[Chag
haSchawu'oth - Wochenfest]
Israel am Horew:
Die Offenbarung der Torah
Heinrich Graetz
Vor feindlichen Überfällen gesichert und durch
wunderbare Erlebnisse gehoben, schienen die Stämme vorbereitet, das
höchste Gut zu empfangen, um dessentwillen sie den Umweg durch die Wüste
bis zum Berge Sinaï gemacht hatten.
Von Rephidim (Wady Feiran?), das schon hoch lag, wurden sie noch höher
zu dem hochragenden Gebirge geführt, dessen Spitzen bis zu den Wolken
ragen und teilweise mit ewigem Schnee bedeckt sind. Von der flachen
Küste der beiden Arme des roten Meeres türmen sich Gebirgsmassen auf
Gebirgsmassen, Ketten von Porphyr und Granit bis zur Höhe von fast 9000
Fuß54, mit Kuppen und
Spitzen von phantastischer Form und riesiger Gestalt, wild, gewaltig,
das Gemüt mit Schauer erfüllend.
54 Vgl. Note 4.: Plinius, historia naturalis V,
17, XXXVI, 65: Tacitus, historiae 5, 7.
Der kühne Bergsteiger, der eine der höchsten Spitzen
dieses Gebirgsstockes erklimmt, genießt von da aus einen freien
Fernblick, wie er sonst dem Menschen nicht beschieden ist. Strecken
zweier Erdteile, Asien und Afrika, liegen vor ihm ausgedehnt, das
Mittelmeer mit seinen Buchten, und auch die Inseln, die schon zum
dritten Erdteil gehören, erblickt sein Auge. Rings herum laufen
strahlenförmig von diesem Hochgebirge Täler aus, die es für Menschen
bewohnbar machen. Auf den Höhen selbst sind Hochtäler ausgebreitet, die
Raum für Menschenmassen bieten und eine gartenähnliche Fruchtbarkeit
haben.
Auf eines dieser Hochtäler des Sinaï (55),
das sich nicht mehr ermitteln lässt, führte Mose die Israeliten im
dritten Monat nach dem Auszug aus Ägypten und wies ihnen Lagerplätze an.
Dann bereitete er sie auf eine überwältigende Erscheinung vor, die sich
ihrem Auge und Ohr öffnen werde. Weihen und Enthaltsamkeit sollten sie
würdig und empfänglich für erhabene Eindrücke und für einen großen Beruf
machen.
55 Bis 1854 war die Ansicht vorherrschend, dass
eine der zwei höchsten Kuppen des Gebirges, die von den Arabern G'ebel
Musa genannte oder die südlich davon gelegene G'ebel Katherin der Berg
des Gesetzes sei. Lepsius, welcher dies Gebirge besuchte, stellte
dagegen die Hypothese auf, dass der nicht weit von der Küste des roten
Meeres gelegene Berg Serbal der Sinaï oder Horeb sei. (Reise von Theben
nach der Halbinsel des Sinaï 1845. Vgl. Note 4.) Hitzigs Hypothese, dass
der Serbal ein uralter heiliger Berg gewesen sei, dem Schiwa geweiht,
auf dem die palästinensischen Philister Gottesdienst gehabt hätten, ist
Träumerei. - Die Inschriften, die man häufig in diesem Gebirge findet,
namentlich in dem davon genannten Wady Mukatteb und auf dem G'ebel
Mukatteb sind jüngeren Ursprungs. Über die von Cosmas Indicopleustes im
6. Jahrh. zuerst entdeckten sinaitischen Inschriften vgl. E. F. F. Beer,
Inscriptiones veteres litteris et lingua hucusque incognitis ad montem
Sinaï magno numero servatae 1840; Tuch, Ein und zwanzig Inschriften
Zeitschr. d.D. M. G. 1849, S. 129 f., M. A. Levy in derselben Zeitschr.
1860, S. 363 f. Blau, über die nabatäischen Inschriften das. 1862, S.
331 fg.
Mit gespannter Erwartung und bangen Herzens sahen sie dem dritten Tage
entgegen. Eine um die nächste Bergspitze gezogene Mauer hielt das Volk
ab, sich dem Berge zu nähern. Am Morgen des dritten Tages lagerte eine
dichte Wolke auf der Bergspitze, Blitze schossen und flammten und
verwandelten die Berge in eine Feuersglut, Donnerschläge erdröhnten,
wälzten sich von Bergwand zu Bergwand und weckten die Echos. Die ganze
Natur schien im Aufruhr und der Weltuntergang nahe. Bebend und im ganzen
Wesen erschüttert, sahen groß und klein dieses erhabene, furchtbare
Schauspiel. Aber so erhaben es auch war, so übertraf es doch nicht an
Hoheit die Worte, welche die Zitternden vernommen haben, zu denen der
Wolkenrauch des Sinaï, die Blitzesflammen und Donnerstimmen nur als
Einleitung dienten.
Unter dem mächtigen Eindruck des flammenden und bis in seine Tiefen
erschütterten Berges führte Mose das Volk aus dem Lager an den Fuß eines
Berges, er selbst bestieg ihn, und nun schlugen vernehmbare Worte an das
Ohr der Versammelten, die, so einfach in ihrem Gehalte und für jedermann
verständlich, die Grundlage der Menschengesittung bilden. Zehn Worte
erschallten von der Bergspitze, und das Volk war fest überzeugt, dass
sie ihm von Gott offenbart wurden. Der Gott, welchen Israel fortan
bekennen solle, sei der, den sie durch wunderbare Leitung selbst
erkannt, und dessen Macht auf die Menschengeschicke sie erlebt haben,
der sie aus Ägypten geführt, nicht ein Gott der Einbildungskraft, nicht
ein Abbild von Naturmächten, nicht eine Ausgeburt des Menschenwitzes.
Der unsichtbare Gott darf unter keinem Bilde vorgestellt werden.
Gegenüber der Bilderverehrung der Ägypter, an welche die Israeliten sich
gewöhnt hatten, wurde dieses Verbot nachdrucksvoll und deutlich
auseinandergesetzt. Überhaupt soll der Name des Gottes Israels (JHVH)
dem Eiteln und Nichtigen nicht beigelegt werden56.
Denn mit ihm verglichen ist alles, was sonst als Gottheit verehrt wird,
eitel und nichtig.
56 Der Sinn von 'lo tase et schem '' leschav' ist
dunkel. "Gott fluchen" bedeutet es gewiß nicht, weil jede Analogie
fehlt: "einen Meineid bei Gott schwören", bedeutet es ebensowenig, und
noch weniger die vulgäre Auffassung: vergeblich den Namen Gottes
aussprechen. Nasa mit el (ajin-lamed) konstruiert bedeutet: "auf jemand
hintragen, jemandem etwas beilegen".
Ps. 15, 3. ,
er legte nicht seinem Nächsten Schmach bei. Wie öfter wird auch hier die
Präposition ajin-lamed in lamed erleichtert. In diesem Sinne ist Ps. 24,
4. nach dem Keri aufzufassen: ,
der mein Wesen, meine Bedeutung, nicht dem Eiteln, den Götzen beilegt
(schav hat hier die Bedeutung wie Jeremia 18, 15 ), das Nichtige, die
Götzen als Gott anerkennen; nafschi steht für schmi. In diesem Sinne ist
wohl auch im Dekalog lo tse et shm '' zu nehmen. Die Ausführung des
Gedankens ist Exodus 23, 13: veschem elohim acherim lo taskiru.
Den Sabbat zu weihen, am siebenten Tage sich jeder Arbeit zu enthalten,
war wohl eine uralte Sitte; sie wurde auf dem Sinaï besonders
eingeschärft. Es war auch nicht unwichtig, der Barbarei jener Zeit
gegenüber zu verkünden, dass den Erzeugern des Lebens Ehre gebühre. Wie
viele Völker hatten nicht im Altertume die Sitte, die altgewordenen
Eltern zu töten, oder sie den wilden Tieren auszusetzen! Die Mutter
stand bei sämtlichen Völkerschaften des Altertums in Verachtung, und war
nach dem Tode des Vaters dem ältesten Sohne untertan. Auf dem Sinaï
erscholl die Stimme: Der Sohn, auch als Haupt der Familie, soll die
Mutter ebenso wie den Vater ehren. Das Menschenleben wurde im Altertume
überhaupt wenig geachtet, darum verkündete die Stimme vom Sinaï: "Du
sollst nicht morden". Als Erklärung dazu wurde anderweitig hinzugefügt,
der Mensch sei im Ebenbilde Gottes erschaffen, darum sei sein Leben
unverletzlich.
Die alte Welt kränkelte an dem allgemeinen Gebrechen der Unkeuschheit
und Unzucht, die Götter selbst wurden als unzüchtig dargestellt. Die
Völker merkten nicht, dass sie durch die Überreizung eines natürlichen
Gefühls Selbstschwächung und durch diese Selbstschwächung ihren
Untergang herbeizogen. Die Stimme vom Sinaï ertönte: "Du sollst nicht
unzüchtig sein"57.
57 nun-alef-fe wird im Hebräischen vorwaltend vom
Ehebruch gebraucht, doch wird es auch hin und wieder für Unzucht im
allgemeinen angewendet. Im Dekalog ist gewiß jede Unzucht mit
Blutsverwandten, auch Päderastie und Sodomiterei verstanden, da es sonst
deutlicher hätte bezeichnet werden müssen.
Auch das Eigentum sollte unverletzlich sein, und
Diebstahl wurde zum Verbrechen gestempelt, ebenso ein falsches Zeugnis.
Und nicht bloß die böse Tat, sondern auch die schlechte Gesinnung hat
die Stimme vom Sinaï verdammt: "Du sollst nicht gelüsten nach dem Weibe
und dem Eigentum eines andern"58.
58 Strauß selbst, so sehr er auch aus altprotestantischer Gewohnheit das
Judentum unterschätzt, kann nicht umhin, den Schluß des Dekalogs zu
bewundern (Der alte und neue Glaube, S. 234): "Ganz über das
Rechtsgebiet hinaus und ins Innere der Gesinnung hinein greifen die
beiden merkwürdigen Anhangsgebote, die das Gelüstenlassen nach dem Weibe
oder Gute des Nächsten untersagen." Strauß erkennt öfter die höhere
Ethik des Judentums an, die er weder im Christentum, noch in seinem
Schoßkinde, dem Ariertum, finden kann, so z.B. die höhere sittliche
Weihe der Ehe (S. 254); aber seine Voreingenommenheit läßt ihn nicht
dazu kommen, ihm volle Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.
Was bedeutet die damals mehr denn zweitausend Jahre zählende Geschichte
der Inder, Ägypter und anderer Völker mit ihrer Weisheit, ihren
Riesenbauten, den Pyramiden und Kolossen, neben diesem Augenblick am
Sinaï? Hier war für die Ewigkeit gesorgt. Hier der Grundstein für das
Reich der Sittlichkeit und Menschenwürde gelegt. Es war die
Geburtsstunde eines eigenartigen Volkes, wie es bis dahin keines
gegeben. Die einfachen und doch tiefen Wahrheiten von einem bildlosen
geistigen Gotte, einem Erlöser, der sich der Gedrückten und Geknechteten
annimmt, von der Pflicht der Hochachtung vor den Eltern, der Achtung des
Menschenlebens, der Keuschheit und des Eigentums, der Wahrhaftigkeit der
Menschen gegeneinander und der lauteren Gesinnung sind am Sinaï zuerst
und für alle Zeiten offenbart worden. Es ist dabei zugleich eine neue
Entdeckung in dem Innern des Menschen gemacht worden: die Entdeckung des
Gewissens.
Wohl hatten die Völker des Altertums bereits Gesetze
und haben später immer und immer neue dazu gehäuft. Aber es waren
Gesetze der Unterdrücker, die den Unterdrückten als Joch aufgelegt
wurden, Gesetze der Starken zu ihrem eigenen Nutzen, um die Masse der
Schwachen in Zaum und Knechtschaft zu erhalten. Am Sinaï sind zuerst
Gesetze der Gleichheit offenbart worden, und sie sind als Gärungsstoff
unter die Völker geworfen worden59.
59 Den Gegensatz der dekalogischen Lehre und der
heidnischen Anschauung von Gott hat Strabo in den kurzen Worten
auseinandergesetzt (Geographica XVI, 35.): "Mose lehrte, dass die
Ägypter nicht richtig denken, wenn sie die Gottheit dem Tiere und dem
Hausvieh gleich gestalten, auch nicht die Lybier, auch nicht viel besser
die Griechen, wenn sie dieselben menschenähnlich bilden. Denn nirgends
sei Gott, welcher das All umfaßt und die Erde und das Meer ... Wer, der
Verstand hat, darf sich erdreisten, ein irgend einem der Dinge gleiches
Abbild dieses Wesens zu erdichten? Man müsse vielmehr alles
Bildnismachen unterlassen ...und die Gottheit verehren ohne Bildnis." In
dieser objektiven Wiedergabe Strabos steckt stille Bewunderung. Strabo
gehörte noch der vorchristlichen Zeit an und bildete sich in
Alexandrien; der alexandrinisch-jüdische Einfluß auf ihn ist
unverkennbar.
Jeschurun
Der Bann der Klassen- und Kastenunterschiede war damit gebrochen. Es war
ein Ausbau und eine Erweiterung der Lehre, die Abraham verkündet worden
war. Als zitternde Sklaven sind die Israeliten an den Sinaï geführt
worden, als heiliges Gottesvolk, als Priestervolk, als Volk der
Geradheit (Jeschurun) kehrten sie in ihre Zelte zurück. Durch Betätigung
der empfangenen Zehnworte sollten sie Lehrer des Menschengeschlechts
werden, damit dieses durch sie gesegnet werde. Die Völker der Erde
hatten keine Ahnung davon, dass in einem Winkel der Erde ein Völkchen
ein schweres Lehramt für sie übernommen hatte.
Die Tatsache von der überwältigenden Erscheinung am Gebirgsstock des
Sinaï blieb in der Mitte der Israeliten unvergesslich und begeisterte
sie von Geschlecht zu Geschlecht zu hochgestimmten Liedern; es war ein
würdiger Stoff für die Poesie:
"Herr, als Du zogst vor deinem Volke,
Als du einschrittest in die Wüste,
Da erbebte die Erde,
Und die Himmel zerflossen,
Berge zerrannen vor dem Herrn,
Der Sinaï vor dem Gott Israels"60.
In einer andern Tonart feierte denselben Vorgang ein anderes Lied:
"Der Herr kam von Sinaï
Erglänzte vom Seïr seinem Volke. ...
Sie waren niedergeschmettert zu deinen Füßen,
Empfingen von deinen Worten
Die Lehre, die uns Mose befohlen,
Das Erbe für Jakobs Gemeinde61."
Ein anderer Sänger kämpfte mit der Sprache, um das Erhabene der
Erscheinung am Sinaï zur Anschauung zu bringen:
"Gott kam von Taiman,
Der Heilige vom Berge Paran,
Den Himmel bedeckte sein Glanz,
Und seines Ruhmes war voll die Erde.
Mondlicht war wie Tageshelle,
Zwei Steinsäulen in seiner Hand62.
...
Er stand und erschütterte die Erde,
Sah und sprengte die Völker,
Es barsten ewige Berge,
Es sanken uralte Höhen.
...
Es erzittern die Zelte des Landes Midian.
Zürnt der Herr den Bergen63?
Ist sein Zorn gegen die Flüsse,
Sein Unwille gegen das Meer?"
Ein Psalmensänger verherrlicht die Gesetzgebung am Sinaï und beschreibt
einen Teil der Zehnworte:
"Als (Gott) zog gegen das Land Ägypten,
Da hörte ich eine Sprache,
Die ich nicht kannte:
'Ich habe seine Schulter der Last entledigt,
Seine Hände dürfen von der Arbeit lassen.
In der Not riefest du,
Und ich erlöse dich,
Ich sprach mit dir in des Donners Dunkel.
So höre, mein Volk,
Ich will dich warnen.
Es soll in deiner Mitte kein fremder Gott sein,
Du sollst einen Gott der Fremde nicht anbeten.
Ich bin dein Gott,
Der dich aus Ägypten hinaufgeführt'64."
60 Richter, 5, 4-5. Psalm 68, 8-9.
61 Deuteronium 33, 2-4.
62 Habakuk 3, 3-8. in V. 4 ist dunkel. Die syrische Version gibt es
wieder durch ; das Wort bedeutet auch "Säule". Sie übersetzt also: mit
den Säulen seiner Hand. Im Arabischen bedeutet unter anderem auch eine
Steinsäule. Nimmt man dazu, dass auch im Hebräischen Fels bedeutet, so
kann im Dual dichterisch für , die beiden steinernen Tafeln oder Säulen,
gesetzt sein.
63 Statt des tautologischen muß das erste Mal dafür gelesen werden.
64 Psalm 81, 6-11.
Die Lehren, welche das Volk am Sinaï vernommen hatte, sollten aber nicht
mit der vorüberrauschenden Luftwelle wieder verfliegen. Darum sollten
sie in Stein eingegraben werden, um für alle Zeiten in Erinnerung zu
bleiben. Zu diesem Zwecke wurden die Zehnworte (Dekalog) in zwei
steinerne Tafeln oder Platten auf beiden Seiten eingegraben. Lange haben
sich die beiden Tafeln erhalten65.
65 I. Könige 8, 9. Davon bildete sich der Ausdruck
die Tafel des Herzens, Sprüche 3, 3. Auch in Jeremia 31, 32 muß es
gelautet haben .
Sie hießen "Tafeln der Warnung oder der Gesetze". Sie wurden später in
eine Art Lade gelegt, und diese Lade bildete den Mittelpunkt eines
Zeltes, welches der Sammelplatz wurde, so oft Mose die Ältesten der
Familie zusammenrief; sie galten als sichtbare Zeichen des Bündnisses,
welches Gott am Sinaï mit dem Volke geschlossen, dass dieses sein
Eigentum sei und keinen anderen Gott anerkennen möge, als den, von dem
die Lehre stammt. Daher wurden sowohl die Lade, wie die Tafeln näher
durch die Beifügung: Bundeslade und Bundestafeln bezeichnet66.
Wohl hatten sämtliche Völker ihre eigenen Heiligtümer, die sie über die
Maßen verehrten; aber ihren Mittelpunkt bildete stets ein Götterbild,
öfter ein sehr hässliches -, ein Fetisch oder ein Naturgegenstand, eine
Quelle oder ein Baum. Die Israeliten dagegen hatten ein Heiligtum ganz
anderer Art, eine Lehre, welche die Erhabenheit Gottes über alle Kreatur
und das Gesetz der Sittlichkeit verkündete.
Für diese hohen religiösen und sittlichen Wahrheiten, welche die
Grundzüge einer neuen sittlichen Ordnung und zugleich die Grundlage für
das israelitische Volkstum bildeten, wurde eine nähere Erläuterung
gegeben, oder sie wurden in bestimmte Gesetze gefasst, die im
Einzelleben oder in dem der Gesamtheit verwirklicht werden sollten. Die
Lehre, dass Gott die Israeliten aus Ägypten erlöst, wurde als Lehre der
Gleichheit aller in der Gemeinschaft erläutert. Es sollte unter ihnen
keinen Herrn und keinen Sklaven geben. Niemand durfte auf ewige Zeiten
sich zum Sklaven verkaufen oder dazu verkauft werden. Hatte jemand seine
Freiheit verwirkt, so sollte er nur sechs Jahre dienen und im siebenten
freigelassen werden. Verächter von Eltern und vorsätzliche Mörder
sollten mit dem Tode bestraft werden, und das Heiligtum sollte ihnen
keinen Schutz gewähren, falls sie sich dahin geflüchtet hätten. Selbst
der Mord an einem nichtisraelitischen Sklaven sollte geahndet werden,
und wenn ein solcher von seinem Herrn misshandelt wurde, so sollte er
dadurch seine Freiheit erlangen. Gesetze bestimmten den Schadenersatz
für verletztes Eigentum, selbst wenn die Beschädigung nicht beabsichtigt
war und nicht geradezu veranlasst wurde. Schändung der Jungfrauenehre
sollte dadurch verhütet werden, dass der Verführer die Verführte
ehelichen oder dem Vater ein Sühnegeld zahlen musste.
Ganz besonders zarte Rücksichten empfahl das Gesetz auf Witwen und
Waisen, dass sie nicht misshandelt werden sollten. Selbst Fremdlinge,
die sich den Stämmen anschließen wollten, sollten den Schutz der Gesetze
genießen. Die Israeliten sollten stets eingedenk sein, dass sie
Fremdlinge in Ägypten gewesen seien und gegen solche nicht die Härte
ausüben dürften, die gegen sie ausgeübt worden war. Eine Sammlung
solcher Gesetze, welche von Gerechtigkeit und Menschenliebe durchzogen
sind und von Opferwesen nur wenig enthalten, galt als uraltes
Gesetzbuch, von Mose niedergeschrieben. Es wurde das Bundesbuch (Sepher
ha-Berit)67 genannt, wie die
Bundestafeln, weil das Bündnis mit Gott nur auf der Bedingung beruhte,
dass die Gesetze betätigt werden sollten. Dieses Bundesbuch war
wahrscheinlich den Leviten anvertraut, dem Stamme, der schrift- und
lesekundig war.
66 Neben der Bezeichnung kommt auch die vor, auch
schlechtweg für die Tafeln. stammt vom Verbum im Hiphil, das auch
Warnen, Belehren bedeutet. Es erhielt aber noch eine andere Bedeutung,
weil das Volk sich zum Zelte der Tafeln versammelte, und dieses genannt
wurde. Dieses Zelt wurde daher auch und genannt, vom Verbalstamme .
67 Exodus 24, 7.
Die Aufgabe, die den Israeliten am Sinaï zufiel, war zu erhaben, zu
ideal und ihren bisherigen Lebensgewohnheiten und Anschauungen zu sehr
entgegen, als dass sie sofort Verständnis dafür hätten haben können. Ist
es doch noch heutigen Tages schwer für die gebildeten wie für die
ungebildeten Völker, sich einen unsichtbaren Gott, ohne alle und jede
sinnliche und menschliche, fassbare Gestalt vorzustellen!
Die Apisanbeter von Ägypten aus konnten um so weniger ihr Vertrauen auf
ein geistiges Wesen setzen. Höchstens sahen sie Mose als einen
verkörperten Gott an, wie die Ägypter ihre Könige und Priester als
sichtbare Götter zu verehren pflegten. Als daher Mose eine längere Zeit
sich aus ihrer Mitte entfernt hatte und diese auf dem Sinaï zubrachte,
fühlten sich die Stumpfsten unter den Israeliten vollständig
gottverlassen in einer Wüste, deren Ausgang ihnen unbekannt war.
Ungestüm verlangten sie eine sichtbare Göttergestalt, und Aharon, der in
Moses Abwesenheit als die erste Persönlichkeit galt, war schwach genug,
ihrem ungestümen Drängen nachzugeben und ein Stierbild anfertigen zu
lassen. Dieses Abbild des Apis oder Menis, das goldene Kalb, umtanzten
die Stumpfsinnigen als eine Gottheit. Es waren allerdings nur einige
Tausende, die Mose, als er vom Berge herniedergestiegen war, durch die
ihm anhänglichen Leviten mit dem Tode bestrafen ließ. Nur mit äußerster
Strenge konnte das Götzentum aus der Mitte der Israeliten vertilgt
werden.
Aber die Folgen dieses ersten Abfalls waren damit nicht aufgehoben. Um
ähnlichen Rückfällen des Volkes vorzubeugen und seiner Schwäche entgegen
zu kommen, wurde ihm eine Art Zugeständnis gemacht, dass es sich die
Gottheit, wenn auch nicht unter einem Bilde, doch unter etwas, das in
die Sinne fällt, vorstellen könne. Es hatte am Sinaï Blitzstrahlen mit
flammendem Feuer gesehen, und die Zehnworte aus einer flammenden Wolke
vernommen. Diese Vorstellung sollte von jetzt an ihm die Gottheit, die
sich am Berge geoffenbart hat, vergegenwärtigen. Ein tragbarer Altar
sollte stets brennendes Feuer enthalten, das niemals erlöschen sollte68.
Dieses Altarfeuer sollte auf den Zügen den Stämmen vorangetragen werden
und nicht die Gottheit selbst, sondern deren Offenbarung auf dem Sinaï,
vergegenwärtigen und versinnlichen. Die grobsinnliche Vorstellung wurde
dadurch gemildert.
Noch ein anderes Zugeständnis wurde dem niedrigen Sinne des Volkes
gemacht. Ursprünglich sollten gar keine Opfer gebracht werden
69. Im Gegensatz zu der Anschauung der
götzendienerischen Völker und der eingewurzelten Gewohnheit, dass die
Götter Opferfleisch brauchten, sollten die Israeliten sich mit dem
Gedanken vertraut machen, dass die erhabene Gottheit, deren Dienst sie
geweiht waren, der Opfer nicht bedürfe:
"Ich mag nicht aus deinem Hause Stiere,
Aus deinen Ställen Böcke nehmen.
Mir gehört alles Tier des Waldes,
Ich kenne alle Vögel der Berge.
Wenn ich hungerte, sagte ichs Dir nicht,
Mir gehört der Erdkreis und seine Fülle.
Sollte ich etwa das Fleisch der Rinder verzehren,
Oder das Blut der Böcke trinken70?"
...
"Opfer und Gaben verlangst Du nicht,
Feuer- und Sündopfer hast Du nicht gefordert71."
...
"Denn Hingebung verlange ich und nicht Opfer,
Und Gotterkennen ist vorzüglicher, denn Ganzopfer72."
...
"Der Libanon hätte nicht genug Wild,
Und sein Getier reichte nicht zu Opfern hin73."
68 Leviticus 6, 6. Die Erinnerung an das Feuer des
Sinaï ist angedeutet Numeri 28, 6.
69 Vgl. Jeremia 7, 22-23; Amos 5, 25.
70 Psalm 50, 9-13.
71 Das. 40, 7, vgl. 51, 18.
72 Hosea 6, 6; vgl. 8, 13.
73 Jesaja 40, 16.
Die Religion des Geistes, welche am Sinaï verkündet worden, sollte
keinerlei Opfermittel als Ausdruck der Gottesverehrung haben, sondern
lediglich sittliches, heiliges Leben betätigen helfen. Aber auf dieser
Höhe stand das Volk nicht, es sollte erst dazu erhoben und erzogen
werden. Da die Völker des Altertums nur das Opfer als Gnadenmittel
kannten, so sollte auch Israel diese Form des Gottesdienstes
beibehalten. Sie wurden aber vereinfacht. Zu einem Altar gehörte ein
Heiligtum. Dieses durfte kein Bildnis haben, sondern lediglich einen
Leuchter und einen Tisch mit zwölf Broden, symbolisch für die zwölf
Stämme, einen Altar, und eine Stätte für die Bundeslade (das
Allerheiligste).
Zum Altar, Heiligtum und Opferwesen gehörte eine Priesterschaft. Auch
dieser überkommene Brauch wurde beibehalten. Er wurde selbstverständlich
dem Stamme Levi, als dem treuesten und gebildetsten, übertragen, der
schon in Ägypten priesterlichen Dienst verrichtete. Nur sollten die
Priester nicht wie die ägyptischen durch Besitz zur Selbstsucht und
Entartung geführt werden und die Gottesverehrung zu ihrem Vorteil
ausbeuten. Die israelitischen Priester oder die Leviten sollten
keinerlei Landbesitz haben, sondern lediglich von den Spenden leben,
welche die Laien ihnen nach Vorschrift verabreichen würden. Es war aber
althergebrachte Sitte, die sich noch aus der Patriarchenzeit erhalten
hatte, dass die Erstgeborenen der Familie Opfer darbrachten. Dieses
Familienpriestertum konnte nicht mit einem Male abgeschafft werden; es
erhielt sich neben dem levitischen Priestertum. Solchergestalt kam in
die reine Lehre der sinaitischen Offenbarung ein Element hinein, welches
nicht damit im Einklang stand, sie vielmehr durchkreuzte. Der auf das
Sinnliche gerichtete Geist des Volkes machte solche Zugeständnisse
erforderlich als Übergangsstufen zu einer besseren Erkenntnis. Die
Erkenntnis aber, dass das Opferwesen nur eine untergeordnete Bedeutung
haben sollte, blieb dem besseren Teil des Volkes stets in mehr oder
minder klarem Bewusstsein.
Fast ein Jahr brachten die Israeliten am Sinaï zu,
eine folgenreiche Zeit. Im Frühjahr des zweiten Jahres nach dem Auszug
aus Ägypten zogen sie dem Lande ihrer Verheißung entgegen.
Aus
Heinrich Graetz:
Geschichte der Juden
Erster Zeitraum: 1. Kapitel. Die Vorgeschichte
Heinrich (Hirsch) Graetz:
Geschichte der Juden
von den
ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart
Mit
einem Vorwort von Reuven Michael
Sonderausgabe. Reprint der Ausgabe letzter Hand,
11 Bände in 13 Teilen, 6.744 S., Pb., Früher 750,-, heute 49,90 Euro,
ISBN 3-7605-8673-2
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