wissenschaft Vorzügliches und Bleibendes geleistet, namentlich
hat er sich um die literarhistorische Forschung, die er meisterhaft
beherrschte, hochverdient gemacht; hingegen lassen die ersten Arbeiten,
zumal aus der ersten Breslauer Zeit, zuweilen die volle Durchbildung des
Verfassers vermissen, der es überdies liebte, auch in seinen gelehrten
Arbeiten stets die reformatorische Tendenz hervorzukehren. Trotz seiner
wissenschaftlichen Bedeutung fehlte ihm die Tiefe des geschichtlichen
Blickes. Trotz seiner Verdienste um den modernen Gottesdienst war sein
Empfinden für die Bedürfnisse und Regungen der Volksseele nicht fein und
intensiv genug. Er war im Grunde ein doktrinärer Rationalist. Auch sein
religiöses Programm und Ziel trat nicht klar und bestimmt hervor, zumal
er gegen die radikalen Strömungen, deren Sturzwellen damals über das
Judentum destruktiv hinwegrollten, eine mehr als wohlwollende
Neutralität beobachtete; man gewinnt unwillkürlich den Eindruck, als ob
er auf einen ethischen Deismus lossteuern wollte und nur aus
Opportunitätsgründen sich von einem offenen Bekenntnis zurückhalten
ließ.
Daran vor allem nahm Graetz schweren Anstoß, allmählich bildete sich bei
ihm eine völlige Abneigung gegen Geiger aus! Mancherlei Scheinwerk und
Flitter war bei den vielfachen Organisationen, welche Geiger in
tastenden Versuchen hervorzurufen sich bemühte, wohl mitunterlaufen,
vielleicht gar nicht zu vermeiden; möglich auch, dass der üble Eindruck
noch durch eine Art von Selbstgefälligkeit, durch den Trieb, überall zu
kleinmeistern, eine menschlich verzeihliche Schwäche, wovon Geiger nicht
ganz frei war, verschärft worden. Gegen Scheinwesen und Schaumschlägerei
empfand jedoch Graetz' Naturell einen so tiefen Widerwillen, dass er
hierfür keine Schonung und Rücksicht kannte. Geiger ist von ihm nur ein
einziges oder noch ein anderes Mal besucht worden.
Gleich nachdem sich Graetz in den Hörsälen seiner Fakultät orientiert
hatte, sprach er bei den beiden rabbinischen Parteihäuptern vor, worüber
sein Tagebuch folgendes berichtet: "Die Bekanntschaft des Rabbiners
Tiktin habe ich gemacht. O, wie habe ich immer in Ehrfurcht dagestanden,
als ich auf den ersten Blättern der "6 den geharnischten Namen Tiktin
ansah. Wie Karl der Große in seiner eisernen Rüstung den Nahenden in
gebührender Entfernung hielt, so schien mir das Ansehen jener
theologischen Ritter, gehoben durch die langen Bärte und die eminenten
spanischen Rohrstöcke7 und den talmudischen Staub. Da saß ich neben
einem Abkömmling jener rabbinischen .8 Ach, wie gesunken sind sie.
Tempora mutantur et nos mutamur in illis. Wohl ist noch die imposante
Körperhöhe, noch der spanische Rohrstock vorhanden. Aber das Ensemble,
das nicht mit Worten zu fassende Etwas fehlt. Neben den Rabbiner stelle
ich nolens volens den Dr. Geiger, ein kleines, hageres Männchen. Weshalb
er so ganz besonders freundlich gegen mich war, weiß ich nicht. Von
Hirsch haben wir noch nicht gesprochen und werden wir höchst
wahrscheinlich nicht sprechen. Aber, o Gott! wie weit ist es gekommen!
Dr. Freund9 wagt es, in Gegenwart von 50 Juden, an deren Spitze ein
sitzt, Worte, wie rabbinisch verkehrte Schlußfolgerungen auszusprechen.
Der Cicero und Plato sollen also gegen rabbinische Verkehrtheiten
gelesen werden. Ei, der Tausend!"
Als im März 1843 der starre und zähe Kämpe des alten Judentums, Salomo
Tiktin, ein todwunder Löwe, der letzte eines talmudischen
Löwengeschlechts, von seiner Niederlage ins Innerste getroffen, durch
sein Ableben den Schauplatz räumte, stand Geiger auf der Höhe seines
Ruhmes. Schon lange war keines Rabbiners Name in der ganzen deutschen
Judenheit so sehr bekannt und genannt, so in aller Munde wie derjenige
Geigers. In Schlesien gab es keinen populäreren Rabbiner, in Breslau war
sein Wort machtvoll, einflußreich und von den Gegnern gefürchtet. Sein
wissenschaftliches Ansehen war allgemein anerkannt, seine Rede
beherrschte die Kanzel und die Gemüter; wer es wagte, ihn anzugreifen,
wurde übel zugerichtet und trug zum Schaden den Spott davon.
Da machten sich im Laufe des Jahres 1844 die ersten Anzeichen einer sich
langsam vollziehenden Wendung bemerkbar. In demselben Jahre waren nicht
nur die Keime zur Bildung einer neuen theologischen Richtung auf
konservativer Grundlage zusammengeschossen und hatten sich unter der
Führung von Zacharias Frankel zu konsolidieren begonnen; es schwirrten
auch gegen Geiger und seinen Anhang einzelne, von Ironie beschwingte,
spitze Pfeile heran, und ihnen folgten immer spitzere und schärfere,
welche schwer zu parieren waren und an den wundesten Stellen trafen.
Eine renommierte jüdische Zeitschrift "Der Orient", der von Dr. Fürst in
wöchentlichen Nummern redigiert wurde, berichtete nämlich über
wichtigere Vorkommnisse innerhalb der Breslauer Gemeinde, und der
anonyme Korrespondent verstand es, lebhaft, prickelnd und kritisch zu
schildern. Die Artikel erregten begreifliches Aufsehen, verursachten in
Breslau bei ihrem fortgesetzten Erscheinen geradezu Sensation, und beide
Parteien sahen zeitweise, mit entgegengesetzten Gefühlen zwar, aber mit
gleicher Spannung der neuen Wochennummer des "Orient" erwartungsvoll
entgegen. Die Orthodoxen jubelten, hatte sich doch endlich eine gewandte
Feder gefunden, welche unerschrocken und rücksichtslos allerlei Schäden
bloßlegte und durch das kühne Auftreten gegen Geiger ihrer Sache zu
dienen schien. Doch wer war denn der Schütze, der sein Geschoß so sicher
und elegant zu lancieren wußte? Man riet, man spähte nach ihm aus, hielt
auch unter den Beflissenen der jüdischen Theologie, welche sich damals
in Breslau zumeist um Geiger gesammelt halten, gründliche Umschau, bis
endlich jeder Zweifel schwand, es war ein homo novus, ein Student aus
dem Posenschen - Graetz, der in stolzer Unabhängigkeit von jeder
Gönnerschaft durch Erteilen von Unterricht sich kärglich durchfristete.
Das Staunen wuchs, als Graetz fast gleichzeitig mit jenen
Korrespondenzen sich durch eine noch heute wertvolle Rezension des
Geigerschen "Lehrbuch zur Sprache der Mischnah" auf das vorteilhafteste
in die wissenschaftliche Welt einführte.10 Die Besprechung des
Lehrbuches, mit deren Veröffentlichung im Literaturblatt des "Orient"
Ende 1844 begonnen ward, und die im folgenden Jahre in einer ganzen
Serie von Artikeln fortgeführt wurde, bot ihm die Handhabe, um
[Einleitung: Biographie des Dr. H. Graetz, S. 37 ff.Digitale Bibliothek
Band 44: Heinrich Graetz: Geschichte der Juden, S. 101 (vgl. GesJud Bd.
1, S. 21 ff.)]
seine eigenen
Ansichten über den Gegenstand darzulegen, und es ist dabei reiches
Wissen, Beherrschung des Stoffes, Sprachgefühl, wissenschaftlicher
Instinkt und noch dazu ein erhebliches Stiltalent gar nicht zu
verkennen. Die Kritik des Buches selbst ist oft treffend, jedoch scharf
gehalten, vielleicht nicht frei von Animosität. Es lag eben stets im
Charakter von Graetz, seine Meinung klar und unverhohlen auszusprechen.
Geiger, der allerdings provoziert war, hat darauf auch nicht ganz
objektiv im "Israelit des 19. Jahrhunderts" in noch schärferen Artikeln
repliziert, welche auf das Persönliche hinübergreifen, an Versehen und
Nebendinge sich anklammern und hierdurch dartun, welches Gewicht dem
Auftreten seines jungen Antagonisten beigemessen wurde.
Jedenfalls hatte Graetz die Aufmerksamkeit weiterer Kreise auf sich
gezogen, und gar zu Breslau auf der Karlsstraße war er mit einem Schlage
in den Mittelpunkt des Tagesinteresses getreten. Die Orthodoxen knüpften
mit ihm an, wiewohl er sie keinen Augenblick darüber im Ungewissen ließ,
dass ihr Parteiprogramm von ihm nicht gebilligt und ihre religiösen
Anschauungen nicht geteilt würden, dass er vielmehr seinem eigenen Kopfe
folge und sich nur von der unverwüstlichen Anhänglichkeit an das
positive Judentum leiten lasse; indes hielt er sie von manchen törichten
und fanatischen Schritten zurück und gab ihnen den Rat, da Geiger trotz
aller orthodoxen Opposition mit starker Hand eine Religionsschule ins
Leben gerufen, welche auch prosperierte, die Fühlung mit dem
nachwachsenden Geschlecht sich nicht entwinden zu lassen und eine
ähnliche Religionsschule in konservativem Geiste zu schaffen. Der Rat
schien auf fruchtbaren Boden zu fallen, und man bedeutete den Berater,
dass man die Absicht habe, ihn mit der Organisation und Leitung einer
solchen Schule zu betrauen, vorausgesetzt, dass er bis dahin einen
akademischen Grad erlangt haben würde. Da auch bei den Rabbinatsvakanzen
bereits an ihn gedacht und von ihm gesprochen wurde, mußte die Promotion
beschleunigt werden, und in einigen Wochen angestrengter Arbeit stellte
er seine Dissertationsschrift fertig: "De autoritate et vi, quam gnosis
in Judaïsmum habuerit", auf welche er April 1845 von der Universität
Jena zum Doktor promoviert wurde. Die Abhandlung wurde noch im selben
Jahr unter dem Titel: "Gnostizismus und Judentum" als seine erste
selbständige Arbeit veröffentlicht Die eingehende Kenntnis der
patristischen Literatur, die geschichtlich individualisierende
Auffassung verschiedener Talmudstellen, eine glückliche
Kombinationsgabe, welche dem dunkelsten Buch der rabbinischen Literatur,
dem ,11 zum ersten Male einige helle Seiten abgewinnt, dazu eine
durchsichtige Klarheit in Anordnung und Vortrag, zeichnen die Schrift
aus und zeigen schon völlig das eigenartige Gepräge seines
wissenschaftlichen Geistes; dieselbe wurde von den verschiedensten
Seiten beifällig aufgenommen, sie hat ihm in der jüdischen Gelehrtenwelt
Stellung gegeben.
Solche überraschende Erfolge schwellten die Brust des literarischen
Novizen, der sich aus sich selbst mühsam und schwer durchgerungen, mit
berechtigter Freude und glücklichen Hoffnungen. Sein Stern schien im
Aufgehen. Die Flitterwochen seines ersten Ruhmes, bei deren Erinnerung
es noch im späten Alter wie ein Sonnenstrahl über sein Gesicht zog,
gedachte er in der Nähe seiner Eltern zu verleben, und er nahm hierzu
den Weg über Krotoschin. Hier im Hause seines Freundes trat ihm das
halbwüchsige Mädchen von ehedem, dessen Bild in seinem Gedächtnis wohl
zurückgetreten, mit seinem verblassenden Schimmer aber doch nicht ganz
erloschen war, als aufblühende Jungfrau entgegen; es war die Tochter des
Besitzers der bekannten hebräischen Buchdruckerei, Monasch. Beide
machten einen tiefen Eindruck aufeinander. Graetz, der seine Erwartungen
von der Zukunft nunmehr als gesichert betrachten zu dürfen meinte,
machte aus seinen Gefühlen kein Hehl, und da dieselben erwidert wurden,
tauschten sie als Brautpaar das Gelöbnis gegenseitiger Liebe aus. Er
ahnte damals nicht, dass er ein Frauenherz gewonnen hatte, stark und
befähigt, ihm in die dunkeln Tage, die gar bald schwer über ihn
hereinbrechen sollten, wie ein freundlich helles Gestirn
hineinzuleuchten und ihm den Stützpunkt zu bieten, an dem er sich
aufrecht hielt.
Vorläufig tauchten allerlei Hoffnungen in schwankenden Umrissen vor
seinem Blicke auf und nahmen allmählich doch festere Gestalt an; es
winkte ihm endlich die Aussicht auf eine ehrenvolle Lebensstellung, die
er so heiß ersehnt und erstrebt hatte. Eine größere Gemeinde
Oberschlesiens, dermalen nach Breslau wohl die zweitgrößte und
wohlhabendste in Schlesien, Gleiwitz, suchte für das erledigte Rabbinat
einen Mann, der mit rabbinischem Wissen ausgerüstet, auf der Höhe
moderner Bildung stehen und einem besonnenen, maßvollen Fortschritt sich
zuneigen sollte. Auf Graetz, dessen schriftstellerischer Ruf bereits in
jene Gegend gedrungen war, richtete sich das Augenmerk aller
Spruchbefugten in jener Gemeinde, er erschien als der für diesen Posten
geeignetste Kandidat, der durch Geist und Wissen den verschiedenartigen,
wenig geklärten Anschauungen und Ansprüchen ebenso zu imponieren, wie zu
entsprechen verstehen würde. Sämtliche Stimmführer erklärten sich für
ihn, und es erübrigte nur noch, dass er, wobei man nicht im mindesten am
Gelingen zweifelte, durch die eine oder andere Predigt eine Probe seiner
homiletischen Befähigung ablege und die anderen Kreise der Gemeinde an
sich ziehe.
Vor den hohen Feiertagen traf bei Graetz eine hebräische Zuschrift des
Vorstandes aus Gleiwitz ein, welche in den schmeichelhaftesten
Ausdrücken abgefaßt und die Anwartschaft auf das Rabbinat in sichere
Aussicht stellend, ihn einlud, am Versöhnungsfest 1845 (5606) in der
Synagoge daselbst die Predigten abzuhalten. Zur festgesetzten Frist, am
Eingangsabend des heiligen Tages bestieg er die Kanzel, und das Resultat
war - ein ganz unerwartetes Fiasko, das um so schlimmer wirkte, weil es
das Zutrauen zu seiner rhetorischen Begabung in seinem eigenen Innern
vollends erschütterte. Er hatte sein Memorandum total vergessen, verlor
die Geistesgegenwart, stand ratos da und mußte nach wenigen Worten die
Kanzel verlassen. Seine Freunde und Anhänger, die unerschütterlich zu
ihm standen, boten alles auf, um ihm Gelegenheit zu geben, die böse
Scharte wieder auszuwetzen; doch glückte es ihm nur zum Teil, sich zu
rehabilitieren, das verlorene Terrain war nicht mehr zurückzuerobern.
Das unverhoffte Mißgeschick war wohl, wie wir heute nachträglich
gestehen müssen, dem aufstrebenden Gelehrten und seinem Lebenswerk zum
Heil gewesen, so unsanft er auch hierdurch auf diejenige Bahn gedrängt
wurde, für welche er mit Gaben und Kräften ausgestattet war wie kein
anderer mehr. In jenen Tagen allgemeiner Gärung wurde das religiöse
Leben der jüdischen Gemeinden von so entgegengesetzten, verworrenen und
stürmischen Strömungen durchsetzt und aufgewühlt, dass ein Mann von dem
unbezwingbaren Trieb zu wirken und zu schaffen, und wo es erforderlich
schien, selbständig und selbsttätig einzugreifen, von dem angeborenen
Hang, mit seiner Überzeugung nicht zurückzuhalten, und noch dazu mit der
verfänglichen Gabe, seiner Meinung einen treuen, schlagenden und
kaustischen Ausdruck zu geben, es wohl schwerlich fertig gebracht hätte,
in dem Nachen eines rabbinischen Amtes zwischen den mannigfachen Klippen
eines zumeist fanatischen Parteigetriebes glücklich hindurchzulavieren.
Er hätte entweder seiner Natur und seinem Genius untreu werden, oder
wenn dies nicht anging, schließlich einmal scheitern müssen; allenfalls
hätte er, falls ihm ein genügendes Maß von Weltklugheit und Gewandtheit
zu Gebote gestanden, in mehr oder minder heilsamen Schöpfungen oder
Einrichtungen auf einem eng beschränkten Arbeitsfeld seine besten Kräfte
aufgezehrt. Graetz selbst, der sich gut kannte, hatte immer davor
gebangt, dass er im rabbinischen Amt nicht an seinem Platz sein würde,
der Gedanke an die Pflichten und Verantwortlichkeiten eines Rabbiners
machte ihm jederzeit Pein. Wenige Tage bevor er nach Gleiwitz ab
[Einleitung: Biographie des Dr. H. Graetz, S. 43 ff.Digitale Bibliothek
Band 44: Heinrich Graetz: Geschichte der Juden, S. 107 (vgl. GesJud Bd.
1, S. 25 ff.)]
ging, bemerkte
er in seinem Tagebuch: "Unter allen Ämtern ist das Rabbinat am wenigsten
für mich geschaffen, mir fehlt auf allen Seiten jene Macht der
Erscheinung, des imponierenden Auftretens. Auch ist mein Wissen höchst
mangelhaft, aber mein Wille ist stark, energisch. Wenn Gott mit einem
solchen Werkzeug gedient ist, dann stehe ich da mit Leib und Seele; aber
das Predigen!" In der Tat, das Flügelroß der Predigt, das nicht bloß der
edlen Begeisterung der wenigen Auserwählten mit Lust und Feuer dient,
sondern auch zahllosen Dutzendmenschen zu mehr oder minder zweifelhaften
Kunststücken vor den bewundernden Augen und Ohren der vielköpfigen Menge
den Rücken hergibt, es hat einen Graetz im kritischen Augenblick aus dem
Sattel geschleudert. Es war ein Sturz, den er schwer und schmerzlich
empfunden hat. Er, der noch kurz vorher schriftstellerische Triumphe
fast spielend erlangt hatte, der vor keiner Schwierigkeit
zurückzuschrecken gewohnt war, verzweifelte nun daran, dass er das
lebendige Wort in gleichem Maße wie die Spitze der Feder je werde
zwingen können. Hierzu waren ihm in der Tat auch die äußeren Mittel
versagt. Es war nicht gerade die äußere Erscheinung, die ihm im Wege
stand, denn er war von kräftiger, untersetzter, guter Mittelgestalt,
aber es fehlte seiner Stimme bei lautem Ansatz die Modulation und die
Vortragsweise, vor allem gebrach es ihm an Fähigkeit zu irgend welcher
Posierung, in seinem Wesen lag auch nicht die leiseste Spur von dem
Komödianten, der, wie Goethe sagt, "einen Pfarrer könnt' lehren". Dieser
seiner Mängel war er sich wohl bewußt, und so gab er es vorläufig auf,
noch einmal die Probe auf seine homiletische Beredsamkeit zu machen und
von der Kanzel aus sich eine Gemeinde zu erobern.
5. Wanderjahre.
Mit dem eklatanten Mißerfolg in Oberschlesien waren zugleich alle
anderen derzeitigen Aussichten für ihn rettungslos versunken. Bald stand
wiederum die Sorge um das tägliche Brot neben seinem Stuhl, ohne dass
seine Kraft bei diesem harten Kampf wie früher durch freundliche
Hoffnungsblicke in die Zukunft gespannt und gehoben wurde. Am meisten
nagte der Vorwurf an ihm, dass er noch ein anderes geliebtes Wesen in
seine Aussichtslosigkeit hineingerissen habe. Da war es hoher
Frauensinn, der in der reinen Hingebung an den geliebten Mann nicht
wankte, seine müde Seele durch Trost und Zuspruch erquickte und den in
seinem Gemüte wühlenden Aufruhr stillte. Erfrischt und angeregt wurden
seine Lebensgeister wieder aufs neue durch eine Einladung seitens
Zacharias Frankels, sich einer Versammlung konservativer Richtung
anzuschließen, die der letztere im September 184612 nach Dresden berufen
wolle, um über religiöse Tagesfragen zu beraten und zu geschlossenem
Vorgehen sich zu einigen.
Dr. Zacharias Frankel hatte zu Dresden gleich am Anfang seiner Laufbahn
eine überaus wirkungsvolle Tätigkeit entfaltet, um den politischen
Druck, der in der sächsischen Heimat auf seinen Glaubensgenossen
lastete, inssonders betreffs der Eidesleistung, zu mildern; trotzdem war
er wesentlich eine wissenschaftliche Natur. Mit einer umfassenden
Kenntnis des Talmuds ausgestattet und ihn kritisch durchdringend, war er
der erste, der den Grund zu einer modernen Erforschung dieses
Schriftwerkes legte; er hatte es sich zur Lebensaufgabe gestellt, das
klassische Studium des Talmuds zu begründen und die Halachah nach ihrer
Entwickelungsgeschichte zu verfolgen. Schon seine schriftstellerischen
Erstlingswerke verrieten in der gründlichen, peinlich sorgfältigen und
zuverlässigen Art ihrer Forschung den ernsten und hervorragenden
Gelehrten und sicherten ihm in der wissenschaftlichen Welt ein hohes und
unbestrittenes Ansehen.
Als die reformatorischen Bestrebungen innerhalb der deutschen
Judenschaft in immer lebhafteren Fluß gerieten und immer größere
Wellenringe zogen, als man einerseits Rabbinerversammlungen plante, um
die angestrebten Neuerungen in ein System zu bringen und zu
sanktionieren, und man anderseits aus Mißtrauen gegen die Stimmführer
fürchtete, dass durch die Beschlüsse und Kundgebungen einer derartigen
Versammlung bedenklicher Zündstoff in die Gemeinden geworfen werden
würde, hielt Frankel es für geboten, seine bisherige Zurückhaltung
aufzugeben und in die religiöse Bewegung mit einzugreifen. Er trat daher
1844 mit einer "Zeitschrift für die religiösen Interessen des Judentums"
hervor, welche vierteljährlich erscheinend, einen streng
wissenschaftlichen Charakter tragen und zugleich die religiösen
Tagesfragen behandeln sollte. Ein Theologe von Besonnenheit,
Welterfahrung und Duldsamkeit, vertrat er den Standpunkt, dass auch im
Glaubensleben die veränderten Zeitverhältnisse berücksichtigt werden
müßten, dass aber diese Berücksichtigung den historischen Boden nicht
verlassen dürfe, und dass alle Neuordnung aus der wissenschaftlichen
Erkenntnis des Wesens und der Tradition des Judentums heraus zu erfolgen
habe. Das war nun ganz nach dem Sinne von Graetz, und er hatte sich kaum
ein Jahr darauf öffentlich bemerkbar gemacht, als er Beziehungen zu
Frankel suchte, der dieser Annäherung bereitwilligst entgegenkam und den
jungen Gelehrten zur Mitarbeiterschaft an seiner Quartalschrift
aufforderte. Graetz antwortete darauf mit der Übersendung eines höchst
geistvollen und anregenden Aufsatzes: "Die Septuaginta im Talmud", wobei
die ihm eigene Weise, Talmud und Midraschstellen untereinander und mit
den Angaben und Anführungen der Kirchenväter zu vergleichen, das
historische Element des talmudischen Berichtes dadurch zu fixieren und
Kombinationen daran zu knüpfen, klar zutage tritt.
In demselben Jahr 1845 war Frankel auf der zweiten zu Frankfurt a.M.
tagenden Rabbinerversammlung mit der Hoffnung erschienen, in mäßigendem
und vermittelndem Sinne auf die Beratungen und Beschlüsse einwirken zu
können; er gab jedoch diese Hoffnung auf, als die Versammlung den
Beschluß faßte, dass das Hebräische als Gebetssprache beim Gottesdienst
nur "ratsam", nicht "objektiv-notwendig" sei. Er trat mit Eklat aus der
Rabbinerversammlung aus und rechtfertigte seinen Schritt in einer ebenso
würdigen wie entschiedenen Erklärung. Frankels Auftreten fand allseitige
und lebhafte Anerkennung, es rüttelte geradezu die gesetzestreuen
Gemüter der verschiedensten Schattierungen auf, aus zahlreichen und
angesehenen Gemeinden wurde ihm durch huldigende Dankadressen die volle
Zustimmung zu seinem entschlossenen Vorgehen ausgedrückt. In Breslau
hatte Graetz eine begeisterte Adresse abgefaßt und in Umlauf gesetzt;
dieselbe bedeckte sich schnell mit Unterschriften, und Graetz konnte
sich dabei den malitiösen Scherz nicht versagen, notorische Anhänger von
Geiger, der den Austritt Frankels sehr übel vermerkt und durch dessen
Erklärung sich zu schmähendem Wort hinreißen ließ, mit Erfolg zur
Unterzeichnung heranzuziehen.
Warum wohl Frankel damals die ihm günstige Stimmung und Gelegenheit
nicht sofort benutzte, um eine große gemäßigte Partei um sich zu
sammeln? Erst im folgenden Jahre 1846 unternahm er einen Versuch in
dieser Richtung, indem er an die konserva
[Einleitung: Biographie des Dr. H. Graetz, S. 49 ff.Digitale Bibliothek
Band 44: Heinrich Graetz: Geschichte der Juden, S. 113 (vgl. GesJud Bd.
1, S. 28 ff.)]
tiven Theologen
moderner Gesinnung Einladungen zu einer Zusammenkunft in Dresden ergehen
ließ, vielleicht um der reformatorischen dritten Rabbinerversammlung,
welche im Juli desselben Jahres zu Breslau zusammentreten sollte, ein
wirksames Paroli bieten zu können. Aber selbst dieser Versuch ist von
Frankel nicht mit der nötigen, sonst an ihm bemerkbaren Energie
durchgeführt worden. Als Graetz im September 1846 in Dresden eintraf,
fand er zu seinem Erstaunen niemanden vor. Samson Raphael Hirsch, damals
Landrabbiner von Emden, hatte von vornherein abgelehnt, weil er den
modernen Rabbinen die innere wie äußere Berechtigung zu Eingriffen in
den religiösen Kult absprach. Rapoport in Prag hatte aus unbekannten
Gründen abgesagt, ihm lagen eben nur wissenschaftliche Interessen am
Herzen. Michael Sachs in Berlin war durch amtliche Abhaltungen
entschuldigt. Den meisten anderen war die Zeit und der Ort zur
Zusammenkunft nicht gelegen gewählt. Frankel wiederum war ein vornehmer
Geist, dem es widerstrebte oder nicht gegeben war, die Werbetrommel
kräftig zu rühren, durch Agitation oder Reklame Stimmung zu machen und
eine Partei an sich zu locken oder gar zu fanatisieren; nur der
Gerechtigkeit seiner Sache wollte er vertrauen, er verschmähte die
kleinen Mittel und Kunstgriffe, um ausschließlich die Macht der
Überzeugung wirken zu lassen. Es mußte naturgemäß einen tiefen Eindruck
auf ihn hervorbringen, als er wahrnahm, wie Graetz der einzige war, der
seinem Ruf so unbedingte Folge leistete. Beide Männer, so verschieden an
Alter, Natur und Anlage, doch eins in ihren Anschauungen und Zielen,
waren nun durch die persönliche Berührung einander näher getreten, und
sie schlossen, wenn auch unausgesprochen, eine für das Leben vorhaltende
Waffenbrüderschaft.
Graetz war jedenfalls entschlossen, von nun an bei aller Wahrung seiner
Selbständigkeit seine theologische Stellung an der Seite von Frankel zu
nehmen; hatte er doch erkannt, dass er in seinen religiösen
Überzeugungen gerade diesem sich am meisten nähere. Der letztere hatte
dasselbe seinerseits dadurch anerkannt, dass er Graetz auf seinen Wunsch
die formelle Autorisation zur Ausübung rabbinischer Funktionen ( )
erteilte.
Frankel stellte übrigens mit dem Ende 1846 die Herausgabe seiner
Zeitschrift ein, um seine Kraft für künftige, bessere Zeiten
aufzusparen. Zu diesem dritten und letzten Jahrgang seiner Zeitschrift
hatte Graetz neben einzelnen Rezensionen noch einen seiner bedeutsamsten
Aufsätze beigesteuert, welcher in mehreren Artikeln "Die Konstruktion
der jüdischen Geschichte" behandelt. Frisch und lebhaft im Ausdruck,
reich an schönen Gedanken, die selbst von Homileten mannigfach
ausgemünzt wurden, zeichnet die Abhandlung mit klaren und scharfen
Strichen die Grundlinien und Gesichtspunkte, welche für eine
Gesamtdarstellung der jüdischen Geschichte maßgebend sein sollen; indes
ist der Verfasser noch allzusehr in der philosophischen Schulsprache und
Denkweise seiner Zeit befangen, so dass er sich verleiten läßt, die
Transzendenz Gottes auf Kosten der monotheistischen Idee
unverhältnismäßig in den Vordergrund zu stellen.
So bedeutendes Ansehen Graetz durch seine gelehrten Arbeiten besonders
in theologischen Kreisen sich erworben hatte, er spähte vergebens
überall nach einem Punkte aus, an dem er die Wurzeln einer festen, wenn
auch nur bescheidenen Lebensstellung einschlagen konnte. Endlich schien
sich der Horizont doch lichten zu wollen, es winkte ihm die Aussicht,
den eigenen Herd begründen zu können, leider eine Fata morgana. Die
orthodoxe Partei in Breslau hatte nämlich Ende 1846 ihre Aktion wieder
energisch aufgenommen, erkannte den Sohn des verstorbenen Salomo Tiktin,
Gedalja Tiktin, der an seine Vorfahren und Vorgänger geistig bei weitem
nicht heranreichte, als ihren Rabbiner an und ging damit vor, eine
Religionsschule in ihrem Sinne einzurichten; zu ihrer Organisation und
Leitung ward Graetz berufen.13 Wohl war die Breslauer Gemeinde
aufgelöst, indem die orthodoxen Elemente sich von dem Synagogenverband
getrennt hatten, indessen gab es für die Separatisten kein
rechtsgiltiges Bindemittel, um sich als korporative Genossenschaft
zusammenzuschließen. Überdies war am 23. Juli 1847 das Gesetz für die
Verhältnisse der Juden in Preußen erschienen, und es war noch nicht
abzusehen, wie sich die Zustände unter der Herrschaft des neuen Gesetzes
gestalten würden. Einzelne wohlhabende Privatleute übernahmen daher die
Verantwortlichkeit, um die verschiedenen Vertragsverhältnisse,
vornehmlich betreffs der Religionsschule, zu ordnen. Da fegten die
politischen Stürme des Jahres 1848 über die preußischen Lande hin.
Wirtschaftliche Erschütterungen traten ein, noch schwerere wurden
befürchtet, und in der Furcht davor zogen jene Privatleute ihre
Bürgschaft zurück. Daraufhin erfolgte der Zusammenbruch der orthodoxen
Religionsschule, in jenen Kreisen das erste Opfer der politischen
Sturmflut, deren Wellenringe ihre zerstörende Wirkung bis in die
entferntesten Lebensbeziehungen hinüber spielten. Graetz stand abermals
auf der Straße, ohne Beschäftigung, ohne Brot.
Damals richteten sich aller Augen nach Wien, wo die Volksbewegung große
Dimensionen angenommen und überraschende Erfolge errungen hatte; dort
stand die Demokratie in Waffen, hatte sich der österreichischen
Hauptstadt bemächtigt, und man knüpfte große Hoffnungen daran, dass das
Waffenglück daselbst zugunsten der demokratischen Partei entscheiden
würde. Durch Vermittlung eines Studienfreundes, des Dr. B. Friedmann,14
der später als Rabbiner in Mannheim fungierte, in jenen Tagen aber als
wirksamer Volksredner in Breslau sich hervorgetan und bei der Redaktion
der demokratischen Oderzeitung mitwirkte, wurde an Graetz das sonderbare
Anerbieten gestellt, als Berichterstatter für die genannte Zeitung sich
nach Wien zu begeben.15 Ratlos, wie er war, geht er, obschon mit innerem
Widerstreben, auf diesen Vorschlag ein.
Auf der Reise nach Wien drängte es ihn, einen Abstecher nach Nikolsburg
zu machen, um dort seinen früheren Lehrer Samson Raphael Hirsch,
aufzusuchen, der indessen das Landrabbinat von Emden mit dem in
Nikolsburg vertauscht hatte. Graetz war auch nach seinem Abgang von
Oldenburg mit dem Landrabbiner stets in brieflichem Verkehr und
freundschaftlicher Beziehung geblieben; obgleich er den starr
traditionellen Standpunkt von Hirsch nicht teilte und seiner
theologischen Bedeutung nicht mehr wie vormals mit enthusiastischem
Gemüt, sondern mit kritischer, nüchterner Beurteilung gegenüberstand, so
war doch die Neigung und Verehrung für den ehemaligen Lehrer in ihm
nicht etwa verdampft, er wollte nach langen Jahren ihn wieder sehen und
sprechen. Hirsch, der ebenfalls eine entschiedene Sympathie für seinen
früheren Schüler hegte, trug Bedenken, ihn nach dem dermals so heißen
Boden Wiens ziehen zu lassen, und Graetz, der wenig Lust und Beruf zu
politischer Berichterstattung in sich spürte, ließ sich gerne zum
Bleiben bereden und nahm vorläufig mit einer untergeordneten Stellung an
der Nikolsburger Religionsschule vorlieb. Im Hintergrund stand freilich
die Anwartschaft auf einen Lehrerposten an einem von Hirsch
projektierten Rabbinerseminar, dessen Schöpfung diesen ganz ernstlich
beschäftigte. Hirsch hatte sich lange mit dem Gedanken getragen, - der
übrigens den hervorragenden Rabbinen jener Epoche, in dem Wunsch, eine
theologische Schule ihrer Richtung zu bilden, fast durchwegs als Ziel
vorschwebte, und als brennende Frage auf der Tagesordnung stand, - eine
jüdisch-theologische Bi dungsanstalt ins Leben zu rufen. Es nahm den
Anschein, dass dieser Plan in Nikolsburg, wo von jeher eine vielbesuchte
Talmudschule blühte, sich um so leichter würde verwirklichen lassen, als
man eben an eine schon vorhandene Institution nur anzuknüpfen, dieselbe
umzugestalten und ihr neuen Geist einzuflößen brauchte. Graetz wurde
sogleich von seinem Gönner veranlaßt, den im Talmud bewanderten und
bisher nur dialektisch geschulten Jünglingen Vorlesungen über jüdische
Geschichte zu halten. Es war natürlich, dass er zu
[Einleitung: Biographie des Dr. H. Graetz, S. 55 ff.Digitale Bibliothek
Band 44: Heinrich Graetz: Geschichte der Juden, S. 119 (vgl. GesJud Bd.
1, S. 32 ff.)]
seinen
Vorträgen für derartige Talmudschüler die Zeit der Mischnah und des
Talmuds wählte, eine Geschichtsperiode, mit der er sich schon
beschäftigt hatte und der er jetzt für den vorliegenden Zweck die
sorgfältigsten Studien widmete.
Trotz allen Eifers, den er seinen Vorträgen und Studien zuwandte, sah er
sich in seinen eigentlichen Erwartungen enttäuscht, und das Peinliche
seiner prekären Lage verschärfte sich im Laufe der Zeit noch mehr. Die
Fanatiker des Nikolsburger Ghettos hatten selbst an dem gesetzestreuen
Verhalten des Landrabbiners vielerlei auszusetzen, sein Jünger wandelte
vollends unter ihnen als eine fremde, unheimliche Erscheinung.
Denunziationen verdächtigten ihn bei den Lokalbehörden wegen seiner
demokratischen Gesinnung; damit traf ihn der schwerste Makel, mit dem
besonders ein Ausländer in dem damaligen Österreich behaftet werden
konnte, und es bedurste des ganzen Aufgebotes seiner Freunde, um arge
Ungelegenheiten und eine sofortige Ausweisung von ihm abzuwehren. Die
Schöpfung einer Rabbinerschule, auf welche Graetz wie auf eine letzte
Karte alle seine Hoffnungen gesetzt hatte, erwies sich immer mehr als
eine leere Seifenblase; ob die Orts- und Zeitverhältnisse dem Projekt
ungünstig waren, ob Hirsch aus anderen Gründen den Plan fallen ließ,
steht dahin.16 In den freundschaftlichen Beziehungen beider Männer war
auch allmählich eine leise Erkaltung eingetreten. Graetz begrüßte es
daher wie eine Erlösung aus unhaltbaren Zuständen, als ihm aus dem im
Nikolsburger Bezirk gelegenen Lundenburg, einem Städtchen in der Nähe
Wiens, seitens des Vorstandes der Antrag gemacht wurde, die Organisation
und Leitung der dortigen Gemeindeschule zu übernehmen. Man verständigte
sich schnell, und am 12. September 1850 erfolgte seine Anstellung als
Dirigent und Oberlehrer der jüdischen Schule zu Lundenburg.
Es war ein bescheidenes Amt, in dessen Dienst er sich stellte, und ein
mäßiges Einkommen, mit dem er zu rechnen hatte. Allein es bot ihm doch
immerhin die Möglichkeit eine häusliche Existenz zu begründen und bis zu
einem gewissen Grade seine Individualität frei zu entfalten.
Ehe er in das Amt trat, eilte er in die alte Heimat zurück, um die
treue, der Vereinigung mit ihm geduldig entgegenharrende Braut, welche
von fehlgeschlagenen Erwartungen nicht entmutig, den Glauben an ihn
niemals verloren hatte, Anfangs Oktober 1850 unter den Trauhimmel zu
führen.17 Er hätte keinen besseren und tapfereren Kameraden finden
können, als die Gattin, die ihm nach seinem neuen Heim folgte. Sie hat
ihm durch ihr harmonisches, maßvolles und liebreiches Wesen nicht nur
das Haus geschmückt und die umwölkten Tage aufgeheitert, sondern auch
das Ungestüm seines Temperament, gemäßigt und die Neigung seines Wortes
zu scharfen, kaustischen, herausfordernd klingenden Akzenten
abgemildert. Sie verstand sich auf die Bedürfnisse seiner Seele, in der
es zuweilen wie ein Klang unbestimmter und ungestillter Sehnsucht
hindurchzitterte Es lag eben in seiner Persönlichkeit manches
Inkommensurable, das sich nicht erklären ließ. Er war Dritten gegenüber
ein bei aller Mitteilsamkeit verschlossener Charakter, der die geheimen
Regungen seines Gemütes tief in sich verbarg, so dass er stets äußerlich
durchaus ruhig und gemessen erschien und niemand ahnte, welche Gedanken
und Erregungen in seinem Inneren unter der ruhigen Oberfläche oftmals
stürmisch durcheinanderwogten. Trotzdem bedurfte er, um sein äußeres
Gleichgewicht stets zu behaupten, einer Aussprache, in welcher die
leicht erregbare, innerlich stark reagierende Stimmung seines schnell
unter hohen Spannungsdruck gesetzten Gemütes sich zu entladen und zu
läutern pflegte. Solchem Zwecke mögen wohl die Blätter seines Tagebuchs
gedient haben, da sie zumeist unter dem Druck eines hochgespannten
Affektes geschrieben sind. Mit dem Tage seiner Verheiratung beginnen
diese Aufzeichnungen immer spärlicher zu fließen, bis sie schließlich
ganz versiegen. Hatte er doch in seiner Lebensgefährtin die sympathische
Seele gefunden, welche ihm mit unbegrenzter Verehrung und Teilnahme
ergeben war, in deren Empfindung sein Denken und Fühlen einem vollen und
meist geklärten Widerhall begegnete. Und wie sein seelisches Leben, so
teilte sie auch sein geistiges Streben, sie hat sich des Gatten
wissenschaftliche Interessen zu eigen gemacht und ihm wie ein sorgsamer
Hilfsarbeiter bei seiner gelehrten Beschäftigung die förderlichste
Handreichung geleistet.
So ging denn der neue Schuldirigent am 15. Oktober 1850 in Lundenburg
mit Eifer und Lust an seine Tätigkeit, dirigierte, klassifizierte, hielt
feierliche Ansprachen und unterrichtete. Wie es scheint, fehlte auch der
Erfolg nicht, denn er fand ermunternden Beifall. Im Schatten seiner
kleinen, aber glücklichen Hütte nahm er seine literarischen Pläne und
Arbeiten wieder auf, hatte er ja für seine Vorträge in Nikolsburg ein
reiches Material über die talmudische Zeit gesammelt, das er nun
verwerten wollte.
Es dauerte jedoch nicht lange so mischten sich trübe Schatten in den
idyllischen Zustand. Mit Hirsch war es fast zu einem Zerwürfnis
gekommen. Als das junge Ehepaar in Nikolsburg bei ihm seinen
Antrittsbesuch machte, verlangte dieser von der jungen Frau, dass sie,
einem talmudischen Brauch zufolge, ihr schönes Haar mit einer Art
Perücke, einem sogenannten Scheitel, verdecken möge, wogegen dieselbe
sich mit dem ganzen Stolz einer gekränkten Frauenseele zwar höflich,
doch entschieden verwahrte; auch Graetz wies das Ansinnen energisch
zurück, und man schied wenig befriedigt von einander. Schwerer und
lästiger drückten die dunklen Nebel, wie sie sich aus dem trüben
Dunstkreis des engen und undisziplinierten Ghettolebens, zumal in einer
österreichischen Kleingemeinde, zu entwickeln pflegten. Die Eifersucht
der rabbinischen Lokalgröße, eines beschränkten Talmudisten, der von
Graetz' Ruhm verdunkelt zu werden fürchtete und daher ab und zu seine
amtliche Überlegenheit geltend machte, krähwinkelige Rivalitäten, gegen
die Notabilitäten der Gemeindestube gerichtet, welche die leitenden
Personen in den Angriffen auf die von ihnen begünstigten Einrichtungen
und Männer treffen wollten, ließen es Graetz in ihrem verbissenen
Ingrimm empfinden, dass des Lebens ungemischte Freuden keinem
Sterblichen und am allerwenigsten dem Dirigenten einer israelitischen
Gemeindeschule in Österreich zuteil werden. Angebereien, namentlich beim
Bezirksamt, welche ihn als eingefleischten Demokraten denunzierten,
machten ihm viel zu schaffen, gingen aber dieses Mal, ohne irgend
welchen Schaden anzurichten, glücklich vorüber.
Das Jahr 1851 erhöhte sein Glücksgefühl, es schenkte ihm Familiensegen,
eine Tochter, welche die einzige neben seinen vier Söhnen blieb, und mit
der er stets in außerordentlicher Innigkeit zusammenhing. Dazu kam, dass
Zacharias Frankel in selbigem Jahr die theologische Arena wieder mit
einer "Monatsschrift" betrat, welche abweichend von der früheren
"Zeitschrift" in erster Reihe wissenschaftlichen Interessen dienen
sollte, und Graetz in ehrenvollster Weise zur Mitarbeit aufforderte.
Freudig stellte er sich unter diese Fahne und veröffentlichte in
schneller Folge im ersten Jahrgang der "Monatsschrift für Geschichte und
Wissenschaft des Judentums" (Oktober 1851 - Dezember 1852) eine ganze
Reihe historischer Abhandlungen: "Jüdischgeschichtliche Studien",
"Rezension der Rapoportschen Enzyklopädie", "die talmudische Chronologie
und Topographie", "die absetzbaren Hohepriester während des zweiten
Tempels", welche Abhandlungen sämtlich große Gelehrsamkeit, klaren
Überblick und gereiftes Urteil bekunden. Es waren dies Vorarbeiten und
Fundamente für die Darstellung der Ereignisse vom Untergang des
jüdischen Staates bis zum Abschluß des Talmuds, mit der er sich lange
schon herumgetragen, und welche er nun in raschem Fluß niederschrieb und
fertig stellte.
Mittlerweile mag wohl im Laufe des Jahres 1852 bei der Behörde des
Bezirksamts ein Wechsel eingetreten sein, oder der Wind umgeschlagen
haben, denn Graetz macht auf einmal wider alles Erwarten die ganz
überraschende und schmerzliche Wahrnehmung, dass die unermüdlichen Ränke
und böswilligen De
[Einleitung: Biographie des Dr. H. Graetz, S. 61 ff.Digitale Bibliothek
Band 44: Heinrich Graetz: Geschichte der Juden, S. 125 (vgl. GesJud Bd.
1, S. 36 ff.)]
nunziationen
bei dem Bezirkshauptmann endlich doch verfangen hatten. Schwere
Kränkungen und Demütigungen drohten ihm, die versuchte Gegenwehr erwies
sich als aussichtslos, daraufhin kündigte er in Lundenburg sein Amt.
Es trieb ihn jetzt in das preußische Vaterland zurück, und er entschloß
sich, mit seiner Familie nach Berlin überzusiedeln. Ihn leitete dabei
die Hoffnung, dort für die Geschichte des talmudischen Zeitalters, die
er fast druckreif beendet hatte, leicht einen Verleger zu finden. Es lag
auch der Gedanke nicht fern, dass er zur Ausführung seines Planes, der
auf eine Gesamtgeschichte der Juden gerichtet, bereits seinem Geiste
deutlich vorschwebte, einer an Bibliotheken reichen Stadt, wie Berlin,
füglich gar nicht entbehren könne. In der zweiten Hälfte des September
1852 traf er in Berlin ein, woselbst ihm Dr. Michael Sachs und andere
Freunde wohlwollend und dienstwillig zur Seite traten. Sachs vermittelte
ihm die Bekanntschaft des vortrefflichen Dr. Veit, der den Verlag seines
Buches übernahm.
Im Winterhalbjahr 1852/53 hielt er, vom Berliner Gemeindevorstand
aufgefordert, neben Zunz und Sachs geschichtliche Vorlesungen für
Kandidaten der jüdischen Theologie, die beifällig aufgenommen wurden.
Als er um die Mitte des Februar eine dieser Vorlesungen beendet hatte,
trat der mit Recht eines großen Ansehens sich erfreuende
Eisenbahndirektor und Redakteur einer angesehenen Zeitschrift, des
"Magazin für die Literatur des Auslands", Joseph Lehmann aus Glogau, an
ihn heran und fragte im Auftrage des Kuratoriums der Fränkelschen
Stiftungen zu Breslau an, ob er eventuell in das Lehrerkollegium des in
Breslau zu schaffenden Rabbinerseminars einzutreten gewillt sei, man
unterhandle mit dem Oberrabbiner Dr. Frankel in Dresden wegen Übernahme
der Direktion, derselbe habe unter anderen Bedingungen auch die
Anstellung von Graetz als Lehrer gefordert, auf welche das Kuratorium
mit Freuden eingehe und seine Erklärung wünsche. Graetz machte seine
Zusage von der definitiven Entschließung Frankels abhängig, die letztere
erfolgte bald hernach und die schwierigen Konferenzen über die
Gestaltung des Seminars nahmen ihren Anfang.
Die Schwierigkeit bestand zunächst darin, dass gar kein Muster und
Schema vorlag, an das man sich bei der Einrichtung einer rabbinischen
Lehranstalt in Auswahl des Lehrplans, der Pensen und Wissenszweige
anlehnen konnte, dass es sich um eine Neuschöpfung handelte, für welche
es an jeder Erfahrung fehlte, und welche sofort durch praktische
Ausgestaltung unter den überaus eigentümlichen Verhältnissen die
Bürgschaft des Erfolges in sich tragen sollte. Überdies hatte der
Stifter, Kommerzienrat Jonas Fränckel, bei seiner Testierung einige
Bestimmungen getroffen, deren Realisierung unter den veränderten
Zeitumständen der neuen Anstalt verhängnisvoll werden konnten.18 Es war
der Geist Frankels, der mit klarer und energischer Einsicht das zu
verfolgende Ziel erkannte, der den Plan, den Wissensstoff und Lehrgehalt
für die künftige Anstalt feststellte und dadurch die Grundlagen für die
jüdische Theologie der Gegenwart schuf. Auf seinen Wunsch, für sich und
für das Kuratorium eine fachmännische Kraft jederzeit frei zur Verfügung
zu haben, ging das letztere um so bereitwilliger ein, als auch sonst ein
vermittelndes Element nicht ganz überflüssig erschien, da Frankel sich
nur schweren Herzens von Dresden trennte und geneigt war, jeden ihm
berechtigt scheinenden Anlaß zu benützen, um sein den Kuratoren
gegebenes Wort zurückziehen zu dürfen. Zu solcher Aushilfe war nun
Graetz vorläufig ausersehen.
6. Im Hafen des theologischen Lehramtes.
So trat denn Graetz den 1. Juli 1853 in den Dienst der in Vorbereitung
begriffenen Anstalt mit der Zusicherung, falls Statuten und Plan die
behördliche Genehmigung finden sollten, woran übrigens nicht zu zweifeln
war, als einer der Hauptlehrer neben Frankel Verwendung zu finden. Zu
gleicher Zeit verließ sein Buch die Presse und trat vor die
Öffentlichkeit unter dem Titel "Geschichte der Juden vom Untergang des
jüdischen Staates bis zum Abschluß des Talmud". Auf einem
Nebentitelblatt war es zugleich bezeichnet als: "Geschichte der Juden
von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Vierter Band", damit von
vornhinein ankündigend, dass schon mehr als der Plan und Umriß zu einer
Gesamtgeschichte in seinem Geiste feststehe, und dass er eben nur mit
dem vierten Band als dem erstgeborenen Buch seiner Geschichte zuerst
herauskomme.
Es zeigte sich als ein glücklicher Wurf, dass unser Verfasser mit der
Darstellung der talmudischen Zeit debutiert hatte. Es findet sein
Gegenstück, insofern man beides überhaupt miteinander vergleichen kann,
nur noch in der Biographie Raschi's, mit der Zunz, der Schöpfer der
jüdischen Wissenschaft, seine bedeutsame Wirksamkeit eröffnet hatte. Wie
es dort die Zeitgenossen enthusiasmiert haben soll, dass der von
Kindheit auf ihnen vertraute, als unentbehrlicher Berater und Gefährte
hochgehaltene Interpret für Bibel und Talmud aus dem verschwimmenden
Nimbus eines überirdischen Glorienscheines heraus in die menschliche
Wirklichkeit hinübertrat, so hat es eine ähnlich elektrisierende Wirkung
geübt, als die nebelhaft dunkle Zeitepoche, in der die Grundbücher des
nachbiblischen Judentums, Mischnah und Talmud, entstanden sind, mit
einemmal unter helle Beleuchtung gestellt ward und die rabbinischen
Urheber dieser Werke, deren Namen und Sinnsprüche allen geläufig waren,
leibhaftig vorgeführt wurden. Diese Männer, welche man bis dahin nur für
verkörperte Lehrsätze anzusehen gewohnt war, von denen man nicht viel
weiter wußte, als dass sie sagten, fragten und zuweilen auch klagten,
welche man sich wie eine Art polnischer Wanderrabbis oder Kabbalisten
vorzustellen allenfalls geneigt war, - sie tauchten unter der Feder
unseres Historikers aus dem wesenlosen Schein hervor; in ihren Adern
pulsiert frisches Leben und heißes Blut, deutlich heben sich die
scharfgeschnittenen Physiognomien in ihrem geistigen Gegensatz, mit
ihren charakteristischen Vorzügen und Schwächen von einander ab. In
bunter Mannigfaltigkeit stehen sie vor uns da als echte Ritter vom
Geist, antike Charaktere von glühendem Patriotismus, von unbeugsamer
Willenskraft und unverwüstlicher Glaubenshoffnung. Ebenso lebhaft und
anschaulich wird die geistige Atmosphäre der Zeit nach ihren Stimmungen
und Spannungen, Gärungen und Kämpfen geschildert, wie die Ideen,
Parteiungen, Meinungen und Strebungen wirr und heftig durcheinander
wogen und sieden, und wie daraus die treibenden Kräfte hervorgehen,
welche durch das Spiel von Stoß und Gegenstoß den Ereignissen ihren
geschichtlichen Verlauf bestimmen. Den Herzschlag der Zeit will Graetz
hörbar und fühlbar machen. Darum kümmert es ihn wenig, ob Stil und
Ausdruck immer schulgerecht bleiben, er scheut in seinen Worten nicht
den schroffen Ton und in seinen Bildern nicht die satte, starke Farbe.
Ohne Rücksicht auf irgend welche Empfindlichkeit wählt er die
deutlichste, schlagendste Bezeichnung, um gemeinverständlich zu sein, um
über seine Ansicht keinen Zweifel aufkommen zu lassen, um die Gestalten
und Begebenheiten, wie sie in seinem Kopfe sich malen, in klarem Umriß
und am richtigen Platz auf der Bildfläche hervortreten zu lassen. Es war
begreiflich, dass das Buch bei seinem Erscheinen großes Aufsehen machte
und sich sofort sein Publikum eroberte, bei dem es Gunst und Beifall in
reichem Maße fand. Dagegen verhielten sich die gelehrten Fachgenossen
zum größten Teil anfangs zurückhaltend. Sie stutzten über die neuen
Momente, die, wie z.B. die christlichen Sekten
[Einleitung: Biographie des Dr. H. Graetz, S. 67 ff.Digitale Bibliothek
Band 44: Heinrich Graetz: Geschichte der Juden, S. 131 (vgl. GesJud Bd.
1, S. 39 ff.)]
bildungen, zur Vervollständigung des
Gesamtbildes ungescheut herangezogen wurden, und konnten sich nicht
hineinfinden, dass moderne Schlagworte und feuilletonistische Wendungen
auf jene alten Verhältnisse übertragen wurden.
Wenn der Verfasser beispielsweise Nachum aus Gimso, dem die vielen
Widerwärtigkeiten seines Lebens immer zum Guten ausgeschlagen seien, als
den "Candide"19 der tannaitischen Sagenwelt bezeichnet, wenn er die
Details des Bar-Kochbaschen Aufstandes, dessen Kapitel zu den schönsten
und ergreifendsten Partien seines Geschichtswerks gehören, aus einzelnen
Namen und versprengten Trümmerstücken zu rekonstruieren sucht und sogar
von zwei Verteidigungslinien, der Esdrelonlinie und der Tur-Malkalinie
spricht,20 wenn er dem gefeierten R. Jehudah ha- Nassi "reizbare
Empfindlichkeit" zuschreibt,21 wenn er, den talmudischen Berichten
vertrauend, den Römern die zivilisatorische Mission in Asien abspricht
und sie namentlich für Vorderasien als Kultur zerstörend, Moral
vergiftend schildert, so waren die Kritiker und Sachkundigen damals mit
sich noch nicht im Klaren und wagten nicht zu entscheiden, ob hier die
Kühnheit einer genialen Originalität durchbricht, oder nur die Unmanier
einer phantastischen Effekthascherei sich aufspielt, deren falscher
Flitter die Probe der Zeit nicht bestehen würde. Es kam noch hinzu, dass
die religiösen Parteien, welche unter den welterschütternden Ereignissen
von 1848 und deren Nachwirkungen wohl den öffentlichen und lauten Streit
eingestellt, aber in der Schärfe ihres Gegensatzes innerlich nicht
nachgelassen hatten, scheel und unbefriedigt auf ein Buch blickten, das
nur der Wahrheit dienen wollte und für keine andere Tendenz sich
verwerten ließ. Die Anhänger der Reform warfen dem Verfasser vor, dass
er den Talmud und seine Lehrer nur zu glorifizieren wisse, hingegen den
wundesten Punkt, dass sie "die Versteinerung und Verknöcherung des
Judentums" verschuldet hätten, mit keiner Silbe berühre,22 während die
Stockorthodoxen darüber ungehalten waren, dass er die Träger der
Tradition einer ihrer Anschauung nach unbefugten Kritik unterzieht und
den traditionellen Lehrbegriff als das Produkt historischer Prozesse
nachzuweisen sich bestrebt.23
Darüber freilich gab es nur eine Stimme, dass die jüdische Wissenschaft
in Graetz einen hervorragenden, vielverheißenden Forscher gewonnen habe
und dass dieser über eine ganz staunenswerte Gelehrsamkeit und
Originalität verfügte. Man konnte ihm die Anerkennung nicht versagen,
dass er durch seine Beherrschung der beiden Talmude und des gesamten
Midrasch, durch seine Vertrautheit mit den Schriftwerken der
Kirchenväter, durch die geschickte Methode, beide disparate
Literaturkreise für kritische Punkte miteinander zu konfrontieren und
sich gegenseitig beleuchten zu lassen, durch die glückliche
Kombinationsgabe, etwaige über abgelegene Literaturgebiete verstreute
Notizen, die überdies häufig noch einer Reparatur bedurften, als
Ergänzungsstücke heraus zu erkennen und aneinander zu fügen, durch den
scharfsinnigen Spürsinn, mit dem er verschollene geographische Namen und
verwitterte Bezeichnungen, welche verschüttet und vergessen in irgend
einem Winkel lagen, mit festem Blick herauszuheben, zu beleben und zu
befruchten wußte,24 - dass er durch solche Vorzüge und Leistungen,
welche durch die unvermeidlichen Verfehlungen und Verstöße im einzelnen
keineswegs beeinträchtigt werden, die gelehrte Forschung wesentlich
gefördert und die geschichtliche Erkenntnis erheblich bereichert hat.
Wenn ein hoher Mut dazu gehörte, sich an eine der dunkelsten und
schwierigsten Partien der jüdischen Geschichte heranzuwagen, für welche
damals in Vorarbeiten und Spezialforschungen noch überaus wenig
geschehen war, so konnten auch die Gegner "nicht umhin, einzugestehen,
dass er seine Aufgabe im ganzen gut gelöst"25 habe.
Allerdings wurde es als ein noch höherer Mut angesehen und vielleicht
auch ironisiert, dass Graetz auf dem Seitentitelblatt und in der Vorrede
seines Buches, das er als vierten Band bezeichnet hatte, ohne Scheu und
Schüchternheit ankündigte, er werde von demselben Standpunkt kritischer
Geschichtsforschung und in gleicher Darstellungsweise eine
Gesamtgeschichte der Juden liefern. Das wollte ein einzelner Mensch
fertig bringen! War ihm denn wirklich die schöpferisch gestaltende Kraft
des echten Historikers gegeben? Oder wollte er sich gar den historischen
Lorbeer auf Kredit reichen lassen?
Die äußeren Verhältnisse gestalteten sich nun doch für ihn immerhin
günstig genug, so dass die Ausführung seines kühnen Vorhabens dadurch in
hohem Grade erleichtert schien. Nicht etwa dass sich eine Gemeinde oder
gar ein Mäcen gefunden, um ihm die Mittel bereit zu stellen, die zur
Durchführung einer Aufgabe, wie er sie sich vorgesetzt, erforderlich
waren; wie noch ganz anders hätte er dieselbe gelöst, wenn er bei seiner
wunderbaren Arbeitskraft in die Lage gesetzt worden wäre, die
handschriftlichen Schätze der verschiedenen Bibliotheken in aller Muße
zu durchmustern und zu benutzen! Eine derartige Gunst hat bis auf den
heutigen Tag der jüdischen Wissenschaft noch nicht gelächelt, und es
ist, als wenn unserer Glaubensgemeinschaft, die doch sonst für alle
humanen Interessen ein einsichtiges Herz und eine offene Hand hat, noch
immer nicht das richtige Verständnis für diese Ehrenschuld an die
Vergangenheit aufgegangen wäre. Graetz war schon zufrieden, dass die
drückende Sorge um das tägliche Brot von ihm genommen war, als am 10.
April 1854 Statuten, Plan und Personalien des Rabbinerseminars die
Bestätigung der preußischen Regierung erlangten. Wiederum siedelte er
nach Breslau über, wo sein literarischer Stern zuerst aufgetaucht war
und er sich einstmals vergebens bemüht hatte, festen Fuß zu fassen, um
fortab als ordentlicher Lehrer an der ersten jüdisch-theologischen
Bildungsanstalt, die am 10. August 1854 unter der Direktion Frankels
eingeweiht und eröffnet wurde und den Namen "Jüdisch-theologisches
Seminar, Fränckelsche Stiftung" erhielt, eine ihm erwünschte
Lebensstellung einzunehmen.
Es war eine providentielle Fügung, dass drei Männer von so
ungewöhnlicher Bedeutung wie Frankel, als Direktor der neuen Anstalt,
Graetz und Jakob Bernays, als ihre ordentlichen Lehrer, dazu berufen
waren, die theologische Bildung des Rabbinentums in die moderne Richtung
hinüberzuleiten. Jeder von ihnen hatte seine ausgeprägte Eigenart, jeder
von ihnen war ein homo trium litterarum in dem Sinne, dass sie, ein
jeder nach Vortritt und Maßgabe seines Spezialstudiums, das
hebräisch-rabbinische, das antike und das moderne Schrifttum
beherrschten, jeder von ihnen hatte sich durch ernstes und tiefes Denken
zu einer konservativen Auffassung des Judentums durchgerungen. Jakob
Bernays,26 ein Meister der klassischen Philologie von weithin reichendem
Ruf, besaß unstreitig das wirkungsvollste Lehrgeschick, das jedoch
begabte Schüler hauptsächlich zu seiner Voraussetzung forderte, Frankel
wirkte durch organisatorische und praktische Befähigung und übte eine
Autorität, welche die Zöglinge in religiöser, wie wissenschaftlicher
Richtung auf das Heilsamste beeinflußte; beide hatten jedoch das
Streben, ihre wissenschaftliche Sonderart dem Schüler aufzuprägen,
wohingegen Graetz auf jede Individualität achtete und seine
Lehrtätigkeit besonders auf die Anregung, Befruchtung und Aufmunterung
seiner Hörer zu richten pflegte. Während Frankel gern die straffe
Ordnung und minutiöse Sorgfalt des elementaren Schulwesens auf sein
theologisches Seminar übertragen wollte,27 weil ihm am Herzen lag,
tüchtige Talmudisten und praktische Rabbiner auszubilden, und Bernays
wiederum den romantischen Schimmer einer theologischen Fakultät im Auge
hatte und theologische Gelehrte heranzuziehen wünschte, war Graetz mit
richtigem und gesundem Takt bemüht, zwischen beiden Gegensätzen zu
vermitteln und eine Mittelrichtung für die Anstalt anzustreben. Obschon
nun Frankel mit fester Hand das direktoriale Steuer führte, war er doch
einsichtig und wohlwollend genug, auf klugen Rat zu hören und den
Wünschen und Anschauungen seiner Mitarbeiter Rechnung zu tragen, so dass
das Lehrer
[Einleitung: Biographie des Dr. H. Graetz, S. 73 ff.Digitale Bibliothek
Band 44: Heinrich Graetz: Geschichte der Juden, S. 137 (vgl. GesJud Bd.
1, S. 43 ff.)]
kollegium sich immerdar im besten
Einvernehmen befand, was auch auf die Jünger wohltuend zurückwirkte.
Neben Frankel, der mit Fug und Recht, so lange er lebte, amtlich und
moralisch eine dominierende Stellung behauptete, der im Aufblühen der
Anstalt den Ruhm seines Tagewerks sah, und da er kinderlos war, in
seinen Schülern seine Kinder erblickte und sich ihrer aller wahrhaft
väterlich annahm, war es Graetz, der seine Räume seinen Hörern gastlich
öffnete, jedem von ihnen, der bei ihm um Hilfe und Rat nachsuchte,
bereit und willig zur Verfügung stand und namentlich zugunsten derer,
die seine Sympathie besaßen oder von deren Fähigkeit und Charakter er
eine gute Meinung gefaßt, mit der ganzen Lebhaftigkeit seines
Temperaments sich einzusetzen liebte. Durch die Dozentur an dem
Breslauer Seminar, mit dessen Interessen er sich ebenso wie Frankel
identifiziert hatte, war er endlich nach vielen Querzügen und nach
mancherlei Jahren von sorgenvoller Ungewißheit in das erwünschte
Fahrwasser gekommen, in dem er in voller Unabhängigkeit alle Segel
seines geistigen Wesens aufspannen und mit aller Kraft sich hinter die
Ruder legen konnte, um geschwellt von dem frohen, hoffnungsvollen Mut
seiner sanguinischen Art, begünstigt von Wind und Flut, dorthin zu
steuern, wohin ihn der Zug seiner Natur trieb. Jetzt fielen endlich
äußere Amtspflicht und innere Berufsneigung für ihn zusammen; indem er
den Dienst, für den er bestellt war, treu und eifrig besorgte, förderte
er zugleich das Werk, das er als Lebensziel sich vorgesetzt und das nun
in regelmäßiger, ununterbrochener Folge seiner vollen Verwirklichung
entgegenschritt.
Im Jahre 1856 erschien der dritte Band "Geschichte der Juden von dem
Tode Juda Makkabis bis zum Untergang des jüdischen Staates", um dadurch
seine Auffassung der talmudischen Epoche, mit der er "als der am
wenigsten innerlich verstandenen" begonnen hatte, zu ergänzen und zu
begründen, und um zugleich den ganzen Boden klar und fest zu stellen, in
welchem die Wurzeln für die jüdische Geschichte des diasporischen
Zeitraumes liegen. Die Geschichte der Diaspora bis auf die neueste Zeit
herab wollte er nämlich zuerst erledigen, und so war er wieder, wie er
in der Vorrede zu dem darauf folgenden Band erklärte, "in das rechte
Geleis eingefahren", als er im Jahre 1860 den fünften Band
veröffentlichte: "Geschichte der Juden vom Abschluß des Talmud (500) bis
zum Aufblühen der jüdisch-spanischen Kultur (1027)".
Nun mußte jeder Zweifel schwinden, es war dem Judentum nach langen
Jahren ein echter Historiker erstanden.
7. Der Historiker.
Bei dem damaligen Stand der jüdischen Wissenschaft, wo es für alle
Seiten und Zeiten an sorgfältigen Einzelforschungen noch fehlte, hielt
man die Zeit noch gar nicht gekommen, um eine Geschichte der Juden mit
Aussicht auf Erfolg schreiben zu können. Einem solchen Unternehmen
schienen innere und äußere Schwierigkeiten, schier unübersteiglich, und
noch dazu gewaltige Vorurteile entgegen zu stehen. Graetz achtete ihrer
nicht. Ohne jede Unterstützung seitens einer Behörde oder irgend einer
Körperschaft, rein und allein aus der überschwellenden Kraft des eigenen
Genius hat er das anscheinend unausführbare Werk vollbracht. Er hat
seinen Glaubensgenossen die Geschichte geschaffen und die allgemeinen
Sympathien für die Vergangenheit des Judentums geweckt. Mit kühner Hand
wagte er es, von den geschwärzten und verdunkelten Bildern die
Staubkruste und das Spinngewebe abzuheben und den abgeblaßten,
verblichenen Konturen und Formen neue Frische und strahlenden
Farbenglanz wiederzugeben. Die wichtigsten Momente, auf denen das
Verdienst und die Wirkung seiner Geschichtsschreibung beruht, mögen noch
besonders hervorgehoben werden.
Er hat vor allem den richtigen Standpunkt, von dem aus der
geschichtliche Verlauf des Judentums beurteilt werden muß, zwar nicht
geschaffen, aber doch zuerst hergerichtet und durchgeführt; er hat
allenthalben das Gesichtsfeld frei gelegt, um die verschiedenen und
vielgestaltigen Phasen dieses Verlaufs leicht und sicher überblicken zu
können. Es gab für ihn nur einen einzigen Vorgänger,28 der als solcher
in Betracht kommt, Isaak Markus Jost. Derselbe war schon 1820 mit einer
"Geschichte der Israeliten seit der Zeit der Makkabäer" hervorgetreten
und hatte sie bis 1829 in neun Bänden bis auf die Gegenwart
hinabgeführt, woraus er 1850 einen etwas verbesserten, schon mit Abraham
beginnenden Auszug "Allgemeine Geschichte des israelitischen Volkes" in
zwei Bänden gegeben; aber als wirklicher Pfadfinder hat er sich dabei
nicht erwiesen. Jost war ein Gelehrter, aber kein Historiker; ein edler,
verdienstvoller Mann, hat er durch seine reichen Kenntnisse für die
Förderung der jüdischen Geschichtsschreibung viel getan, aber er hat
keine geschichtlichen Offenbarungen empfangen, auch nicht solche durch
frohes, kräftiges Auftun seines Mundes weiter verkündet. Bei dem
gänzlichen Mangel an Vorarbeiten und Spezialforschungen war es zu jener
Zeit schon eine nicht hoch genug anzuschlagende Leistung und ein großes
Verdienst, dass Jost die mehr oder minder offen zutage liegenden, jedoch
überaus zerstreuten Daten aufgesucht und zusammengetragen hat, dass er
ihren Inhalt zu erforschen und durch Vergleichung richtig zu stellen
suchte, und dadurch doch ein Handbuch für das Chaos von verwirrenden
Einzelheiten und Tatsachen lieferte. Seine Geschichtsdarstellung
erscheint jedoch wie eine Art Herbarium, eine aufgespeicherte Sammlung
von Personen und Vorkommnissen, welche durch keinen höheren Pragmatismus
aneinander geknüpft, nur nach äußerlichen, oberflächlichen
Gesichtspunkten klassifiziert werden. Die Reflexion ist nüchtern und
dringt nicht in die Tiefe, der Stil trocken, umständlich und eintönig,
ohne Feuer und Kraft. Von einer lebendigen Vergegenwärtigung der
Vergangenheit ist nichts zu spüren. Voller Verehrung für das Römertum,
von christlichen Anschauungen durchsetzt, ist er unbewußt in der
innerlichen Scheu befangen, nicht auf der Höhe des Zeitbewußtseins zu
stehen und fürchtet, des Mangels an Objektivität geziehen zu werden,
wenn er dem Judentum und dem Rabbinismus vollauf gerecht werden soll;
daraus fließt seine Verkennung der Pharisäer und ihrer Nachfolger, der
Rabbinen, wie seine schiefe, fast karikaturenhafte Behandlung des Talmud
und des dazu gehörigen Schrifttums. Er fühlte, dass schon die bloße
historische Betrachtung des Judentums zu dessen Glorifizierung wurde,
aber er wollte um keinen Preis als Apologet desselben gelten.29 Von
derartigen Bedenken und Rücksichten war Graetz durchaus frei,
irgendwelche Furcht oder Scheu hat zur Bildung seines Urteils und seiner
Anschauung niemals mitgewirkt, und hat ihn ebenso wenig gehindert,
unbekümmert ob er bei Freund oder Feind damit anstößt, sich in seinem
vollen Empfinden auszusprechen. Er war der erste moderne Schriftsteller,
der bei der Würdigung der jüdischen Vergangenheit mit dem Standpunkt der
christlichen Anschauung ganz und gar gebrochen hat, er hat es zuerst
versucht, die Entwickelung des Judentums, wie es ja bei jeder anderen
Erscheinung geschieht, aus sich selbst heraus zu begreifen und von
diesem Gesichtspunkt aus, ohne Schönfärberei zu treiben, Licht und
Schatten gleichmäßig darzulegen. Es war erst kurze Zeit, dass Graetz in
Berlin sich aufhielt, als er im Hause von Michael Sachs mit Zunz
zusammentraf. Der Hausherr stellte die beiden Männer, die sich
persönlich noch nicht kannten, einander vor und bemerkte zum Lobe von
Graetz, dass derselbe eben im Begriff sei, eine jüdische Geschichte zu
veröffentlichen. "Wieder eine Geschichte der Juden?" fragte Zunz
spitz.30 "Allerdings" replizierte Graetz scharf "aber dieses Mal eine
jüdische Geschichte!" In der Tat war Graetz der erste, welcher der
jüdischen Geschichte das ihr gebührende Recht wiederzugewinnen suchte
und den Standpunkt der jüdischen Anschauung geltend machte. Die
christliche Anschauung erblickt
[Einleitung: Biographie des Dr. H. Graetz, S. 79 ff.Digitale Bibliothek
Band 44: Heinrich Graetz: Geschichte der Juden, S. 143 (vgl. GesJud Bd.
1, S. 47 ff.)]
nämlich die Vollendung und den
Abschluß der Lehre Moses und der prophetischen Verkündigungen in dem
Glauben an die Messianität des Gottmenschen und an die Wunder, die von
seiner Geburt, seinem Tod und seiner Auferstehung berichtet werden; nur
was auf diesem dogmatischen Glaubensboden wurzelt, könne sich zum
richtigen Gottesbegriff, zu wahrer Sittlichkeit erheben und die
Fortbildung der Zivilisation fördern. Das Judentum habe demnach, indem
es das Christentum aus sich herausgesetzt, seine religiöse Mission
erschöpft, und mit dem fast gleichzeitigen Zusammenbruch seiner
nationalen Selbständigkeit sei seine geistige Bedeutung und sein
geschichtliches Leben erloschen; was sich darüber hinaus fortspinnt, sei
nichts weiter als Verkümmerung und Entartung, Thoravergötterung und
religiöser Formalismus.
Dieser von bewußter oder unbewußter Befangenheit getrübten Auffassung
will Graetz eine wahrheitsgetreue Darstellung der Tatsachen, frei von
jeder Tendenz, Geflissentlichkeit und Schönmalerei gegenüberstellen; es
bedarf nach seiner Meinung nur einer objektiven, vorurteilslosen
Geschichtsbetrachtung, um die durch Not und Druck immer wieder
hindurchbrechende Lebenskraft und den fortwirkenden Geistestrieb des
Judentums zu erkennen, wie es unabhängig von seiner nationalen Existenz,
getragen von der Macht seiner Innerlichkeit und Idealität, den Ausbau
seines monotheistischen Lehrbegriffs und sittlichen Gedankens fortsetzt,
wie es trotz seiner unsäglichen Leiden Denker und Dichter, selbst
Staatsmänner erzeugt, wie es, obwohl entwurzelt und zersplittert, an den
Kulturaufgaben der Menschheit eifrig und erfolgreich mitgearbeitet hat.
Der Standpunkt solcher Geschichtsbetrachtung ist von Graetz energisch
aufgenommen und konsequent durchgeführt worden und damit der Boden
bereitet, um die verschiedenen Seiten des Judentums in ihrer Fülle und
Reichhaltigkeit zu Bewußtsein und Verständnis zu bringen.
Graetz hat ferner nicht nur neue Quellen erschlossen, er hat den bereits
erschlossenen nicht selten neue Gesichtspunkte und überraschende
Aufklärungen abgewonnen. Er verstand es besonders, jüdischen Berichten,
die fast verblaßt schienen oder gar unglaubwürdig klangen, durch
Aufspürung schwer erkennbarer Parallelen und Belege bei nichtjüdischen
Schriftstellern den farbenfrischen Hintergrund oder die lebensvolle
Wirklichkeit oder doch den tatsächlichen Kern zu rekonstruieren, und
suchte bald mit mehr bald mit weniger Glück überall Mittelglieder und
Ergänzungsstücke heraus zu finden und einzufügen. Als er mit dem Mut der
Begeisterung an das kühne Werk ging, war die jüdische Geschichte zumeist
noch ein weites, unübersehbares Trümmerfeld, über welches flammende
Ereignisse ihre Lava ergossen, der Staub der Jahrtausende sich
niedergeschlagen hatte. Nur einzelne Schöpfungen ragten aus der weiten
unwegsamen Öde der trostlosen Verwüstung spärlich hervor; sonst gab es
weder Steg noch Spur, um sich in diesem Labyrinth von Trümmern, Schutt
und Gestrüpp zurecht zu finden. Allerdings hatten die großen Schöpfer
der jüdischen Wissenschaft, Zunz und Rapoport, welche noch immer nicht,
ihrem außerordentlichen Verdienst entsprechend, nach Gebühr von unseren
Glaubensgenossen gewürdigt sind, bereits ihre trefflichen, grundlegenden
Vorarbeiten gefördert; weite Strecken waren wohl von ihnen erfolgreich
aufgeschlossen und fruchtbar gemacht worden, dieselben glichen jedoch
nur kleinen oder größeren Inseln in dem wüsten Schuttmeer, sie boten
keinen Überblick über das Ganze, reichten nur selten über das
literarische Gebiet hinaus und führten nicht zu den das Gesamtgebiet
beherrschenden Knotenpunkten. Hierin hat sich Graetz vornehmlich als
Pfadfinder betätigt. Welche Zeit er auch behandelt, wie sehr er den
Einzelheiten auf den Grund zu gehen sucht, sein Blick bleibt unverwandt
auf das Ganze gerichtet, allenthalben will er durch das wild wuchernde
Buschwerk einen Weg schlagen, oder aus den umher verstreuten
Splitterstücken und ihren Bruchflächen die Adern und Linien erkennen, an
denen sich die wesentliche Richtung und der Verlauf des historischen
Prozesses verfolgen läßt. Durch die Energie, mit der er große
Gedankenmassen fast spielend zu bewältigen und zu gruppieren versteht,
durch die Klarheit, mit der er in seinen gelehrten Exkursen das Für und
Wider disparater Berichte, Belege und Indizien einander gegenüberstellt,
um dann mit geschickter Hand den leitenden Faden aus dem verknäuelten
Durcheinander herauszugreifen und festzuhalten, durch die
Enschiedenheit, mit der er, auch auf die Gefahr zu irren, zu allen
Ereignissen und Persönlichkeiten scharf Stellung nimmt und seiner
Stellungnahme einen unumwundenen, kräftigen Ausdruck gibt, ist es ihm
gelungen, in das öde und wirre Chaos des geschichtlichen Stoffes Licht
und Übersichtlichkeit, Ordnung und System zu bringen. Man vergleiche
einmal die Betrachtungen, welche er als "Einleitung" einzelnen Teilen
seines Werkes, wie dem 4., 5., 7. vorausgeschickt, um den glücklichen
Blick zu würdigen, mit dem er die treibenden Ideen und die
orientierenden Punkte herauszuheben und zu fixieren versteht; es ist
dies nicht bloß in großen und allgemeinen Zügen hingeworfen, es wird
auch im einzelnen ausgeführt.
Um doch das eine oder andere Beispiel dafür beizubringen, wie unser
Historiker auf solche Weise die geschichtliche Forschung gehoben und
auch bereichert hat, sei auf das Kapitel von Gaon Saadiah (Bd. 5)
hingewiesen, der von Rapoport ans Licht gezogen worden, über den Geiger
dann wertvolle Aufschlüsse gegeben, dessen epochemachende Bedeutung und
schriftstellerische Tätigkeit erst von Graetz in das volle Licht gerückt
wurde. - Chasdai Creskas ist in seinem hochbedeutsamen Einfluß auf
philosophischem und sozialem Gebiet erst von Graetz wieder erkannt (Bd.
8) und gewürdigt worden. - Der große Religionsdisput von Tortosa, über
den eine gute jüdische Quelle berichtet, ist doch erst durch eine
scharfsinnige Konfrontation dieser Quelle mit christlichen Mitteilungen
in seinem geschichtlichen Zusammenhang und seiner politischen Tendenz
(Bd. 8) klar gestellt worden. - Aus dem sagenhaften Zwielicht, das die
Schwärmer David Reubeni und Salomo Molcho umspielte, und dem man keinen
größeren Glauben als etwa einer Halluzination und Phantasterei
beizulegen geneigt war, hat Graetz (Bd. 9) die abenteuerliche
Wirklichkeit herausgefunden. Er besaß eben einen merkwürdigen Instinkt
für die Realität von Tatsachen, so verwunderlich sie auch erschienen,
und dazu eine seltene Sagazität, um einen entstellten Text auf seinen
tatsächlichen Inhalt zu verstehen und zu emendieren.
Solche Eigenschaften hatten ihn befähigt, die talmudische Denk- und
Ausdrucksweise erfolgreich in die moderne Empfindung und Anschauung zu
übertragen und eine musterhafte Anleitung zu geben, wie man die
Schriften der talmudischen Zeit als wertvolle Geschichtsquellen kritisch
zu verwerten und auszunutzen habe. Die nichtjüdischen Gelehrten und
Ungelehrten waren schnell fertig damit, was so häufig auf diesem
Schriftgebiet unverständlich oder befremdlich lautet, als talmudische
Unwissenheit oder rabbinischen Aberwitz zu erklären, und die Männer der
jüdischen Aufklärungsperiode schwankten zum mindesten, ob sie nicht
solcher Verurteilung beipflichten müßten. Graetz wies nun nachdrücklich
darauf hin, dass gerade in den historischen Relationen meist eine
heillose Verwüstung des Textes eingerissen sei, welcher repariert werden
müsse. Ebenso liege zuweilen bald eine pragmatische, bald eine
tendenziöse Ausgestaltung der geschichtlichen Überlieferung vor, oder es
haben legendäre Schichten um einen tatsächlichen Kern sich abgelagert,
der eben herauszuschälen sei; ganz abgesehen davon, dass die plastische
Ausdrucksweise der Rabbinen einem fremden Anschauungskreis entlehnt,
durch moderne Begriffe ausgelöst werden müßte.
Um auch hiefür eine Probe beizubringen, so wird in einer altrabbinischen
Chronik Seder olam rabbah berichtet, dass von dem Krieg des Vespasian
bis zum Kriege des Titus () 22 Jahre abliegen. Ist es schon unhistorisch
und unberechtigt, zwischen einem Krieg des Vespasian und einem solchen
des Titus zu
[Einleitung: Biographie des Dr. H. Graetz, S. 85 ff.Digitale Bibliothek
Band 44: Heinrich Graetz: Geschichte der Juden, S. 149 (vgl. GesJud Bd.
1, S. 51 ff.)]
scheiden, so bleibt die Zeitangabe
von 22 Jahren schlechterdings unbegreiflich; dieselbe unverständliche
Scheidung zwischen einem Krieg des Vespasian und des Titus wiederholt
sich auch in der Mischnah zum Schluß des Traktats Sotah. Graetz änderte
nur einen einzigen Buchstaben in und liest statt (Titus) vielmehr
(Kitus) = Quietus. Damit hat er einen palästinensischen Aufstand unter
Lucius Quietus entdeckt, über den freilich nichts näheres zu erfahren
ist, dessen Existenz aber außer Zweifel steht; merkwürdigerweise ist
diese ebenso einfache, wie geistvolle Konjektur durch eine
handschriftliche Lesart bestätigt worden.31 - Nicht minder seltsam
klingt eine Erzählung (Sabbath 17a): "Man steckte ein Schwert ins
Lehrhaus und sagte: wer will, darf hineingehen, aber niemand darf
herausgehen usw." Graetz löst dieses Rätsel: eine terroristische Synode,
in dem ersten Jahr der Revolution gegen Nero von den Schammaiten in
Szene gesetzt,32 wie er überhaupt den Gegensatz zwischen der Schule
Hillels und Schammais nicht bloß als einen theoretischen, sondern als
einen politischen erfaßt und in den verbissenen Zeloten die extremen
Schammaiten wieder erkannt hat. "Ein anerkennenswertes Verdienst hat
sich Graetz durch Aufdeckung dieser bis dahin von niemand recht
gewürdigten Tatsache (der terroristischen Synedrialsitzung) erworben,
welche an sich sehr bedeutsam erscheint und noch mehr Beachtung fordert
wegen anderer sich daran knüpfenden Ergebnisse ... Jedenfalls ist ein
zweites Verdienst des Herrn Graetz, nämlich die Benützung der Megillath
Taanith als Geschichtsquelle und die Ermittelung der Angaben derselben,
wenn auch manches noch zweifelhaft bleibt, von gleich großer Bedeutung,"
so urteilt der Historiker33 Jost, gewiß ein spruchbefugter Richter in
diesen Dingen.
Wo soviel Licht ausstrahlt, kann es auch an Schatten nicht fehlen. Die
Kehrseite seiner hohen Vorzüge zeigt sich darin, dass er seine
Subjektivität zuweilen stark vorwalten läßt, dass er bei seinen
Hypothesen allzusehr nach klarer, scharfer Bestimmtheit strebt, während
die Ere gnisse häufig ineinander fließen, die Charaktere oft vielleicht
wechselnden, widersprechenden Stimmungen und Motiven nachgeben, die
Texte möglicherweise von ihren Verfassern eine uns gar nicht mehr
verständliche, unberechenbare, selbst irrationelle Wendung erhalten
haben. Es kann überhaupt doch nicht Wunder nehmen, wenn bei einem
geschichtlichen Riesenwerk von zwölf umfangreichen Bänden, - wo stets
durch das Unterholz kleinlicher Einzelberichte der zu einer
pragmatischen Betrachtung des Geschehens führende Pfad aufgefunden wird,
neue Tatsachen oder doch neue Gruppierungen ermittelt werden - einzelne
Inkorrektheiten, menschliche Versehen und Verstöße mitunterlaufen.
Derartige Mängel und Schwächen verschwinden vor dem Reichtum des
Dargebotenen, vor der Größe der Leistung. Perspektive, lebendige
Charakteristik, scharfe Zeichnung, leuchtendes Kolorit verdankt die
jüdische Geschichte einzig und allein seiner phantasievollen Feder; er
hat dadurch neue Probleme angeregt, hat die historischen Typen
geschaffen, er hat gleichsam das ganze Kartennetz für die jüdische
Geschichte vorgezeichnet. Als sein höchstes, von keinem anderen bisher
erreichtes Verdienst muß jedoch gerühmt werden, dass er durch sein
gemeinfaßliches, hinreißendes Wort sich in allen Schichten seiner
Glaubensgenossen Eingang verschafft34, in ihnen das Bewußtsein einer
trotz aller Verfolgungen und Erniedrigungen ruhmvollen Vergangenheit
wieder angeregt und den Glauben an die geistige Zukunft Israels neu
geweckt hat. Mit der Energie und Glut seines Temperamentes hatte er
gleichsam das eigene Dasein in die Vergangenheit seines Stammes
getaucht, hatte er sich in die geheimsten Regungen der jüdischen
Volksseele versenkt. "Wie ein vertrauter Bekannter und Genosse wandelt
er" unter den Rabbinen, Philosophen und Dichtern, deren Physiognomien er
zeichnet; man merkt es ihm an, wie bei bevorstehenden Stürmen Furcht und
Hoffnung, bei hereinbrechenden Katastrophen Angst und Qual durch seine
Brust wogt und wühlt, und man wird von diesen Gefühlen mitergriffen. Er
zittert beispielsweise bei dem Gedanken an die Schmach und das Unheil,
das die Verirrung des Pseudomessias Sabbathai Zewi über Juda
heraufbeschwören wird, und tröstet sich mit der Fülle des Lichtes, das
gleichzeitig aus jüdischem Quell in Spinoza über die Welt heraufzieht,
indem er beide, wie es seine mit Vorliebe geübte Weise ist, Menschen und
Ereignisse durch ihren Gegensatz sich gegenseitig beleuchten zu lassen,
als grellen Kontrast einander gegenüberstellt; beide aus demselben
spekulativen, das Unendliche suchenden Trieb des Judentums
hervorgegangen, beide schließlich von ihrem jüdischen Ursprung sich
lösend, der erstere, von dem mystischen Irrlicht verlockt, in dem
moralischen Sumpf schwindelhafter Verworfenheit versinkend, der
letztere, von philosophischem Geist getragen, zur wetterlosen aber
kalten Höhe eines idealen Weisen sich emporschwingend.35 Seiner
schöpferischen und zugleich warmblütigen Gestaltungskraft ist es
gelungen, in die kalte Atmosphäre stumpfer Gleichgültigkeit, welche sich
immer erstarrender über die Gemüter der jüdischen Glaubenswelt
ausbreitete, den warmen erlösenden Frühlingshauch zu leiten und das
allgemeine Interesse für den Geist und die Geschichte des Judentums neu
zu beleben. Der populärste Schriftsteller innerhalb der jüdischen
Wissenschaft, konnte er den für einen jüdischen Autor beispiellosen
Erfolg verzeichnen, dass sein so bändereiches Werk, welches nur auf
gelehrte Leser berechnet schien, in verhältnismäßig kurzer Zeit es auf
drei Auflagen, ja in einigen Teilen sogar zu einer vierten Auflage
gebracht hat; dasselbe ist überhaupt Gemeingut der gesamten
Glaubensgenossenschaft geworden und wurde in alle Weltsprachen
übersetzt, ins Französische, ins Englische, ins Russische, und last not
least, ins Hebräische36.
Die einzige Förderung, die Graetz dabei erfahren, ging von einem
Literaturverein aus, den Dr. Ludwig Philippson, der genialste und
fruchtbarste Journalist des Rabbinertums und dazu ein ungewöhnliches,
erfolgreiches Organisationstalent, 1855 unter dem Namen "Institut zur
Förderung der israelitischen Literatur" ins Leben gerufen. Für einen
durchaus mäßigen Jahresbeitrag wurden mehrere sehr gute Bücher
alljährlich geliefert, unter welchen allerdings meist ein Geschichtsband
von Graetz die pièce de résistance bildete. Dadurch war seiner
Geschichte von vornherein eine große Verbreitung gesichert, anderseits
aber wurde auch das "Institut" so wirksam durch die Graetzschen Bücher
getragen, dass dasselbe, als Graetz den letzten (elften) Band wegen
Differenzen mit Philippson aus diesem Verlag zurückzog, sich nicht lange
mehr halten konnte. Dahingegen hat es dem Historiker an zahlreichen
Anfeindungen, Eifersüchteleien und Nörgeleien nicht gefehlt. Man
benützte ihn allenthalben und sekretierte ihn am liebsten. In der ersten
Zeit namentlich mäkelte und meisterte man an seiner Arbeit herum, als
wenn jeglicher Banause, der in seinem beschränkten Kreise als
kenntnisreicher Talmudist angesehen wurde, nur die Feder anzusetzen
brauchte, um solch eine Geschichte viel besser zu schreiben und
richtiger zu gestalten. Als man später jedoch anerkennen mußte, geschah
es meist nur mit halber Stimme und mit sauersüßer Miene. Die jungen
Theologen beider extremer Richtungen nach rechts wie nach links konnten
sich nicht genug tun, ihm im einzelnen allerlei Verstöße und Irrtümer
nachzuweisen, ohne zu ahnen, dass sie ihn dabei größtenteils mit seinem
eigenen Fett beträufelten, und ohne zu begreifen, dass ein solches
Monumentalwerk sich der kleinen Flecken und Verbildungen gar nicht
erwehren könne. Mit seinem einstigen Lehrer Samson Raphael Hirsch war es
darüber zu einem vollständigen Bruch gekommen. Doch ließ sich seine
arbeitsfrische, lebensfrohe Natur von alledem nichts anfechten, auch der
durchschlagende Erfolg seiner Schriften wurde dadurch nicht im mindesten
aufgehalten. Mit besonderer Genugtuung erfüllte ihn die Auszeichnung,
als er im Dezember 1869 von der preußischen Regierung zum
Honorarprofessor an der Breslauer Universität ernannt wurde; der
schwache Punkt seines
[Einleitung: Biographie des Dr. H. Graetz, S. 91 ff.Digitale Bibliothek
Band 44: Heinrich Graetz: Geschichte der Juden, S. 155 (vgl. GesJud Bd.
1, S. 55 ff.)]
Lebens, gegen den seine hämischen
Gegner ihre Pfeile mit Vorliebe richteten, der Mangel an einem
zunftmäßigen Stufengang der gelehrten Laufbahn, ward durch diese
behördliche Anerkennung wesentlich ausgeglichen und saniert.
Mit dem Erscheinen des elften Bandes im Jahre 1870 hatte er die jüdische
Geschichte von der Erhebung der Makkabäer bis dicht auf die Gegenwart -
1848 - durch neun Bände hindurch in ununterbrochener Aufeinanderfolge
hinabgeführt. Es galt jetzt, um das Werk zu vervollständigen und
abzuschließen, die Uranfänge des Judentums, die biblische und
vormakkabäische Zeit zur Darstellung zu bringen. Graetz hatte dieser
Partie die angelegentlichste Sorgfalt gewidmet und auf ihre Darstellung
großen Wert gelegt, weil er die Behandlung gerade dieser
Geschichtsperioden für eine der schwierigsten Aufgaben hielt. Sie war
natürlich nicht ohne bibelexegetische und textkritische Forschungen zu
lösen, für solche jedoch glaubte sich Graetz besonders befähigt und
berufen, wie er ihnen sein ganzes Leben hindurch mit besonderer Vorliebe
obgelegen. Ehe er jedoch an die Geschichtserzählung von Israel und
Altjuda herantrat, drängte es ihn, das heilige Land Israels, das er so
oft mit seiner Seele suchte, auch mit eigenen Augen zu schauen Es war
wohl ebenso sehr der Drang der Sehnsucht, wie ein künstlerischer Trieb,
der ihn unwiderstehlich nach Palästina zog, um den weihevollen Stätten,
welche die Unterlage und die Zeugen jener altehrwürdigen Begebenheiten
gewesen, für die Schilderung dieser Begebenheiten die lokale Farbe und
Stimmung abzulauschen. Schon 1865 hatte er eine Palästinafahrt geplant,
aber erst im März 1872 konnte er, als sich zwei Freunde ihm anschlossen,
den Plan ausführen. Da er dabei nur auf seine engen Privatmittel
angewiesen war, auch auf seine Reisegefährten Rücksicht zu nehmen hatte,
so konnte ihn wohl die dabei gewonnene wissenschaftliche Ausbeute nicht
recht befriedigen, er hatte indes gefunden, was zu suchen er eigentlich
ausgezogen war; hatte er doch Eindruck, Schwung und Begeisterung
heimgebracht. In schnellem Fluge veröffentlichte er nun von 1874 ab
hintereinander die zwei beziehungsweise drei37 ersten Teile über die
biblische und vormakkabäische Zeitepoche und schloß 1876 die Kette
seiner Geschichtsdarstellung ab, indem er die ersten Glieder anfügend
das Ganze krönte. Das Wort, mit dem er kühn hervorgetreten, als er 1854
mit dem vierten Band seine historische Laufbahn eröffnete, "eine
Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart nach
den Quellen neu zu bearbeiten", war jetzt glänzend eingelöst. Ein Werk
war vollendet, das großartig in seiner Konzeption, klar und durchsichtig
in seiner Ausführung, fesselnd und anziehend in seiner Darlegung, den
Weg zum Herzen seiner Glaubensgemeinde nicht verfehlt hat, über das die
Gegenwart bisher noch nicht hinausgekommen ist, das der jüdischen
Geschichtsschreibung die bleibenden orientierenden Grundlagen geschaffen
hat. Durch die mancherlei kleinen Schlacken und Verfehlungen, wie sie ja
jeder menschlichen Arbeit anhaften, wird an dem Gesamteindruck nichts
geändert; mögen auch vielfach im einzelnen die Tatsachen durch
Erschließung ungeahnter, verborgener Quellen korrigiert und bereichert
werden, auf die allgemeinen Gesichtspunkte, die pragmatischen
Anschauungen, die bewegenden Ideen, wie er sie aus den schwer zu
verfolgenden Zuflüssen und Abflüssen im Stromlauf der jüdischen
Geschichte erkannt und fixiert hat, wird man immer wieder zurückkommen
müssen. Graetz' Geschichte der Juden, so voluminös auch ihr Umfang ist,
wird dem eisernen Bestand der jüdischen Literatur einverleibt bleiben.
8. Der Exeget.
Die zwei oder vielmehr drei ersten Teile des Geschichtswerkes greifen
bereits in die bibelexegetischen Studien über und zeigten daher in ihren
Vorzügen und Schwächen alle Merkmale seiner bibelkritischen Exegese. Es
schien fast, als wenn Graetz nur die Fertigstellung der
nachmakkabäischen, bis an die Gegenwart herangerückten Geschichte des
Judentums abwarten wollte, um alsdann die zweite Phase seiner
schriftstellerischen Tätigkeit mit voller Kraft aufzunehmen. Diese
zweite Phase seiner literarischen Wirksamkeit, die er sich ebenfalls als
Lebensziel gestellt, galt der Exegese und der Kritik der biblischen
Schriften, sie beginnt 1871 und hat ihn seitdem unaufhörlich
beschäftigt, bis ihm der unvermutete Tod die bibelkritische Feder aus
der Hand nahm. Man müßte diese Phase eigentlich schon von 1869 ab
datieren, denn als Zacharias Frankel, um sich in seine Forschungen über
den sogenannten Jerusalemitischen Talmud zu vertiefen, die Redaktion der
"Monatsschrift" 1869 an Graetz zur Fortführung übergab, eröffnete der
letztere seine Redaktion sofort mit einem Artikel über "Die Ebjoniten
des alten Testamentes", veröffentlichte in den nächsten Jahren eine
Reihe von Aufsätzen über alttestamentliche Schriftauslegung und
hebräische Sprachforschung, welche man teilweise als Vorarbeiten für die
Geschichte der biblischen Zeit betrachten darf, und setzte diese Studien
unablässig fast durch alle Jahrgänge bis 1887 fort, in welchem Jahre er
zu seinem Leidwesen sich genötigt sah, das Erscheinen der Monatsschrift
einzustellen.
Bei dem geringen Umfang des biblischen Schrifttums, in welchem uns all
das vorliegt, was sich von der altisraelitischen Literatur gerettet hat,
bei dem mangelhaften Besitz an hebräischem Sprachgut, über den wir
infolgedessen zu verfügen haben, bleibt selbst demjenigen Ausleger, der
sich treu und sklavisch an das Wort und die Überlieferung hält, immer
noch ein überaus weiter Spielraum für individuelles Ermessen und
subjektive Hypothesen, für welche nicht der bündige Beweis die
Überzeugung schafft, sondern der Wille und das Gemüt; um wieviel mehr
wird eine Persönlichkeit von so starker Subjektivität, von so scharfer
Feinhörigkeit und kühner Kombination, wie Graetz, leicht zu Resultaten
kommen, die einen schneidenden Gegensatz zu allen landläufigen Begriffen
bilden, ohne dass sie in jedem und allem stets auf eine objektive,
sichere Basis gestellt werden können. In der Tat sind seine Ergebnisse
und Erläuterungen, die von einem leidenschaftlichen Streben nach voller
Klarheit und Folgerichtigkeit beherrscht werden, oft von einer
verblüffenden Originalität. Jedenfalls aber hat er allerlei neue Fragen
in Fluß gebracht, viele fruchtbare Anregungen gegeben und manchen
schönen Triumph auf diesem strittigen Boden davon getragen. Mit solcher
Kühnheit wird die Exegese zweier hagiographischer Bücher behandelt,
welche 1871 unmittelbar aufeinander folgten, und mit denen er zuerst vor
die Öffentlichkeit trat: Koheleth (oder der salomonische Prediger,
übersetzt und kritisch erläutert), dessen Entstehung bis in die
Regierungszeit des Herodes hinabgerückt wird, und Schir ha-Schirim (oder
das salomonische Hohelied, übersetzt und kritisch erläutert), dessen
Verfasser er der syrisch-mazedonischen Zeit zuweist. So sonderbar die
Hypothesen betreffs der Abfassungszeit der beiden Bücher und manche
andere Auffassungen den Leser berühren und stutzig machen, weil sie sich
von allen bisher begangenen Heerstraßen überaus weit entfernen, man muß
gestehen, dass diese Hypothese über die Ursprungsperiode von Kohelet
viel Bestrickendes für sich hat, man muß jedenfalls anerkennen, dass gut
und geschmackvoll übersetzt worden, dass sehr instruktive Bemerkungen
und Hinweise gegeben werden, dass die alten Übersetzungen eingehend und
aufmerksam herangezogen und benutzt sind. Im Kommentar zu Koheleth,
welcher überhaupt denjenigen zum Hohelied an Wert übertrifft, finden
sich zugleich interessante Aufschlüsse über die griechische Übersetzung.
Ein wirkliches und
[Einleitung: Biographie des Dr. H. Graetz, S. 97 ff.Digitale Bibliothek
Band 44: Heinrich Graetz: Geschichte der Juden, S. 161 (vgl. GesJud Bd.
1, S. 59 ff.)]
bleibendes Verdienst hat sich Graetz
als Exeget darin erworben, dass er stets auf Analogien aus der Mischnah
und dem Talmud zurückzugreifen und namentlich den bibelkritischen Stoff,
den die talmudische Literatur bietet, auszubeuten sucht, wobei er neues
Material beibringt und alles in scharfsinniger Weise für die Fragen der
höheren Kritik fruchtbar macht.
Zwei Voraussetzungen sind es insonders, von denen er bei seiner
Auslegung sich leiten läßt, und welche in seinem ganzen Wesen tief
begründet sind. Zunächst neigte er zu der Annahme, dass bei den
biblischen Schriften allenthalben ein historischer Hintergrund
durchschimmern müsse und selbst allgemeine Bezeichnungen und Reflexionen
ihren individuellen, tatsächlichen Charakter nicht verleugnen können,
der eben herausgehört und erkannt werden muß. Alsdann war er der
Ansicht, dass ein Widersinn, eine Unbegreiflichkeit im biblischen
Wortlaut nicht durch Verrenkung des Wortes oder Satzes, nicht durch eine
weit hergeholte Analogie aus einem entfernten, obschon
verwandtschaftlichen Idiom wirklich gelöst werden könne, sondern dass
hier der Text zu Schaden gekommen sei und der ursprüngliche Wortlaut
durch eine Konjektur aus der Tiefe des Zusammenhanges oder nach einer
talmudischen Parallele oder mit Hilfe der alten Übersetzungen
konstruiert und annähernd wieder hergestellt werden müsse; denn daran
sei nicht zu zweifeln, dass die Katastrophen und die Jahrhunderte,
vielleicht auch die Abschreiber in ihrer Unzulänglichkeit, an der
Urgestalt des biblischen Textes, bevor derselbe mit aller Sorgfalt
festgelegt werden konnte, gezerrt und gelöscht haben, ja dass selbst
noch später allerlei Irrungen mituntergelaufen sein mögen. Nach diesen
Grundsätzen hat Graetz auch die Psalmen bearbeitet, von denen er 1881
eine deutsche Übersetzung herausgab, worauf dann 1882 bis 1883 ein
"kritischer Kommentar zu den Psalmen nebst Text und Übersetzung, 2
Bände" folgte. Der Kommentar ist großartig angelegt, bietet eine Fülle
von Gelehrsamkeit und enthält neben vielem Vortrefflichen doch auch
viele abenteuerliche Kombinationen und vage, wenn auch geistreiche
Hypothesen. Ein wegen seiner Gelehrsamkeit, wie wegen seiner
Besonnenheit gleich hochgeschätzter Orientalist, Justus Olshausen, der
den alttestamentlichen Text zu linguistischen Zwecken kritisch zu
läutern suchte, äußerte sich über den Psalmenkommentar in einem
Schreiben an den Verfasser folgendermaßen:38 "Zwar wird Ihr kritischer
Kommentar wegen der Kühnheit Ihrer Kritik bei der großen Zahl der
Exegeten großen Anstoß erregen, die als Exegeten selber überkühn, aber
schwache Kritiker sind. Für mich hat, wie Sie wissen, die Kühnheit in
der Kritik nichts Erschreckendes, wo sie mit Sprach- und Sachkenntnis,
mit Scharfsinn und vor allem mit gesundem Menschenverstand verbunden
auftritt. Gewiß werde ich Ihnen nicht in jedem Falle zustimmen können,
wo Sie vielleicht mit allzu großer Zuversicht das Richtige getroffen zu
haben meinen; allein das hindert mich nicht anzuerkennen, dass Ihr Buch
durch eine Fülle vortrefflicher Emendationen eine wesentliche
Bereicherung der biblischen Literatur ist." Mancher glückliche Griff ist
Graetz offenbar gelungen, und es fehlte ihm auch nicht an Zustimmung; im
allgemeinen jedoch wurden seine Resulate so entschieden abgelehnt, dass
wohl von einer späteren Zeit sicherlich eine Nachprüfung zu erwarten
steht, welche den Weizen von der Spreu sondern wird. Er selbst ließ sich
in seinem exegetischen Vorgehen durch nichts beirren; entschlossen,
aller Schwierigkeiten im alttestamentlichen Wortlaut mit allen ihm zur
Verfügung stehenden Mitteln Herr zu werden, glaubte er sich berechtigt,
auf dem Gebiet der Textkritik, worauf sich schließlich seine Auslegung
hauptsächlich konzentrierte, sich mit immer größerer Freiheit zu bewegen
und durch kühne Konjekturen, in deren Auffindung sein nachfühlender
Geist unerschöpflich war, den schadhaften Bibeltext, wenn auch nicht
gerade auf seine ursprüngliche Gestalt, so doch auf die ursprüngliche
Tendenz des Schriftsinnes annähernd zurückzuführen. Wiewohl er sonst
stets darauf bedacht war, den Anschluß und die Fühlung mit der
Überlieferung zu behalten, und eine destruktive Tendenz ihm überaus fern
lag, trieb ihn hierbei sein konstruktiver Eifer so weit fort, dass er
schließlich den Boden des Schriftwortes und der realen Wirklichkeit
immer mehr unter sich verlor und seinen Scharfsinn meist in dem
blendenden Feuerwerk raketenartig aufblitzender Emendationen versprühen
ließ. In dieser Richtung bewegen sich seine exegetischen Studien zum
Propheten Jeremiah (Monatsschrift 1883, Jahrg. 32), zu den Salomonischen
Sprüchen (Monatsschrift 1884, Jahrg. 33) und der schöne Aufsatz zur
Bibelexegese (Monatsschrift 1886, Jahrg. 35). Ja, er ging sogar in
seinen letzten Lebensjahren an die Ausführung eines weit ausschauenden,
umfassenden Planes, den er schon lange mit sich umhergetragen und mit
dessen Verwirklichung er das Tagewerk seines Lebens als abgeschlossen
betrachten wollte: die Textgestalt sämtlicher biblischer Bücher sollte
kritisch gesichtet und restauriert werden. Aber auf diesem Arbeitsfelde
leuchtete ihm kein so glücklicher Stern und war ihm kein so glänzender,
siegreicher Erfolg beschieden wie auf historischem Gebiet, wo er
bahnbrechend durchgegriffen hatte. Trotzdem dürfen seine exegetischen
und kritischen Leistungen in ihrem Wert und ihrer Wirkung nicht etwa
unterschätzt werden. Die exegetischen Schriften und Aufsätze sind reich
an neuen Gesichtspunkten und interessanten Anregungen, sie haben
immerhin für die Bibelkritik zahlreiche Keime fruchtbarer Förderung
ausgestreut und für die Entwicklung der Bibelexegese tiefe und bleibende
Spuren zurückgelassen. Schon diese Arbeiten, für sich allein originell
und bedeutend genug, um sonst ein ganzes Gelehrtenleben auszufüllen,
würden hinreichen, um dem Verfasser einen ehrenvollen Namen und einen
hervorragenden Platz in der Geschichte der jüdischen Wissenschaft zu
sichern.
9. Die letzten Lebensjahre.
Die steigende Anerkennung und Verehrung, deren sich Graetz aus den
Kreisen seiner zahlreichen Leser und Bewunderer, aus der wachsenden Zahl
seiner aufblühenden Schüler und Freunde zu erfreuen hatte, war nicht
ganz ohne Trübung geblieben. 1879 wurde der leicht entzündliche Judenhaß
in Deutschland als antisemitische Bewegung wieder entfesselt, um ein
sicher wirkendes politisches Agitationsmittel zur Verfügung zu haben.
Heinrich von Treitschke, ein mehr patriotisch erglühter, als Wort und
Wahrheit sorgsam wägender Historiker, ein Publizist von eindringlich
rednerischem Pathos und glänzender Stilbegabung, trat bald als Rufer im
Streit dabei hervor. Er skandalisierte sich über den Geist der
Überhebung, der neuerdings in jüdischen Kreisen erwacht sein und eine
Gefahr für das deutsche Reich bedeuten sollte, und exemplifizierte dabei
auf Graetz, der in seiner Polemik gegen das Christentum angeblich kein
Maß halte und über die deutsche Nation in seiner Geschichte sich ganz
respektlos äußere.39 Graetz erwiderte und Treitschke widmete ihm einen
Artikel,40 in welchem er seine Behauptung unter Beweis zu stellen
suchte, wobei er die angeführten Stellen meistenteils aus dem
Zusammenhang löste und es an Sophismen nicht feh
[Einleitung: Biographie des Dr. H. Graetz, S. 103 ff.Digitale Bibliothek
Band 44: Heinrich Graetz: Geschichte der Juden, S. 167 (vgl. GesJud Bd.
1, S. 62 ff.)]
len ließ. Die Führer der jüdischen
Intelligenz in Berlin mochten die Tragweite dieser Bewegung unterschätzt
haben, keinesfalls waren sie über die Mittel sich klar, um der immer
höher anschwellenden Flut zu begegnen; die Ausfälle Treitschkes wollte
man jedoch nicht unerwidert lassen, weil man in ihnen mehr als bloß die
Auslassungen eines Professors zu vermuten Grund hatte. Daraufhin ließ
der als nationalökonomischer Schriftsteller bekannte, als lauterer und
edler Charakter hochgeschätzte H. B. Oppenheim sich verleiten, auf die
herausfordernden Inkriminationen Treitschkes ohne weitere Prüfung
Graetz', dessen Schriften er eingestandenermaßen gar nicht recht gelesen
hatte, über Bord zu werfen und ihn "als einen taktlosen und zelotisch
einseitigen Mann, dessen große Gelehrsamkeit durch die Absurdität seiner
Nutzanwendungen um ihren ganzen Segen gebracht wird", abzutun.41 Diese
eigentümliche Verteidigungsweise des Judentums hatte einen geradezu
tragikomischen Eindruck gemacht und hatte zwar niemanden tief aufgeregt,
aber sie erwies sich als symptomatisch für die Gesinnung und Denkweise
der geistigen Notabilitäten der damaligen Berliner Judenschaft.
Eine Verkennung und Unterschätzung der Bedeutung, die Graetz als
Historiker unstreitig gewonnen hatte, trat dann auch in bedauerlichem
Maße zu Tage, als bei der Bildung der vom deutsch-israelitischen
Gemeindebund ins Leben gerufenen historischen Kommission zur Herausgabe
von Quellen der Geschichte der Juden in Deutschland (1885) gerade Graetz
übergangen und völlig ignoriert wurde. Den verdientesten Historiker, den
das Judentum zur Zeit aufzuweisen hatte, durfte man nicht schlechtweg
ausschließen; man durfte nicht vergessen, dass Graetz auf diesem
Arbeitsfeld jedenfalls am meisten heimisch war, und dass er besser und
genauer als jeder andere alle Probleme und Desiderien, die in Betracht
kamen, kannte. Wenn auch die Kommission aus hochangesehenen Gelehrten
zusammengesetzt war, so gab es in ihr doch keinen, der die für diese
Zwecke unentbehrliche Kenntnis des jüdischen Schrifttums in dem Maße und
in dem Umfange wie Graetz besaß, und keinen, der die Beherrschung dieses
Arbeitsgebietes durch namhafte Arbeiten so nachweisen konnte, wie
Graetz. Die Ergebnisse der durch die Kommission veranlaßten Arbeiten
stehen denn auch in keinem Verhältnis zu den großen Erwartungen, die man
anfangs an sie geknüpft hatte.
Was von Berlin aus oder anderwärts an Rücksichtslosigkeit gegen Graetz
gesündigt wurde, griff ihm keineswegs tief ins Herz und wurde vollends
durch London ausgeglichen, als er von dort im Sommer 1887 die ehrenvolle
Einladung erhielt, die englisch-jüdische Ausstellung historischer
Sehenswürdigkeiten mit einer Vorlesung zu eröffnen. Die Ehrungen, die
ihm in der englischen Hauptstadt bereitet wurden, die Menschen, die er
kennen lernte, die Eindrücke, die er empfing, all dies hat seine Seele
wohltuend erfrischt und hoffnungsvoll gestimmt, gehörte zu seinen
schönsten und glücklichsten Erlebnissen und bestärkte ihn in der schon
früher öfters von ihm ausgesprochenen Hoffnung, dass von England und
Amerika dem Judentum neues Heil erblühen werde. Als er am 31. Oktober
1887 das siebzigste Lebensjahr erreicht hatte, beeilten sich nicht bloß
seine Schüler und Freunde, ihm den Jubeltag zu einer großartigen Ovation
zu gestalten, aus allen Erdteilen und Himmelsstrichen liefen Huldigungen
ein, eine überwältigende Flut von Adressen, Ehrengaben, Glückwünschen
und Gedichten aus den verschiedensten Ländern bewies, wie allgemein
seine Würdigung und Verehrung in der gesamten gebildeten Judenschaft
durchgegriffen hatte. Als eine besonders erfreuliche Überraschung hat es
ihn mit stolzer Genugtuung erfüllt, als die spanische Akademie zu Madrid
ihn, den Juden, der in seiner Geschichtsdarstellung mit der spanischen
Nation gar nicht glimpflich ins Gericht gegangen war, am 27. Oktober
1888 zu ihrem Ehrenmitglied in der historischen Abteilung ernannte.
Wunderbar war bis zuletzt die Frische und Elastizität seines Körpers und
Geistes, an welcher die Jahre fast spurlos vorüberzugehen schienen und
ebenso erstaunlich seine unverwüstliche, außerordentliche Arbeitskraft,
wie seine schriftstellerische Fruchtbarkeit. Selbst als er bereits seine
volle Kraft auf die exegetischen Arbeiten konzentriert hatte, ermüdete
er nicht, die überall zerstreuten, in allen Kultursprachen auftauchenden
Forschungen, welche der jüdischen Wissenschaft galten oder irgend
welche, sei es noch so entfernte, Beziehungen zu ihr aufwiesen, mit
gespannter Aufmerksamkeit zu verfolgen, dieselben auf ihre Resultate
sorgfältig zu prüfen und die gewonnenen Ergebnisse immerdar zur
Bereicherung und Berichtigung einer neuen Auflage seiner Geschichte zu
verwerten oder, wenn es ihm genügend wichtig dünkte, in einem besonderen
Aufsatze niederzulegen. Denn außer seinen geschichtlichen und
exegetischen Werken, welche schon durch ihre stattliche Zahl wie durch
ihren äußeren Umfang überaus bedeutsam erscheinen, hat er nebenhin
zahllose Abhandlungen und Programmarbeiten über die verschiedensten
Themata veröffentlicht. Unter den Aufsätzen gibt es wahre Perlen, Muster
von stilistischer Klarheit und gründlicher Gelehrsamkeit, in manchen
kommen allerdings gewagte Behauptungen zum Vorschein; als eine derartige
Aufstellung, an der er stets festhielt, sei hier beispielsweise
aufgeführt, dass die Massorah von den Karäern herrühre und aus ihrem
Schrifttum zu uns herübergedrungen sei; eine Hypothese, über welche man
sich mehr emphatisch entrüstet hatte, als dass man sie durchschlagend
widerlegte, und für welche manches verdächtige Anzeichen spricht. Von
seinen Programmschriften seien als besonders wertvoll hervorgehoben:
"Die westgothische Gesetzgebung in betreff der Juden" zum Jahresbericht
des jüdisch-theologischen Seminars 1858, "Frank und die Frankisten" zu
1868, "Das Königreich Messena und seine jüdische Bevölkerung" zu 1879.
In der Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums,
deren Redaktion er, wie bereits angegeben, von 1869 bis Ende 1887
führte, stammt der größte Teil der darin enthaltenen Aufsätze von seiner
Feder her.
Er verstand es eben merkwürdig, seine Zeit ganz und gar auszukaufen.
Jeder Morgen fand ihn schon um 5 Uhr vor seinem Schreibtisch, und bis 9
Uhr beschäftigte er sich ununterbrochen mit schriftstellerischen
Arbeiten; nach 9 Uhr pflegte er seine Vorlesungen aufzunehmen. Er
unterhielt eine ausgedehnte Korrespondenz, fand für alles Muße und gab
sich gern den harmlosen Freuden heiterer Geselligkeit hin. Freilich
suchte er erst spät sein Nachtlager auf und bedurfte überhaupt nur wenig
Schlaf. Die kerngesunde, fast unbezähmbare Kraft seines Nervensystems
gebot über eine körperliche Konstitution, welche die materielle
Grundlage für eine außergewöhnliche Leistungsfähigkeit in vollstem Maße
in sich barg. Von Statur mittelgroß, die Haltung etwas vornüber geneigt,
besaß er eine gute Muskulatur, welche fettarm und mager, aber sehnig und
von einem starken Knochenbau getragen war. Der Kopf, obschon im Gesicht
durch Pockennarben etwas beeinträchtigt, machte einen aparten und
bedeutenden Eindruck. Die brettartige Stirne trat kantig hervor, über
ihr lag nicht gerade dicht jedoch auch nicht spärlich, weiches,
kastanienbraunes Haar, das später ergraute. Die graubraunen Augen lugten
scharf und spähend aus und verrieten Lebensfreude, eine schmalflügelige,
scharf und spitz ausgeprägte und nicht eben kleine Nase gab dem ovalen,
starkknochigen Gesicht einen charakteristischen, fühlerartig forschenden
Ausdruck, um seine Lippen schien es zumeist wie Wehmut zu spielen,
zuweilen aber lagerte über denselben eine Wolke von Spott, Ironie und
Angriffslust, als wenn jeden Augenblick sarkastische Worte heraussprühen
wollten. In der Tat brachen manchmal spitze Sarkasmen über das Gehege
seiner Zähne hervor, im allgemeinen indes blieb die mündliche
Unterhaltung weit hinter den Erwartungen zurück, welche seine Feder
erregt hatte. Zu glücklicher Stunde war er in jüngeren Jahren für den
häuslich vertrauten Kreis voll scherzhafter Worte und lustiger Einfälle,
immer aber beseelte ihn eine unbesiegbare Lebenslust und ein glücklicher
Optimismus. In
[Einleitung: Biographie des Dr. H. Graetz, S. 109 ff.Digitale Bibliothek
Band 44: Heinrich Graetz: Geschichte der Juden, S. 173 (vgl. GesJud Bd.
1, S. 66 ff.)]
niger Familiensinn beherrschte ihn.
Gegen seine Frau bewies er jederzeit eine Zartheit und Aufmerksamkeit,
als ständen sie in den Flitterwochen, gegen seine Tochter übte er eine
vollendete Ritterlichkeit, gegen seine Söhne war er von hingebender
Nachsicht und Opferfähigkeit, sein Verhalten dem greisen Vater gegenüber
erinnerte geradezu an die talmudisch-antike Pietät. Mit großer Vorliebe
pflegte er seine freundschaftlichen Verhältnisse. Für einen Freund, wie
überhaupt für jede Sache, die seine Sympathie besaß, war er jederzeit
bereit, voll und ganz einzustehen. Aus Palästina hatte er, von den
dortigen Übelständen tief bewegt, den Plan zur Erziehung jüdischer
Waisen in Jerusalem auf deutscher Grundlage mitgebracht; zusammen mit
seinen Reisegenossen stiftete er einen Verein und bot alles auf, um
hierfür einen festen, wenn auch kleinen Grundfonds zu beschaffen. Zu
diesem Zwecke unternahm er allerlei Reisen, hielt, so sehr ihm
derartiges anfangs widerstrebte, in vielen Städten Vorträge und ging
sogar auf eine Einladung nach Galizien, wo er allerdings mit großem
Jubel empfangen und mit schmeichelhaften Huldigungen überhäuft wurde.
Von solchem Erfolge gehoben, ruhte er nicht eher, bis diesem Verein der
noch heute segensreich wirkt, eine gesicherte, wenn auch bescheidene
Unterlage bereitet war.
Rüstig und frisch, wie er sich fühlte, hatte er in seinen letzten
Lebensjahren sich noch eine große Aufgabe gestellt, in der er das Fazit
seiner bibelkritischen und exegetischen Studien ziehen wollte, für deren
Ausführung er von der Gegenwart keinen Dank erwartete, sondern auf die
Anerkennung einer späteren Zukunft rechnete. Alle sonstigen
Nebenbeschäftigungen ließ er aus diesem Grunde zurücktreten, er stellte
sogar 1888 die Herausgabe der "Monatsschrift" ein, da keiner seiner
Schüler damals die Redaktion zu übernehmen geneigt war, und ging mit
seinem gewohnten Eifer und Ungestüm ans Werk. Um die Resultate seiner
langjährigen biblischen Textforderungen in klarer Übersicht zu geben,
wollte er einen Abdruck der ganzen hebräischen Bibel mit emendiertem
Wortlaut und mit kurzen, die Emendationen des Textes begründenden
Anmerkungen veranstalten. 1891 hatte er sämtliche Vorarbeiten hierzu
beendet und ging mit dem Druck vor. Wie sehr ihm dieses Lebenswerk am
Herzen lag, geht aus dem Prospekt hervor, in dem er sich gegen seine
sonstige Gewohnheit mit der Bitte an seine Freunde wandte, sein Bemühen
zu unterstützen. "Auf der Neige meines Lebens" - so heißt es daselbst -
"habe ich das mühevolle Werk unternommen, die Emendationen des Textes
der heiligen Schrift übersichtlich zusammenzustellen, deren Zulässigkeit
und Berechtigung nicht nur, sondern auch deren Notwendigkeit der Ihnen
gleichzeitig zugehende Prospekt auseinandersetzt ... Ich ersuche Sie,
mein Bemühen zu unterstützen ... damit das von mir übernommene Risiko
nicht meine Verhältnisse allzusehr übersteige". Dieser Prospekt erschien
im Juli 1891 und war das letzte, was seine rastlose Feder dem Druck
übergab. Wiewohl die vorgerückten Jahre ihm eigentliche Beschwerden
nicht verursachten, er sich für gesund hielt und sich jedenfalls
durchaus kräftig fühlte, war er dennoch vom Alter, ihm unbewußt, ins
Innerste getroffen worden; denn sein Herz war schwer angegriffen und
erregte die Besorgnis der Ärzte. Wie alljährlich war er, um kleine
körperliche Indispositionen zu beseitigen, nach Karlsbad gegangen und
hatte vor, von dort einen Abstecher nach München zu machen, um den
ältesten seiner Söhne, der eine außerordentliche Professur der Physik an
der Münchener Universität inne hatte, zu besuchen und dann mit dessen
Familie noch einige Zeit im Bade Reichenhall der Ruhe zu pflegen. Kurz
vor der geplanten Abreise nach München befiel ihn in Karlsbad, wo er
sich nicht schonte, eine tiefe Ohnmacht, so dass die Ärzte seine Frau
dringend zur Rückreise nach Breslau mahnten. Er jedoch hielt diese
Vorsicht für übertrieben, erklärte sich wohl schießlich zur Heimkehr
bereit, nur die Reise nach München wollte er nicht aufgeben. Daselbst
angekommen, wurde er in der Behausung seines Sohnes am Abend vom 6. auf
den 7. September von einer heftigen Kolik angefallen. Dieselbe wurde vom
Arzt durch Opium beruhigt, so dass er bald hernach zu Schlaf kam. Als
seine Frau früh am Morgen sein Befinden beobachten wollte, fand sie ihn
leblos im Bette vor, ein Herzschlag hatte in der Nacht zum 7. September
1891 seinem arbeitsvollen und erfolgreichen Leben ein immer noch allzu
frühes Ziel gesetzt. Die Leiche wurde nach Breslau übergeführt und drei
Tage später auf dem dortigen Friedhofe unter zahlreicher Beteiligung
seiner Schüler und allgemeiner Teilnahme zur letzten Ruhe bestattet.
Die Gattin, welche nur noch dem Andenken ihres hochgefeierten Mannes
lebte42, hat es als eine Ehrenschuld angesehen, sein letztes Lebenswerk,
das im Manuskript fast fertig vorlag, von dem erst einige wenige Bogen
durch die Presse gegangen waren, zu Ende zu führen. Professor W. Bacher
zu Budapest, ein Schüler von Graetz, der sich durch seine Editionen und
Studien zur Geschichte der hebräischen Grammatik und Exegese einen
angesehenen Namen erworben, hatte die Redaktion übernommen; derselbe war
überdies gezwungen, ein beträchtliches Stück aus den Propheten, welches
durch einen unglücklichen Zufall abhanden gekommen war, aus
anderweitigen Notizen zu ergänzen. Ein solcher Unstern waltete über
diesem textkritischen Bibelwerk, auf welches der verewigte Verfasser gar
hohen Wert gelegt; ohne dass er wie sonst während des Druckes beständig
die nachbessernde Hand anlegen konnte, mußte das Buch als ein
unvollständiges, weil nachgelassenes, erscheinen unter dem Titel:
Emendationes in plerosque Sacrae Scripturae Veteris Testamenti libros
secundum veterum versiones nec non auxiliis criticis caeteris adhibitis.
Ex relicto defuncti auctoris manuscripto edidit Guil. Bacher. 3 Th.
Breslau 1892 bis 1894. Der hebräische Wortlaut der Bibel wird freilich
kühn und subjektiv behandelt, immerhin bleibt erst einer spätern Zukunft
die richtige Würdigung vorbehalten, wie weit die kritische Sichtung des
Bibeltextes durch seine Forschungen auch wirklich gefördert worden; denn
darüber kann kein Zweifel bestehen, Graetz war ebenso wie auf
historischem, auch auf exegetischem Gebiete ein Meister, dessen
Anregungen selbst dort, wo er irrt, immer noch wertvoll bleiben.
Einst wird die Zeit kommen, wo man uns um das Große und Herrliche
beneiden wird, dessen wir uns von Angesicht zu Angesicht erfreuen
durften. Man wird freilich nicht an den Schmerz und die Trauer denken,
womit wir es unvermutet und unvermittelt aus unserer Mitte haben
scheiden sehen. Noch weniger wird man die Selbstvorwürfe ahnen, die sich
nachträglich bei uns eingestellt, dass wir häufig ein schärferes Auge
für die kleinen Schwächen und Unzulänglichkeiten hatten, welche jeder
menschlichen Existenz anhaften, als dass wir ein williges und
verständnisvolles Ohr für die Anregungen, Intuitionen und Aufschlüsse
zeigten, die uns jederzeit wie aus einem immer stärker sprudelnden Quell
zur Verfügung standen. Die schönsten Blüten jedoch, die sein Geist
getragen, die besten Früchte, die sein Leben gereift, sind in seinen
Schriften niedergelegt, jedem zugänglich und jedem verständlich, der
lesen will. Ein Prophet in seiner Art, hat er den Schleier der jüdischen
Vergangenheit gelüftet und ihrer Stimme für alle Zukunft lebendigen
Klang und neue Frische wiedergegeben. Indem er ohne Menschenfurcht und
ohne Lohnsucht nur der historischen Gerechtigkeit und Wahrheit zu dienen
strebte, hat er den Ruhm Zions verkündet und wie mit einer Wünschelrute
den Quellengrund aufgeschlossen, aus dem für die Bekenner des
einzig-einigen Gottes stets Trost und Labung, Hoffnung und Erhebung in
reicher Fülle hervorströmen wird.
[Einleitung: Biographie des Dr. H. Graetz, S. 115 ff.Digitale Bibliothek
Band 44: Heinrich Graetz: Geschichte der Juden, S. 179 (vgl. GesJud Bd.
1, S. 69 ff.)]
1 Was hier unter Anführungszeichen gegeben wird, ist der Originaleingabe
wörtlich entnommen. Geheimes Staatsarchiv Berlin, General-Direktorium
Südpreußen, Ortschaften Nr. 964, Vol. II.
2 Staatsarchiv Posen, Wollstein C. 13.
3 Das Werkchen ist fein säuberlich abgeschrieben in seinem Nachlaß
vorgefunden worden; er hatte es, wie er angiebt, am Mittwoch den 27.
Elul (15. September) 1830 in Zerkow begonnen und in Wollstein, etwa 15
Jahre alt, vollendet.
4 Wahrscheinlich von Simcha Arje ben Efraim Fischel, Lemberg 1833.
5 Diese Biographien sind nicht gedruckt worden, und auch die Handschrift
war nicht aufzufinden.
6 Talmudische Werke des R. Isaak Alfassi.
7 Ein großer, schwerer, mit irgend welchem Zierrat am Griff geschmückter
Stock wurde in Polen wie ein Emblem des Rabbinats getragen und
gebraucht.
8 Giganten oder Heroen. Graetz spielt hier mit dem Worte.
9 Ein Philologe von Ruf, der in der lateinischen Lexikographie
Bedeutendes geleistet.
10 Als sein erstes literarisches Auftreten kann wohl ein Artikel
bezeichnet werden im Hauptblatt des Orients, Jahrg. 1843, S. 391 ff.
über die damals schwebende Streitfrage "Über die Heiligkeit der
jüdischen Begräbnisplätze", anonym und von Breslau 22. Nov. datiert. Das
Scharmützeln gegen Geiger beginnt im Hauptblatt des Orients, Jahrg.
1844, S. 21.
11 "Das Buch der Schöpfung", das eine halb philosophische, halb
mystische Weltanschauung entwickelt.
12 Ursprünglich war hierzu der 15. Oktober angesetzt; es wurde aber von
vielen Seiten der September als der geeignetste Monat bezeichnet.
13 Dazu bedurfte es indes einer behördlichen Genehmigung, welche nur
infolge eines amtlichen Lehrerzeugnisses erteilt werden konnte.
Daraufhin besuchte Graetz als Hospitant eine Zeitlang das katholische
Schullehrerseminar zu Breslau und erhielt am 4. November 1847 nach
abgelegter Rektoratsprüfung ein Zeugnis, welches ihm die Fähigkeit
zuspricht, an einer Elementarschule zu unterrichten und eine solche als
Rektor zu leiten. Es war das einzige amtliche Prüfungszeugnis, das
Graetz überhaupt aufzuweisen hatte.
14 Derselbe Friedmann zeichnet in Gemeinschaft mit Graetz einen Aufsatz,
der 1848 in den theologischen Jahrbüchern von Bauer und Zeller, Bd. VII,
S. 338 erschienen ist: "Über die angebliche Fortdauer des jüdischen
Opferkultus nach der Zerstörung des zweiten Tempels". Wie weit der
Anteil Friedmanns dabei reicht, ist nicht ersichtlich. Die Einleitung
zeigt ganz deutlich die Art und den Stilcharakter von Graetz, der diese
Arbeit als die seinige anzusehen pflegte. Es ist übrigens die einzige
Veröffentlichung, die in den Jahren von 1846 bis 1851 von ihm
ausgegangen war.
15 Nach persönlichen Mitteilungen von Graetz an den Schreiber dieses.
16 Graetz äußert sich darüber in seinem curriculum vitae (bei den Akten
des Kuratoriums der Kgl. Kommerzienrat Fränckelschen Stiftungen, "den
Seminarlehrer Graetz betreff.") folgendermaßen: "Im Jahre 1849 folgte
ich dem Rufe, der von dem mährischen Landrabbiner an mich erging, mich
bei der Gründung eines Rabbinerseminars für die mährischen und
österreichisch-schlesischen Gemeinden zu beteiligen und an demselben als
Lehrer zu wirken. Doch kam dieses Institut nicht zustande; die
schwankenden Verhältnisse des österreichischen Staates überhaupt und die
einem ewigen Provisorium anheimgefallene Stellung der Israeliten im
Kaiserstaate zogen die Verhandlungen über die Verwirklichung eines
derartigen Seminars in die Länge. Ich sah mich infolgedessen in die
Notwendigkeit versetzt, provisorisch die Leitung einer öffentlichen
israelitischen Schule in Lundenburg bei Wien zu übernehmen".
17 Die Trauung in Krotoschin vollzog Hirsch Fassel, Rabbiner von
Proßnitz in Mähren, mindestens hielt er dabei die Trauungsrede. Er
weilte damals in Breslau, woselbst man mit ihm wegen einer Anstellung
als Rabbiner neben Geiger verhandelte. Doch führten die Verhandlungen zu
keinem Resultat.
18 Vgl. Das jüdisch-theologische Seminar Fränckelsche Stiftung zu
Breslau, am Tage seines 25 jährigen Bestehens, den 10. August 1879, S.
5.
19 Geschichte der Juden, B. IV. (l. Auflage), S. 22.
20 Geschichte der Juden, B. IV, (l. Auflage), S. 169.
21 Ebenda S. 236.
22 Der israelitische Volkslehrer von L. Stein, Jahrg. V, 1855, S. 37.
23 Jeschurun von S. R. Hirsch, Jahrg. II und III.
24 Vgl. Geschichte der Juden, Bd. IV, Note 20 (in späteren Auflagen Note
16.)
25 Israelitischer Volkslehrer a.a.O.
26 Er war ein Sohn des Hamburger Rabbiners, oder - wie er sich nannte -
Chacham, Isaak Bernays.
27 Diese Tendenz fand ihre Berechtigung in dem Umstande, dass man unter
den obwaltenden Verhältnissen für die Aufnahme in die Anstalt kein
höheres Maß profaner Kenntnisse fordern konnte, als für die Sekunda
eines preußischen Gymnasiums ausreichte, und Schülern vom 15. Jahr an
den Eintritt gewähren wollte.
28 Der erste, der eine Geschichte der Juden bis auf seine Zeit, wenn
auch trümmerhaft und mit unzulänglichen Mitteln, doch im Zusammenhang
abgefaßt hat, war der protestantische Geistliche und Diplomat Jakob
Basnage, der Historiograph der Niederlande, gest. 1723, an welchen sich
Jost angelehnt hat. Der zweite Versuch einer Darstellung der jüdischen
Geschichte ging von einer christlichen Amerikanerin aus, Hannah Adams
aus Boston, 1818, welche nur sekundäre Quellen benutzen konnte. Vgl.
über die Vorgänger von Graetz dessen Geschichte, XI. Band, 2. Aufl., S.
409 ff.
29 In seinem letzten Geschichtswerk "Geschichte des Judentums und seiner
Sekten" (3 Bände, 1857 bis 1859) hat Jost seinen alten Ton nicht
beibehalten, sondern sich mehr auf den von Graetz eingenommenen
Standpunkt gestellt.
30 Zunz hielt nicht nur jede Geschichtsdarstellung des Judentums damals
für verfrüht, er hatte bei seiner Äußerung wohl ein 1846 erschienenes
Machwerk "Geschichte der Israeliten" von Dr. J. H. Dessauer, im Auge; in
der zwar sehr verblümten Anspielung auf dieses unbedeutende Buch lag
wahrscheinlich der verletzende Stachel.
31 Vgl. Band 4, zweite Auflage, Not. 14.
32 B. 3, zweite Auflage, Not. 26.
33 Jost, Gesch. des Judentums und seiner Sekten. Abt. 1, S. 437, Anm. 3.
34 Graetz hat mit großem Geschick, um den Fluß der Erzählung nicht durch
trockene, gelehrte Exkurse zu unterbrechen, jeden Band seines Werkes in
zwei Teile geschieden, gleichsam in einen exoterischen Teil, für alle
zugänglich, und in einen esoretischen, für den Fachmann bestimmt. Der
letztere Teil befindet sich am Schluß als Beigabe und enthält den
gelehrten Notenapparat, in welchem über die Methode, über die mehr oder
minder zwingenden Schlußfolgerungen und Voraussetzungen, die zu den in
der Geschichtsdarstellung vorgetragenen Resultaten geführt haben,
Rechenschaft gegeben wird, in welchem alles niedergelegt ist, was der
Verfasser als Gelehrter, an neuen Tatsachen, Daten und Gruppierungen
gefunden und geför
[Einleitung: Biographie des Dr. H. Graetz, S. 121 ff.Digitale Bibliothek
Band 44: Heinrich Graetz: Geschichte der Juden, S. 185 (vgl. GesJud Bd.
1, S. 0 ff.)]
dert hat. In diesen Noten, die in gewissem Sinne die
Werkstatt darstellen, um den vom Verfasser selbst herbeigeschafften
wissenschaftlichen Rohstoff zu den für den Geschichtsaufbau geeigneten
Werkstücken zu verarbeiten, ist ein ebenso reiches, wie neues Material
nicht bloß aus handschriftlichen Funden, sondern oft aus ganz
unvermuteten, scharfsinnig aufgespürten und entlegenen Quellen
zusammengetragen. Eine staunenswerte Fülle von Gelehrsamkeit wird
aufgespeichert und für die wissenschaftliche Forschung nutzbar gemacht
und all dies meist so gründlich durchgearbeitet und so klar
durchleuchtet, dass dieser Teil schon für sich allein eine
wissenschaftliche Leistung ersten Ranges bedeutet. Diese Noten werden
von dem unvergeßlichen David Kaufmann s.A. sehr treffend den Kellern
einer Zettelbank verglichen, in denen das kostbare Edelmetall und der
reiche Barvorrat gelagert wird, um die in Umlauf befindlichen Scheine
und Wechsel jederzeit zum vollen Wert einlösen zu können. In gleicher
Weise sollen die Noten für die Ausführungen des Textes die
erforderlichen Garantien bieten und ihre Zuverlässigkeit auch dort
sichern, wo sie auf bisher unbekannte Forschungen hinweisen.
35 Band 10, cap. 6 und 7.
36 Die französischen, englischen und hebräischen Übersetzungen seiner
Geschichte hat Graetz zumeist selbst überwacht und die Aushängebogen zum
größten Teil durchgesehen. Die französische Übersetzung wurde von seinem
Freunde M. Heß, einem sozialistischen Schriftsteller, dem Verfasser von
"Rom und Jerusalem", angefertigt. Der dritte Band wurde zuerst übersetzt
und erschien unter dem Titel "Sinai und Golgatha" (Paris 1867). Darauf
folgte der sechste mit der Bezeichnung "Les Juifs d'Espagne". Der Krieg
von 1870 hatte die deutschen und französischen Juden einander überaus
entfremdet, so dass die Fortsetzung des Werkes abgebrochen wurde und
erst in den achtziger Jahren wieder aufgenommen werden konnte. Bei der
englischen Übersetzung wurde mit dem vierten Band begonnen (New-York
1873). Übersetzer war James K. Gutheim auf Veranlassung der zweiten
American Jewish Publication Society. Als Graetz im Jahre 1887 London
besuchte, wurde die englische Übersetzung des ganzen Werkes von dort aus
in Angriff genommen und durchgeführt. Sowohl die französische wie die
englische Übersetzung bildeten zugleich eine Umarbeitung des deutschen
Originals, indem Graetz nicht bloß die Resultate der neuesten
Forschungen hineingeflochten, sondern auch der Geschichte der Juden
desjenigen Landes, in dessen Sprache die Übersetzung erfolgte, eine
besondere Berücksichtigung zuwandte. Die hebräische Übersetzung wurde
zuerst von Kaplan und dann von Rabbinowiez besorgt.
37 Der zweite Band hatte einen solchen Umfang genommen, dass er ihn in
zwei Abteilungen zerlegen mußte, von denen jede die stattliche Zahl von
fast 500 Seiten umfaßt.
38 Abgedruckt in Rippners: Zum siebzigsten Geburtstag des Professors Dr.
H. Graetz, S. 31.
39 Preußische Jahrbücher 1879, Bd. 44, S. 572 ff.
40 A. a.O., S. 660.
41 Die Gegenwart von Lindau, 1880, Bd. 17, S. 18 ff.
42 Marie, geb. Monasch aus Krotoschin, verstarb am Abend des 31. Mai
1900. Eine stattliche, schlanke Figur, mit angenehmem Äußeren und von
gemessenem, zurückhaltenden Wesen, verband sie Freundlichkeit und Takt
und verstand es, auch dem freundschaftlichen Verkehr einen gewissen
feierlichen Anstrich zu geben. Über dem Verhältnis zu ihrem Gatten
schwebte bis zum letzten Tage eine Art bräutlichen Schimmers. Infolge
des Alters hatten in der letzten Zeit ihre körperlichen und geistigen
Kräfte nachzulassen begonnen. Da war es rührend zu sehen, wie ihre Züge,
sobald die Rede auf ihren verstorbenen Gatten kam oder es sich um dessen
Schriften handelte, sich alsdann belebten, sie an der Unterhaltung oder
Verhandlung vollen Anteil nahm und ihre Geisteskräfte nichts zu wünschen
ließen.
Erster Zeitraum.
Die vorexilische biblische Zeit.
Einleitung.
Die Anfänge eines Volkes sollen hier erzählt werden, das aus uralter
Zeit stammt und die zähe Ausdauer hat, noch immer zu leben, das, seitdem
es vor mehr denn drei Jahrtausenden auf den Schauplatz der Geschichte
getreten ist, nicht davon weichen mag. Dieses Volk ist daher zugleich
alt und jung; in seinen Zügen sind die Linien grauen Altertums nicht zu
verwischen, und doch sind diese Züge so frisch und jugendlich, als wäre
es erst jüngst geboren. Lebte ein solcher steinalter Volksstamm, der
sich in ununterbrochener Reihenfolge der Geschlechter bis auf die
Gegenwart erhalten, und unbekümmert um andere und unverkümmert von
anderen, sich von der Barbarei des Urzustandes losgewunden, sonst aber
nichts Besonderes geleistet und keinen Einfluß auf die übrige Welt
ausgeübt hätte, lebte ein solcher Stamm in einem entlegenen Winkel der
Erde, so würde er als eine außerordentliche Seltenheit aufgesucht und
erforscht werden. Ein Stück Altertum aus urdenklicher Vorzeit, das Zeuge
der Gründung und des Zerfalles der ältesten Weltreiche war, und das noch
in die unmittelbare Gegenwart hineinragt, verdiente allerdings volle
Aufmerksamkeit. Nun hat aber das Volk, dessen Urgeschichte hier erzählt
werden soll, das hebräische oder
[Einleitung: Biographie des Dr. H. Graetz, S. 127 ff.Digitale Bibliothek
Band 44: Heinrich Graetz: Geschichte der Juden, S. 191 (vgl. GesJud Bd.
1, S. 0 ff.)]
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