[Chag
haSchawu'oth - Wochenfest]
Aber G'tt dachte an Israel:
Moscheh und der prophetische Geist
Heinrich Graetz
Die Israeliten wären in grobsinnlichem
Götzendienste und in ägyptischer Lasterhaftigkeit untergegangen wie
viele andere Völkerschaften, die mit dem Lande Cham in Berührung
gekommen waren, wenn nicht zwei Brüder und ihre Schwester von einem
höhern Geiste erweckt und getrieben, sie aus der Stumpfheit und
Versumpfung gezogen hätten. Es waren Mose, Aharon und Mirjam.
(29)
Worin bestand die Größe dieses geschwisterlichen
Dreigestirns, welche geistigen Mächte haben in ihnen gewaltet, um ein
Erlösungswerk anzubahnen, das nicht bloß für ihr Volk und nicht bloß für
ihre Zeit befreiend und erhebend wirkte? Von welcher Art war ihre
Persönlichkeit und ihr Lebensgang, und wodurch sind sie zu einer so
erhabenen Sendschaft berufen worden? Die geschichtlichen Erinnerungen
haben von Moschèh (Mose) nur wenig, von seinem Bruder und seiner
Schwester fast gar keine persönlichen Züge erhalten, durch die wir nach
menschlicher Erkenntnis begreifen könnten, auf welche Weise sich ihre
stufenmäßige Erhebung von der Dämmerung des Kindesalters bis zur
durchdringenden Geistesklarheit der Vorschau gesteigert hat, und wodurch
sie einer so hohen Aufgabe würdig wurden.
29 Micha 6, 4 wird Mirjam neben Mose und Aharon
genannt, welche Gott dem Volke gesendet hat, es aus Ägypten zu befreien.
Die israelitischen Jahrbücher, von der Vorstellung beherrscht, dass alle
Kreatur, auch der erhabenste Mensch, gegenüber dem großen
weltbeherrschenden Wesen, Staub und Asche ist, vermeiden geflissentlich
jede von Bewunderung eingegebene Schilderung wirkungsreicher
Persönlichkeiten, weil sie leicht zur Menschenvergötterung und zu eben
solchen Verirrungen führt wie das plumpe Götzentum. Von Mose, dem
größten Propheten, dem Gottesmanne, dem Bildner und Erzieher eines
Volkes, das abwechselnd in Hoheit und Niedrigkeit Jahrtausende
überdauern, den Untergang ganzer Völker sehen und selbst aufrecht und
lebenskräftig fortbestehen sollte, von Mose hat die Erinnerung nur
verblasste Züge und selbst diese nur zufällig erhalten; aber dadurch
sind sie um so sicherer beglaubigt.
Die prophetischen Geschwister gehörten dem Stamme an, der vermöge
seiner, die übrigen überragenden Kenntnisse als Priesterstamm galt.
Amram, der Vater, und Jochebed, die Mutter, waren beide aus dem Stamme
Levi, aus der Familie Kehat. Ohne Zweifel hat dieser Stamm oder
wenigstens diese Familie treuer die Erinnerung an die Erzväter und an
die Erblehre von dem Gotte der Väter bewahrt und sich von dem
ägyptischen Götzentum und den ägyptischen Gräueln fern gehalten30.
Aharon, der ältere Bruder, Mose und Mirjam, sind also in einer sittlich
und religiös reineren Luft geboren und aufgewachsen. Von Mose erzählt
die geschichtliche Urkunde, die Mutter habe den Neugeborenen drei Monate
geheim gehalten, ehe sie ihn, laut Befehl des Königs, dem Tode in den
Fluten des Nil ausgesetzt, habe ihn dann aber aus Furcht vor den
Schergen des Königs in einen Kasten gelegt und diesen im Schilf
verborgen. Dort habe ihn eine Königstochter beim Baden gefunden, und
sich, weil er schön war, seiner erbarmt und ihn wie ihr eigenes Kind31
erzogen.
30 Vgl. I. Samuel 2, 27.
31 Man führt den Namen Mose auf das ägyptische Wort mes, mesu, zurück,
welches Kind bedeuten soll, Gesenius Thesaurus s.v., Lepsius Chronol. 3,
26, Brugsch a.a.O. S. 157. Der Name ist jedenfalls ägyptisch und ebenso
der Name Pinechas, ägypt. Pa-nechesi (Brugsch a.a.O. S. 173) und
wahrscheinlich auch der Name Aharon. Es ist in letzter Zeit viel über
Mose und sein Vorkommen in ägyptischen Inschriften geschrieben worden;
vergl. Zeitschrift d. dtsch. morgenl. Ges., Ig. 1869, S. 30 f., Ig.
1871, S. 139, Lauth, Moses-Osarsyph. Es sind lauter vage Vermutungen,
die kein historisches Material geben; noch dazu basieren sie auf
Manethos sagenhaften Angaben. [Vgl. jetzt Jeremias, das A. T. im Lichte
des alten Orients (Lpzg. 1904), S. 253.]
Es ist wohl kein Zweifel, dass der junge Mose den pharaonischen Hof in
Memphis oder Tanis (Zoan) gekannt hat. Geweckten Geistes, wie er
jedenfalls war, erlernte er wohl die Kenntnisse, die in Ägypten heimisch
waren. Vermöge seiner körperlichen Anmut und geistigen Begabung konnte
er die Herzen gewinnen. Mehr aber noch als körperliche und geistige
Vorzüge zierten ihn Sanftmut und Bescheidenheit. "Mose war der
sanftmütigste Mensch, mehr als irgend einer auf dem Erdboden", das ist
das einzige Lob, welches die geschichtlichen Nachrichten ihm spenden.
Nicht Heldentum und kriegerische Großtaten rühmen sie an ihm, sondern
seine Selbstlosigkeit und Opferfreudigkeit. Vermöge der überkommenen
Lehre von dem Gotte Abrahams, der die Gerechtigkeit liebe, musste ihm
das wüste Götzentum des Tierdienstes, das er vor Augen hatte als ein
Gräuel erscheinen, und die gesellschaftlichen und sittlichen Gebrechen,
die dadurch wucherten, ihn anwidern. Die schamlose Unzucht, die
Knechtung eines ganzen Volkes durch König und Priester, die Ungleichheit
der Stände, die Herabwürdigung des Menschen zum Tiere oder noch unter
das Tier, den Knechtsinn - alles das erkannte er in seiner ganzen
Verderblichkeit. Und an diesem Schmutze hatten seine Stammesgenossen
sich bereits besudelt.
Für sie hatte er vom Anbeginn an ein tiefes Mitgefühl, nicht weil sie
seine Stammesgenossen waren, sondern weil sie erniedrigt und verachtet
waren, und weil der Hochmut der Mächtigen sie ungestraft misshandeln
durfte. Mose war ein Todfeind jeder Ungerechtigkeit. Es schnitt ihm ins
Herz, dass die Söhne Israels zur Knechtschaft verurteilt und täglich den
Mißhandlungen der niedrigsten Ägypter ausgesetzt waren. Als er einst
einen solchen Ägypter ungerechterweise einen Hebräer schlagen sah,
übermannte ihn der Eifer, und er züchtigte den Frevler. Aus Furcht vor
Entdeckung floh er aus Ägypten nach der Wüste, die sich nördlich und
östlich vom roten Meere weithin ausdehnt.
In einer Oase, wo ein Zweigstamm der Midianiten, die
Keniten, wohnte, in der Gegend des Gebirges Sinaï machte er Halt. Auch
hier, wie in Ägypten, stieß er auf Unrecht und Gewalttat, und auch hier
trat er mit Eifer entgegen und leistete den Schwachen seinen Beistand.
Hirtenmädchen, die von rohen Hirten gewalttätig von der Trinkquelle für
ihre Herden verjagt worden waren, sprang Mose bei und rettete sie vor
fernerer Misshandlung. Dadurch kam er in Verbindung mit dem dankbaren
Vater der Hirtenmädchen, dem Stammältesten oder Priester der Midianiten,
und heiratete dessen Tochter Zippora. Seine Beschäftigung im Lande
Midian war das Hirtenleben; er suchte für die Herden seines
Schwiegervaters Rëuel fruchtbare Strecken auf der Westseite32
der Wüste Sinaï auf, zwischen dem roten Meere und dem Hochgebirge. Hier
in der Abgeschiedenheit und Einsamkeit kam der prophetische Geist über
ihn.
Was bedeutet der prophetische Geist? Bis jetzt haben selbst diejenigen,
welche tiefer in die Geheimnisse des großen Weltalls und des, zwar
kleinen, aber das Große umfassenden Alls der Seele eingedrungen sind,
nur eine Ahnung davon, aber keine deutliche Kunde. Das Seelenleben des
Menschen enthält Dunkelheiten, die selbst für den scharfsichtigsten
Forscherblick unzugänglich bleiben. Aber abzuleugnen ist es nicht, dass
der menschliche Geist auch ohne Hilfe seiner Sinnesorgane einen
Fernblick in die rätselhafte Verkettung der Dinge und in das Gesamtspiel
der Kräfte werfen kann. Vermittelst einer noch unerschlossenen
Seelenkraft entdecken die Menschen Wahrheiten, die nicht im Bereiche der
Sinne liegen.
Die Sinnesorgane vermögen nur die gefundenen Wahrheiten zu bestätigen,
allenfalls zu berichtigen, aber nicht zu entdecken. Vermöge der, durch
die rätselhafte Seelenkraft entdeckten Wahrheiten, die sich im Laufe der
Jahrtausende vermehren, lernten die Menschen die Natur erkennen,
beherrschen und deren Kräfte sich untertänig machen. Was der einsame
Forscher durch einen ihm allein aufflammenden Lichtblick entdeckt, wird
Gemeingut des ganzen Geschlechtes und eine alltägliche Wahrheit. Diese
Tatsachen bestätigen, dass das Seelenvermögen noch Eigenschaften
besitzt, welche über die Sinneswahrnehmungen und die geschärfte
Urteilskraft hinausgehen, welche die Schleier der dunklen Zukunft zu
lüften, höhere Wahrheiten für das sittliche Verhalten der Menschen zu
entdecken und selbst etwas von dem geheimnisvollen Wesen, welches das
Weltall und das Spiel der Kräfte gefügt hat und erhält, zu erschauen
vermögen. Allerdings, eine dem Alltagstreiben und der Selbstsucht
ergebene Seele vermag das wohl nicht.
Sollte aber eine von der Selbstsucht unberührte, von den Lüsten und
Leidenschaften ungetrübte, von den Schlacken des Alltagslebens und der
Gemeinheit unbefleckte Seele, die sich lediglich in die Gottheit und die
Sehnsucht nach sittlicher Veredelung vertieft und ganz darin aufgeht,
nicht eine Offenbarung religiöser und sittlicher Wahrheiten erschauen
können?
Im Verlauf der israelitischen Geschichte, Jahrhunderte hintereinander,
traten fleckenlose Männer auf, welche unbezweifelt einen Fernblick in
die Zukunft taten und Offenbarungen über Gott und die Lebensheiligkeit
erschaut und mitgeteilt haben. Das ist eine geschichtliche Tatsache, die
jede Prüfung aushält. Eine Reihe von Propheten hat die zukünftigen
Geschicke des israelitischen Volkes und die anderer Völker geweissagt,
und ihre Verkündigung hat sich durch Erfüllung bewährt33.
32 Exodus 3, 3. bedeutet achar hamidbar westlich,
im Gegensatz zu kedem östlich, wie oft kedem dem achar entgegengesetzt
ist.
33 S. Note 2.
Sie haben sämtlich den ersten in der Reihe, welcher einer Offenbarung
gewürdigt wurde, den Sohn Amrams, weit über sich gestellt und anerkannt,
dass seine Verkündigungen klarer, selbstbewusster und selbstgewisser als
die ihrigen gewesen seien. Sie haben Mose nicht bloß als den ersten,
sondern auch als den größten Propheten anerkannt. Ihren prophetischen
Geist betrachteten sie lediglich als Ausstrahlung von seinem Geiste.
Wenn je die Seele eines Sterblichen mit dem lichten Blicke prophetischer
Vorschau begabt war, so war es die lautere, selbstlose und hehre Moses.
Freilich die Art und Weise, wie ein Prophet gewisse Wahrheiten und
Lehren oder die Zukunft erschaut, ist eben so geheimnisvoll wie die
Seelenkraft selbst, die als Organ dazu dient. Es macht die Sache nicht
deutlicher, wenn gesagt wird, dass die Offenbarung an den Propheten in
einem außergewöhnlichen Gesichte oder im Weben des Traumes herantritt,
oder zu ihm in einer Rätselsprache und in Bildern spricht34.
Nur die Wirkung der auf sie eindringenden Offenbarung haben die
Propheten geschildert. Sie fühlten sich von einer unsichtbaren Macht
ergriffen, empfanden ein Schmerzgefühl, es brannte in ihrem Innern wie
glühendes Feuer und hämmerte wie mit einem Hammer, welcher Felsen
zerschmettern soll35.
Ein unbekanntes Etwas drängte sie zu schauen und zu sprechen, legte
ihnen das Wort auf die Zunge, versetzte sie in Angst und flößte ihnen
zugleich Gefahr trotzenden Mut ein36.
Sie hatten das volle Bewusstsein, dass das, was sie sprechen sollten,
nicht aus ihrem eigenen Gedankenborn fließe, sondern von einem Anderen,
Höheren, dem Gotteshauche oder Gottesgeiste, eingegeben sei37.
34 Numeri 12, 6-8.
35 Jeremia 23, 25-29.
36 Das. 20, 7-9.
37 Numeri 16, 28; Ezechiel 13, 2 f.
Die Offenbarung, die sie zu verkünden hatten, kam ihnen selbst fremd
vor, das Wort, das ihnen über die Lippen strömte, fühlten sie als eine
Eingebung, "es sprach in ihnen", machte den Schüchternen beherzt, den
Jüngling altersreif, den Stotternden beredt. Fleckenlosigkeit des
Wandels, Selbstlosigkeit der Gesinnung und Gottdurchdrungenheit waren
die Vorbedingungen für den Prophetenberuf, völlige Hingebung und
Feuereifer für die Sache, die sie vertraten, die hervorstechenden Züge
der Tätigkeit der Propheten. Die Gnadengabe des prophetischen Geistes,
die über gemeinen Betrug der Vorspiegelung und Selbsttäuschung erhaben
ist, ist tatsächlich in einer langen Reihe außerordentlicher
Persönlichkeiten vorgekommen. Die menschliche Sprache, die noch zu arm
ist, diese Höhe des Menschengeistes auch nur annähernd begreiflich zu
machen, muss sich mit Bezeichnungen behelfen, die zu Missverständnissen
Anlass geben und doch den Begriff nicht klar machen können. Sie konnte
sich nur notbehilflich so ausdrücken: "Von Angesicht zu Angesicht
schaute Mose Gott." Um den Unterschied zwischen seiner prophetischen
Weise und der seiner Nachfolger zu charakterisieren, musste sich die
Schilderung einer mehr verneinenden Ausdrucksweise bedienen: Während die
übrigen Propheten nur im Traume und in dunkeln Gesichten die Kunde von
Gott erhielten, kam diese Mose von Mund zu Mund zu in einer "deutlichen
Erscheinung, und nicht in Rätseln". Die geistige und sittliche
Vorbedingung zum Prophetenberufe waren auch bei keinem späteren
Propheten in so vollkommenem Einklang vorhanden, wie beim Sohne Amrams,
seine Schaukraft so tief durchdringend, dass ihm das Wesen der Dinge und
der verschlungene Zusammenhang, den sie mit Gott haben, nicht verborgen
blieb. Die prophetische Begabung hatte wohl höhere und niedere Grade,
und auch Mose besaß sie nicht von Anfang an in ihrer ganzen Fülle; sie
musste auch bei ihm geschärft und ausgebildet werden.
Moscheh am Horeb
In der Wüste Sinaï, erzählt die Quelle, am Fuße des Horeb, wo er die
Herden seines Schwiegervaters weidete, wurde er zuerst einer geistigen
Schau gewürdigt, die sein ganzes Wesen erschütterte. Er sah einen
brennenden Dornstrauch, welcher dem Feuer widerstand, und hörte eine
Stimme aus ihm, welche ihm eine neue Offenbarung über das Wesen Gottes
verkündete und ihm zugleich einen Auftrag erteilte. Das von den
Erzvätern verehrte göttliche Wesen wurde von ihnen und ihren Nachkommen
mit einem Worte bezeichnet, das die sprachverwandten Völker auch ihren
Göttern beilegten, mit dem Worte El oder Elohim oder Schaddaï (Macht,
Mächte, Spender).
Infolge dieser Namensgleichheit verwechselten die geknechteten
Israeliten in Ägypten den Gott ihrer Erblehre mit den Ungöttern ihrer
Peiniger. Den tiefen Abstand zwischen dem wahren Gott und den Götzen
konnten sie nicht ermessen. Mose ward aber zuerst die Kunde von einem
andern Namen des Gottes Israels, der ihn von diesen scharf unterscheiden
und dessen eigenstes Wesen offenbaren sollte. Gott sollte fortan von den
Israeliten mit dem Namen Ihwh (Jhvh) benannt werden, der das Leben und
Sein bezeichnet. Mit diesem Namen sollten sie ihn in der Zukunft anrufen
und bei diesem schwören38.
38 Exodus 3, 14-15.
bedeutet eigentlich, dass Gott nur mit diesem Namen angerufen werden
will, und dass nur bei diesem geschworen werden soll:
oder
bedeutet schwören beim Namen.
Was Ebers behauptet, dass in den theologischen Schriften der Ägypter
etwas Ähnliches vorkäme, nämlich die Bezeichnung von Gott: Anuk pu Anuk,
"ich bin, der ich bin" (a.a.O. S. 528, Note 65), der Gott, der zugleich
sein eigener Vater und Sohn, der das Heute, das Gestern und Morgen ist,
sticht so sehr gegen die mythologischen Absurditäten der Ägypter ab,
dass es unglaublich klingt. Es kommt auch darauf an, aus welcher Zeit
diese und ähnliche metaphysisch llingende Phrasen stammen, ob sie nicht
den Juden oder Hellenen entlehnt sind, selbst zugegeben, dass die
Ägyptologen die Hieroglyphen richtig entziffert haben, was nicht immer
vorauszusetzen ist. - Was den Monotheismus des Judentums betrifft, so
wird selbst von ernsten Forschern gegenwärtig damit ein doppeltes Spiel
getrieben. Entweder er wird als etwas Niedriges, die Kultur Hemmendes
bezeichnet, der nur aus dem beschränkten Gesichtskreise der Semiten oder
Juden entstehen konnte, als "Religion einer Horde", oder als Produkt
eines der Phantasie oder der Poesie baren Volksstammes, das den Reichtum
der Mythologie nicht kannte, oder er wird als ein Plagiat von höher
zivilisierten Völkern ausgegeben. Eines schließt das Andere aus, und
doch werden beide Behauptungen mit vielem Aplomb und großer Zuversicht
nebeneinander gesetzt. Es steckt Mißgunst und Rassenantipathie dahinter
und ist Männern der Wissenschaft unwürdig. Suum cuique. Wenn etwas gewiß
ist, so ist es die Tatsache, dass das Judentum den Monotheismus mit
seinen Konsequenzen eingeführt hat. Falsch ist auch die Schlußfolgerung,
dass, weil die Israeliten lange Polytheisten waren, der monotheistische
Gottesbegriff erst einen Läuterungsprozeß durchgemacht habe, bis ihn
erst die Propheten rein gefaßt hätten. Denn der Polytheismus herrschte
offiziell auch noch nach dem Auftreten der großen Propheten bis zur Zeit
des babylonischen Exils und noch darüber hinaus. Die Wahrheit ist, dass
der lautere Monotheismus nur von einem besonderen Kreise gekannt und
bekannt wurde, während der Geist des Volkes entweder ganz polytheistisch
oder eklektisch im Dunkel darüber war. Zum strengen Monotheismus gehört
der Gottesname Ihwh. Auch darüber sind entgegengesetzte Behauptungen
aufgestellt worden, die eine, dass dieser Name, als der höhere, erst
später von den Israeliten erkannt worden (daher die Hypothese, dass die
jehovistischen Partien im Pentateuch und anderen biblischen Schriften
jünger seien) und die andere, dass er aus der semitischen Mythologie
entlehnt sei und dem Iao oder abros Iao, dem Dionysos (Yas, Eyas, Eyios,
Inios) und auch dem Saturn (Typhon) entspreche. Dergleichen
mythologische Etymologien und Analogien sollten doch nicht mehr ernst
aufgestellt werden. Für das höhere Alter und den israelitischen Ursprung
des Namens Ihwh spricht entschieden das alte Debora-Lied. Die
Jehovisten- und Elohistenhypothese, worin die Anhänger selbst weit
auseinander gehen, sollte endlich aus der biblischen Kritik und Isagogik
schwinden, da sich damit doch keine Gewißheit erzielen läßt. [Vgl.
hierzu Barth, Babel und israelitisches Religionswesen (Berlin 1902) S.
15 ff. und die erschöpfenden Ausführungen James Robertsons, die alte
Religion Israels vor dem 8. Jahrhundert. Dtsche. Übers. von v. Orelli
(Stuttgart 1905) S. 190 ff.]
Die Stimme aus dem Dornstrauch verkündete Mose ferner, dass er berufen
sei, die geknechteten Stämme Israels aus dem Sklavenhause zu befreien
und sie in das Land der Verheißung zu führen, und endlich, dass das
befreite Volk in dieser Wüste, auf diesem Berge Lehre und Gesetz von dem
Gotte seiner Väter unter dem Namen Ihwh empfangen sollte.
Noch nicht an eine so außerordentliche Erscheinung gewöhnt, verhüllte
Mose sein Angesicht und hörte in demutsvoller Scheu die bald
zutraulichen und bald zürnenden Worte an. Gegen die Übernahme der
schwierigen und gefahrvollen Aufgabe, die Befreiung der Geknechteten zu
erwirken, sträubte sich seine demutsvolle Selbsterkenntnis. "Wer bin
ich, dass ich vor Pharao hintreten und Israel befreien soll?" Seine
geringe Sprachgewandtheit erschien ihm ein Hindernis für die Aufgabe an
einem Hofe, für den Sprachglätte und Beredsamkeit erforderlich wären.
Indessen beruhigte ihn die Stimme aus dem Dornbusch über seine
Bedenklichkeiten und verkündete ihm, dass der ägyptische König, wenn
auch lange widerstrebend, durch harte Züchtigung und Plagen zuletzt
dahin gebracht werden würde, die Israeliten freiwillig aus der
Knechtschaft zu entlassen. Erschüttert und gehoben, demutsvoll und
zuversichtlich, kehrte Mose nach diesem Gesichte zu seiner Herde und an
seinen Herd zurück. Er war ein anderer geworden; er fühlte sich von
Gottes Geiste getrieben.
Auch dem Aharon, welcher in Ägypten geblieben war, gebot eine
Offenbarung, sich zu seinem Bruder zum Berge Horeb zu begeben und, mit
ihm vereint, sich für das Werk der Befreiung vorzubereiten. Schwieriger
noch als den Sinn Pharaos zur Milde zu stimmen, schien ihnen die
Aufgabe, den Knechtssinn des Volkes für die eigene Befreiung empfänglich
zu machen. Beide Brüder machten sich daher auf Hindernisse und
hartnäckigen Widerstand gefasst.
Obwohl beide schon an Jahren vorgerückt waren, schreckten sie doch nicht
vor der Größe des Unternehmens zurück; sie bewaffneten sich mit
prophetischem Mute und vertrauten auf den Beistand des Gottes ihrer
Väter. Zuerst wandten sie sich an die Vertreter der Familien und Stämme,
an die Ältesten des Volkes, und eröffneten ihnen, dass ihnen die Kunde
zugekommen sei, dass Gott sich des Elends der Israeliten erbarme, ihre
Befreiung verheißen habe und sie ins Land der Väter zurückführen wolle.
Diese Ältesten liehen der frohen Kunde ein offenes Ohr und machten wohl
Versuche, die Stammesglieder mit dem Gedanken der Erlösung vertraut zu
machen. Aber der an die Sklaverei bereits gewöhnte Tross hörte die Worte
mit stumpfem Sinne an. Die schwere Arbeit hatte ihn feige und ungläubig
gemacht. Nicht einmal von der Verehrung der ägyptischen Tiergötzen
mochten sie lassen39. An
dieser Stumpfheit scheiterte jede Beredsamkeit. "Besser ist es für uns,
den Ägyptern als Leibeigene untertänig zu sein, als in der Wüste zu
sterben"40, war die
scheinbar kluge Antwort des Volkes.
39 Ezechiel 20, 7-8.
40 Exodus 14, 12.
Unentmutigt traten die beiden Brüder vor den ägyptischen König und
verlangten im Namen des Gottes, der sie gesendet, die Entlassung ihrer
Stammesgenossen aus dem Sklavendienste, da sie freiwillig ins Land
gekommen wären und ihr unverjährbares Recht auf Freiheit behalten
hätten. Wenn die Israeliten anfangs ungern aus dem Land ziehen mochten,
um nicht einer ungewissen Zukunft entgegen zu gehen, so wollte sie
Pharao noch weniger ziehen lassen. Einige hunderttausend Sklaven mehr,
welche für ihn Felder und Bauten bestellten, frei zu geben im Namen
eines Gottes, den er nicht kannte, und eines Rechtes, das er nicht
achtete, schon dieses Ansinnen betrachtete er als Frechheit. Er ließ
fortan die Arbeit der israelitischen Leibeigenen verdoppeln, damit sie
auch nicht in müßigem Spiele den Freiheitsgedanken nachhängen könnten.
Statt freudigen Entgegenkommens sahen sich Mose und Aharon von den
Israeliten mit Vorwürfen überhäuft, dass durch ihre Schuld das Elend
sich für die Unglücklichen nur noch steigerte. Wenn die beiden
prophetischen Sendboten sich je der Hoffnung überlassen hatten, dass die
Befreiung leicht vonstatten gehen würde, so hätte sie die Enttäuschung
von jedem weiteren Schritte zurückschrecken müssen. Alle Beredsamkeit,
die Aharon aufbot, welcher der Sprecher vor Pharao und wohl auch vor dem
Volke war, scheiterte an dessen Halsstarrigkeit.
Erst als das Land und der König selbst von einer Reihe außergewöhnlicher
Erscheinungen und Plagen heimgesucht worden war, und dieser sich des
Gedankens nicht erwehren konnte, dass der ihm unbekannte Gott sie über
ihn wegen seiner Hartnäckigkeit verhängt habe, entschloss er sich zur
Nachgiebigkeit. Ein späterer Sänger schilderte diese Plagen, welche
Ägypten trafen, in lebhafter Kürze:
"Er verwandelte in Blut ihre Flüsse,
Und ihr Wasser konnten sie nicht trinken,
Er sandte Wild gegen sie, das sie anfiel,
Und Wasserungetüme, die sie aufrieben.
Er gab ihren Ertrag dem Nager,
ihren Erwerb den Heuschrecken hin,
Vernichtete ihre Weinstöcke durch Hagel,
Ihre Sykomoren durch Kristalleis,
Überlieferte dem Blitze ihr Rind
und ihre Herden den Pfeilen;
Sandte gegen sie seine Zornesgluten,
Die Entfesselung schädlicher Boten,
Bahnte seinem Grimme einen Weg,
Entzog dem Tod nicht ihre Seele,
Ihr Leben überlieferte er der Pest,
Tötete jeden Erstgeborenen in Ägypten,
Die Erstlinge ihrer Manneskraft im Lande Cham41."
41 Ps. 78, 44 ff.
Infolge gehäufter Schläge drängte der ägyptische König die Israeliten
zum Abzuge mit einer Eile, als fürchtete er, jede Zögerung könnte ihm
und seinem Lande den Untergang bringen. Kaum blieb den Israeliten Zeit,
sich mit Mundvorrat für die weite und beschwerliche Reise zu versehen.
Es war eine denkwürdige Stunde, die Morgenstunde des fünfzehnten Nissan
(März), an dem ein geknechtetes Volk ohne blutige Tat seine Freiheit
erlangt hat42.
42 Es wird noch allen Ernstes von besonnenen
Forschern behauptet, dass die Israeliten wegen eines häßlichen Aussatzes
von dem König Amenophis aus Ägypten verwiesen, zuerst in den
Steinbrüchen geplagt, zuletzt nach Syrien verdrängt wurden. Diese Fabel
stammt zumeist von Manetho. Seine Dynastienfolge mag richtig sein, seine
Relation von den Hirtenvölkern oder Hyksos, welche Ägypten viele hundert
Jahre unterjocht hätten, ist schon zweifelhaft, mag er darunter die
Israeliten oder andere semitische Völker verstanden haben; aber
entschieden ersonnen ist seine Erzählung von der Ausweisung der
aussätzigen Juden. Schon der eine Umstand, dass er sowohl die Hyksos als
die Aussätzigen aus Ägypten nach Hierosolyma (Jerusalem) ziehen läßt
(Josephus contra Apionem I, 14. 26) stempelt die Relation zur Fabel, da
Jerusalem damals noch nicht existierte, oder als Burg Jebus den
Jebusitern gehörte. Der national- ägyptische Priester Manetho wollte
entschieden damit die Juden, welche zu seiner Zeit am Hofe der Ptolemäer
eine Rolle zu spielen anfingen, durch die Erinnerung an ihren Aussatz,
ihre feindliche Haltung gegen Ägypten und ihre endliche Austreibung
verächtlich und verhaßt machen, was Josephus richtig herausgelesen hat.
Die Ägypter, in ihrer Nationalität gekränkt, rächten sich an den Fremden
durch lügenhafte Märchen über deren Urgeschichte. Erzählten sie doch dem
Hekatäus aus Abdera, dass nicht bloß die Juden sondern auch Griechen und
andere Fremde aus Ägypten vertrieben wurden, weil die Götter dem Lande
gezürnt, dass es Fremde beherbergt habe und daher eine schreckliche Pest
über das Land verhängt hätten (Diodor 34, 1). Sonderbar klingen Lepsius'
Beweise für den Aussatz der Israeliten bei dem Auszuge, weil im
Pentateuch Gesetze über den Aussatz vorgeschrieben sind, weil Mirjam vom
Aussatz befallen war und dergleichen (Chronologie d. Ägypt. S. 325).
Aller Aufwand von Scharfsinn und Gelehrsamkeit, die Lepsius, Bunsen und
andere aufgeboten haben, um Manethos Relation von dem Aussatze
historisch zu machen, hat keine Beweiskraft. Auf dieser Fabel Manethos
von der Vertreibung der Aussätzigen, d.h. der Israeliten, aus Ägypten,
beruht die Fixierung des Auszuges um das Jahr 1314 oder zwischen
1314-21, welche Bunsen (Ägypten III, 94. IV, 83 f.) und Lepsius (das. S.
172 f.) zuerst aufgestellt haben, und die gegenwärtig allgemein
angenommen wird. Das ganze Gebäude der Beweisführung ruht aber auf
schwachem Grunde. Die Ägypter hatten in ihrer Zeitrechnung auch eine
Sothis oder Siriusperiode von 1400 Jahren. Die letzte geschichtliche
begann nach einer Angabe des Censorinus 1322 der vorchristl. Zeit, und
zwar nach einem Zitat von Theon (welches Larcher zu Herodot II, S. 556
zuerst mitgeteilt hat), während der Regierung des Königs Menophres. Nun
haben die Ägyptologen herausgebracht, dass in dieser Zeit ein König
Menephtes oder Menephta der XIX. Dynastie regiert hat. Das ist zwar
nicht ganz rechenfest, denn bei mehreren Dynastien fehlt die genaue
Bestimmung der Jahre und ist nur durch Hypothesen ergänzt; vgl. Note 19.
Gesetzt aber auch, dass Menephta 1322 regiert hätte, und dass Theons
Menophres in Menephtes emendiert werden darf, was einige nicht zugeben,
woher weiß man, dass der Exodus unter diesem Könige stattgefunden hat?
Weil Manetho angibt, der König, welcher die Aussätzigen vertrieben, habe
Amenophis geheißen? Die Hypothese strengt sich darum an, Amenophis mit
Menophres und Menephta und die Israeliten mit den Aussätzigen bei
Manetho zu identifizieren. Es liegt zu viel Konjektural-Chronologie in
diesem Datum, als dass es zuverlässige Gewißheit geben sollte. Bisher
haben die ägyptischen Denkmäler des neuen Reiches keine Spur von dem
Aufenthalte der Israeliten gezeigt, und noch weniger von ihrer
Ausweisung. Denn Lauths Entzifferung von den Apuriu und ihrer Identität
mit den Hebräern ist zweifelhaft [vgl. hierzu jetzt Miketta, a.a.O. S.
50 ff.]. Woher hatte also Manetho im dritten Jahrhundert seine Nachricht
über die Israeliten aus einer Zeit mehr als ein Jahrtausend vorher?
Kurz, der Pharao des Auszuges Menephta und das Datum, beides ist noch
unsicher. Dazu kommt noch, dass die israelitische Chronologie bezüglich
des Exodus damit durchaus nicht stimmt, wie sehr auch Lepsius sich
bemühte, die Konkordanz herzustellen (das. S. 359 f.), vgl. noch Rösch
in Herzogs Realenzykl. S. 447 und Note 19 Ende [vgl. meine Bemerkung zu
S. 16, Anm.]
Es war das erste Volk, welchem der hohe Wert der
Freiheit kund geworden ist, und es hat seitdem dieses unschätzbare
Kleinod, diese Grundbedingung aller Menschenwürde, wie seinen Augapfel
bewahrt. Ein Gedenktag wurde für dieses hochwichtige Ereignis des
Auszuges aus Ägypten eingesetzt, damit es für alle Zeiten den kommenden
Geschlechtern in Erinnerung bleiben sollte. Man begann die Flucht der
Jahre nach dem Auszuge aus Ägypten zu bestimmen.
Der erste Verkünder der völligen Gleichheit aller Menschen
So zogen Tausende von Israeliten mit gegürteten Lenden, mit ihren Stäben
in der Hand, mit ihren Kleinen auf den Eselsrücken und mit ihren Herden
aus ihren Dörfern und Zelten und sammelten sich um die Stadt Raamses.
Auch viel Mischvolk, das mit und unter ihnen gewohnt hatte, stamm- und
sprachverwandte Hirtenstämme, schloß sich ihnen an und trat mit ihnen
die Reise an. Sie alle scharten sich um den Propheten Mose und hingen an
seinem Munde; er war ihr König, obwohl Herrschsucht seinem Sinne fern
lag, und er der erste Verkünder der völligen Gleichheit aller Menschen
wurde.
Das Amt, das ihm beim Auszuge oblag, war mit noch größeren
Schwierigkeiten verknüpft, als seine Botschaft in Ägypten an den König
und an das israelitische Volk. Diese Tausende von soeben entfesselten
Sklaven, von denen nur wenige Verständnis für die große Aufgabe hatten,
die ihnen zugedacht war, die stumpfen Sinnes nur heute, der Geißel ihrer
Peiniger entrückt, ihrem Führer folgten, um morgen bei der ersten
Prüfung ihn im Stiche zu lassen, diese sollte er durch die Wüste in das
Land der Verheißung führen, für sie sorgen, sie erziehen!
Aus einer Horde sollte er ein Volk bilden, ihm Wohnsitze erobern, ihm
eine gesetzliche Ordnung geben und es für ein edles Leben empfänglich
machen. Bei der Schwierigkeit der Aufgabe konnte er nur auf den Beistand
des Stammes Levi, der ihm sinnesverwandt war, mit Zuverlässigkeit
rechnen. Die Leviten dienten ihm auch als Gehilfen seines schweren
Erziehungsamtes.
Jisrael baSinaj
Aus
Heinrich Graetz:
Geschichte der Juden
Erster Zeitraum: 1. Kapitel. Die Vorgeschichte
Heinrich (Hirsch) Graetz:
Geschichte der Juden
von den
ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart
Mit
einem Vorwort von Reuven Michael
Sonderausgabe. Reprint der Ausgabe letzter Hand,
11 Bände in 13 Teilen, 6.744 S., Pb., Früher 750,-, heute 49,90 Euro,
ISBN 3-7605-8673-2
[Bestellen?]
[Mehr
Information zum Buch]
|