Michael Karpin und Ina Friedman:
Der Tod des Jitzhak Rabin
- Anatomie einer Verschwörung
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Din Rodef
Teil 3
Din Rodef und Din Moser
Michael Karpin und Ina
Friedman
Kapitel 5 aus Michael Karpins und
Ina Friedmans
"Der Tod des Jitzhak Rabin":
American Connection
Die Hetzkampagne gegen Jitzhak Rabin in Israel
mochte noch so roh und schrill sein - verglichen mit der Kampagne in
den USA, die sich gemeinhin eines zivilen Umgangstons im politischen
Streit rühmen kann, konnte sie einem fast maßvoll vorkommen.
Im September 1995 brandeten die Hasstiraden gegen
den Ministerpräsidenten und seine Regierung dermaßen hoch, dass
Colette Avital, Israels Generalkonsulin in New York, dem Treiben
nicht mehr untätig zusehen wollte. Zunächst hatten die Rabin-Gegner
innerhalb der amerikanisch-jüdischen Gemeinschaft den
Ministerpräsidenten als Verräter und Rodef beschimpft; doch dann
waren sie so weit gegangen, ihn einen Nazi zu nennen. Avital wusste,
daß rechte und orthodoxe Juden die Extremisten in Israel mit
Ratschlägen und Geld versorgten - mit viel Geld. Auf ihrem
Schreibtisch stapelte sich ein bedrückendes Sortiment von jüdischen
Zeitungen, Zeitschriften, Pamphleten, Handzetteln, Radio- und
Fernsehmitschnitten und Texten aus dem Internet - ein endloser Strom
des Hasses auf Rabin, der sich aus Gerüchten, Lügen, Erfindungen,
Halbwahrheiten und Verzerrungen speiste. Avital hielt es für ihre
Pflicht, den Ministerpräsidenten davor zu warnen, selbst wenn ihr
Bericht daheim zu Gerüchten Anlaß geben würde, die dritthöchste
Diplomatin Israels in den Vereinigten Staaten sei der Hysterie
verfallen.
Seit fast zwei Jahren, zunächst entgeistert, dann entsetzt,
beobachtete Avital ein empörendes Phänomen: In der Stadt mit der
größten jüdischen Gemeinde der Welt war nur eine einzige Stimme zu
hören: die der radikal-orthodoxen Minderheit, die fast geschlossen
gegen den nahöstlichen Friedensprozeß Front machte. Die
Friedensanhänger in New York waren offenbar nicht in der Lage, mehr
als ein leises Protestmurmeln dagegen über die Lippen zu
195
bringen, während die orthodoxen Rabbiner und Rechtsradikalen
pausenlos zur Beseitigung des israelischen Ministerpräsidenten
aufriefen. Avital war konsterniert und verärgert zugleich. Wie
konnte es sein, daß die amerikanisch-jüdische Gemeinde, die
progressivste und neuerungsträchtigste der Welt, einzig und allein
mit einem aggressiven Fundamentalismus zu hören war? Wie war es
möglich, daß in diesem Schmelztiegel aus religiösem Pluralismus und
Kreativität die Ansichten der orthodoxen Minderheit vorherrschten?
Tag für Tag spürte sie, wie die Mauer der Feindseligkeit zwischen
den orthodoxen Juden New Yorks und den offiziellen Gesandten des
Staates Israel breiter und höher wurde. Niemals zuvor war
israelischen Diplomaten in den USA oder sonstwo der Zutritt zu
ganzen jüdischen Vierteln verwehrt worden. Mari hatte Avital
gewarnt, und zwar unmißverständlich: Sollte sie einen Fuß in die
Bastionen der orthodoxen Juden New Yorks setzen, würde man sie mit
Flaschen und Steinen empfangen. Die älteren Menschen in den
jüdischen Gemeinden sagten ihr, daß kein Teil des amerikanischen
Judentums jemals soviel abgrundtiefen Haß gegen eine gewählte
Regierung Israels zum Ausdruck gebracht hätte. Manchmal fühlte sie
sich wie in einem Alptraum, während die große Mehrheit der
amerikanischen Juden, und nicht zuletzt die israelische Regierung
selbst, stumm danebenstanden und zusahen.
Colette Avital war die erste Frau im Amt des Generalkonsuls, die
sich in der diplomatischen Residenz Israels an der Upper East Side
von Manhattan eingerichtet hatte. Die gebildete, elegante Frau
Anfang Fünfzig spricht leise, aber deutlich und, so heißt es in
ihrem Umkreis, versteht es meisterhaft, selbst ihre turbulentesten
Gefühle zu verbergen. Doch ihr sanftmütiges Gebaren täuscht, denn
Avital hat Rückgrat und schreckt vor Streit nicht zurück. Um das
Hindernisrennen des diplomatischen Dienstes in der von Männern
beherrschten israelischen Politik zu bewältigen, muß eine Frau außer
Talent auch Schneid und Entschlossenheit besitzen. Dreißig Jahre
bevor sie nach New York geschickt wurde, war sie in
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das Büro ihres Vorgesetzten in Jerusalem gegangen und hatte um ihre
Versetzung aus der Verwaltung in den diplomatischen Dienst ersucht.
«Da haben Sie keine Chance», sagte er. «Frauen sind für die
Diplomatie nicht geeignet. Frauen sind hysterisch.»
Dieses Vorurteil war ihr noch gut in Erinnerung, selbst nach dreißig
Jahren einer Karriere, die es Lügen strafte. Avital wurde 1993 nach
New York versetzt, nachdem sie zuvor als israelische Botschafterin
in Portugal gedient hatte. Die als arbeitswütig verschrieene
Expertin für Öffentlichkeitsarbeit fand bald Anerkennung als eine
Diplomatin, die an ihre Mission glaubt und ihren Standpunkt ebenso
elegant wie überzeugend durchsetzt. In der Arbeitspartei wurden
Stimmen laut, man müsse sie aus dem diplomatischen Dienst holen und
für eine politische Karriere gewinnen. Doch bei all ihrem Können war
sie nicht auf den Schwall an Drohungen und Beschimpfungen
vorbereitet, der ausgerechnet in New York auf sie und ihre
Mitarbeiter niederging.
Schon bevor Avital ihnen entgegentrat, zeigten sich die orthodoxen
Juden in New York mißvergnügt über die Neue. Die Rabbiner und
führenden Vertreter der Gemeinden, befangen in ihren Vorstellungen
von Kindern, Küche und Synagoge, waren der Meinung, eine Frau habe
auf einem so hochrangigen Posten nichts zu suchen. Man lud Avital
ein, beim Jahresdinner 1994 des Jerusalem Reclamation Project (JRP)
zu sprechen, einer rechten Organisation, die Gelder sammelt, um
Juden in arabischen Vierteln Jerusalems anzusiedeln. Als sie aufs
Rednerpult zuschritt, empfing man sie mit einem Hagel aus Pfiffen
und Buhrufen. Von da an ging es bergab. Und als die Jewish Press -
die wichtigste Wochenschrift der Orthodoxen und radikalen Rechten
New Yorks - ihre Leser aufforderte, über Avitals Leistung
abzustimmen, war die überwältigende Mehrheit dafür, ihr so schnell
wie möglich den Laufpaß zu geben. Daß man sie in Begleitung des
ABC-Nachrichtenmode-rators Peter Jennings sah, den man in rechten
Blättern gewöhnlich als «Israel-Prügler» bezeichnete, trug gewiß
nicht dazu bei, Avital bei den Verleumdern in ein besseres Licht zu
rücken. Im Grunde
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stand ihr eine Einheitsfront aus orthodoxen und rechten jüdischen
Aktivisten gegenüber, angeführt von dem Abgeordneten im Parlament
des Staates New York, Dov Hilkind, den Rabbinern Abraham Hecht und
Herbert Bomzer, den Geschäftsleuten Sam Domb und Jack Avital. Hinzu
kam allerdings noch Bürgermeister Rudolph Giuliani, der eigentlich
nicht richtig dazupaßte, doch politisch in der Schuld der andern
stand. Es überrascht kaum, daß die meisten New Yorker Gegner des
nahöstlichen Friedensprozesses über den verstorbenen Rabbiner Meir
Kahane miteinander verbunden waren, dessen Organisationen und
Zöglinge die Allianz der orthodoxen rechten Kräfte geschmiedet und
den Bürgermeister für ihre Sache eingespannt hatten.
Avital, die eine Liste der Ausfälle gegen Jitzhak Rabin angelegt
hatte, verfolgte besorgt die wachsenden Feindseligkeiten. In einem
Bericht, den sie zwei Jahre nach dem Händedruck Rabins und Arafats
verfaßte, listete sie die Namen der Organisationen auf, die an der
Offensive gegen die Osloer Verträge beteiligt waren, darunter
Americans für ein sicheres Israel, das Weltkomitee für Israel, die
Amerikanischen Freunde von Hebron, Pro-Israel, Frauen in Grün, die
Zionistische Organisation von Amerika (ZOA), das Jerusalem
Reclamation Project, das Central Israel Fund-One Israel, Zo Artzenu,
Yesha-One Israel Fund, Operation Kiryat Arba, Operation Chizuk
(«Stärkung») und das Komitee für die Bewahrung von Eretz Hakodesh
(des Heiligen Lands). Am meisten beunruhigte sie, schon wegen ihrer
Mitgliederzahl und ihres Einflusses, die orthodoxe
Young-Israel-Bewegung.
Am 19. September 1993, nur sechs Tage nach dem historischen
Händedruck auf dem Rasen des Weißen Hauses, gab der Nationalrat von
Young Israel bei einem eilends einberufenen Treffen von
Ostküstenrabbinern in New York - ihre israelischen Kollegen waren
über Satellit dabei - das Signal zum Kampf gegen das Osloer
Abkommen. Young Israel ist eine der mächtigsten Gruppierungen in der
orthodox-jüdischen Gemeinschaft Amerikas, mit etwa 20000 Familien
der Mittel- und Oberschicht, die enge Verbindun-
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gen zu ähnlichen Kreisen in Israel halten. Der rasch veröffentlichte
Appell «für den Widerruf des Osloer Abkommens» hatte einen
unmißverständlich aufrührerischen Unterton. Denn bei allen
hartnäckigen Streitereien der politischen Lager in Israel waren die
Organisationen der amerikanischen Juden bislang stillschweigend der
Daumenregel gefolgt, in allen Staatsangelegenheiten die jeweils
gewählte Regierung Israels zu unterstützen - oder zumindest nicht
gegen sie aufzutreten. Das Gelübde von Young Israel, das Osloer
Abkommen zu bekämpfen, spiegelte die Kluft im amerikanischen
Judentum wider, die sich zwischen der orthodoxen Gemeinschaft und
den konservativen und reformerischen Strömungen aufgetan und seit
dem Sechstagekrieg ständig verbreitert hatte.
Anfangs war es nur ein feiner Riß gewesen, vorübergehend gekittet
dank der Solidaritätswelle für Israel, die durch das amerikanische
Judentum lief, als im Mai 1967 der ägyptische Präsident Nasser seine
Truppen zusammenzog und die Straße von Tiran für Schiffslieferungen
nach Israel sperrte. Mit viel Energie betrieb man Spendenkampagnen.
Tausende von Freiwilligen wollten nach Israel fliegen und dort für
die Reservisten einspringen, deren Einberufung die Wirtschaft fast
lahmgelegt hatte. Das America-Israel Public Affair Committee
(AIPAC), die wichtigste pro-israelische Lobby in Washington, legte
Überstunden ein, um die Unterstützung von Wirtschaftsbossen und
Kongreßmitgliedern für den bedrohten Staat zu gewinnen, und bewies
dabei erstmals seine beeindruk-kende Stärke. Als den amerikanischen
Juden am Ende des Juni-Blitzkrieges aufging, was für einen
überwältigenden Sieg Israel errungen hatte, waren sie ebenso
begeistert wie die Israelis selbst. Diese brüderlichen Gefühle
wurden noch verstärkt durch ein unterschwelliges Schuldempfinden:
Als das Gespenst der Vernichtung das letzte Mal aufgetaucht war,
während des Holocaust, war es der Führung der amerikanischen Juden
nicht gelungen, ihre Regierung für die Sache der europäischen Juden
zu mobilisieren.
Die orthodoxen Juden allerdings hatten noch einen dritten
Beweggrund: eine religiöse Erweckungsbewegung, die zugleich
199
auch den Charakter der national-religiösen Gemeinschaft in Israel
selber veränderte. In einem Artikel der von Young Israel
herausgegebenen Vierteljahresschrift Viewpoint (Winter 1993)
beschrieb Rabbiner Simcha Krauss von der New Yorker Gruppierung
Young Israel of Hillcrest die Auswirkung des Sieges auf die
orthodoxen Juden in den Vereinigten Staaten einerseits und seine
Bedeutung für die Menschen, die ihn persönlich errungen hatten,
andererseits.
«Für Rabin und andere israelische Führer, die keinen Sinn für die
spirituellen Dimensionen unseres Vermächtnisses haben, war der Sieg
im Sechstagekrieg in Wahrheit nur ein militärischer. Das Land, das
damals befreit wurde, hatte für sie keine besondere Bedeutung. Für
jene von uns, die yirei shomayim (gottesgläubig) sind, war die
spirituelle Bedeutung des Sechstagekriegs überwältigend, und das
Land, das er uns eingebracht hat, hat unser Leben verändert. Nicht
nur hat es unseren Stolz, Juden zu sein, erneuert, sondern auch
Tausende von Juden dazu angeregt, sich auf die spirituelle Suche zu
machen und die baal teshuva (Rückkehr zur Religion) in die Wege
zuleiten.»
Nach der Eroberung (oder, laut Krauss, «Befreiung») von Großisrael
entwickelte sich eine enge Symbiose zwischen den orthodoxen Lagern
auf beiden Seiten des Ozeans. Die Zahl der orthodoxen Touristen, die
nach Israel fuhren, schnellte ebenso in die Höhe wie die der
Studenten, die für ein Jahr oder länger an speziellen
Jeschiwa-Seminaren teilnahmen. Tausende junger orthodoxer Amerikaner
siedelten sich in den besetzten Gebieten an, und Stiftungen für
national-religiöse Projekte - wie die JRP, der Yesha-Rat und die
Gemeinde von Hebron - konkurrierten mit den schon etablierten
Kampagnenorganisationen United Jewish Appeal und Israel Bonds um die
Gelder orthodoxer Spender.
Besuche von israelischen Rabbinern und rechten Politikern in den USA
taten das ihre, um die amerikanischen Freunde auf Trab
200
zu bringen. Besonders gefragt für Vörtragsreisen durch die
orthodoxen Gemeinden war Ariel Sharon, der einige Male von Yehiel
Leiter vom Yesha-Rat begleitet wurde. Dieser hatte das
Organisationsbüro seiner Spendenkampagne schon 1992 nach New York
verlegt und berichtete im Dezember 1993, man habe in den letzten
anderthalb Jahren 1,5 Millonen Dollar an die Siedler überwiesen.
Rusty Moslow, der Präsident von Pro-Israel, prahlte ebenfalls, daß
die Antwort auf 160000 Briefe, die man im Gefolge des Osloer
Vertrags verschickt hatte, «unerwartet gut» gewesen sei. Andere
Likud-Größen wie der ehemalige Ministerpräsident Jitzhak Sha-mir,
der Jerusalemer Bürgermeister Ehud Olmert und der Likud-Vorsitzende
Benjamin Netanjahu, traten ebenfalls den Weg durch die Vortragssäle
an. Die Konkurrenz um amerikanische Gelder für die Siedlungen war so
groß, daß es unweigerlich zu häßlichen Konflikten kommen mußte. Im
Dezember 1993 zum Beispiel erhob Jack Avital, der Vizepräsident des
Weltkomitees für Israel, gegen Benjamin Netanjahu den Vorwurf, er
habe für den Yesha-Rat bestimmte 200000 Dollar zum Abbau des
riesigen Likud-Schul-denbergs verwendet. Der Likud entgegnete, das
Geld sei für eine große Demonstration verwendet worden, die zusammen
mit anderen Gruppen im Gemeinsamen Führungsstab organisiert worden
sei - womit er freilich unabsichtlich preisgab, daß die Spenden aus
den Vereinigten Staaten halfen, die Hetzkampagne gegen Rabin zu
finanzieren.
Hier lag der Gegensatz, der sich dann zu einer Kluft verbreitern
sollte, zwischen der orthodoxen Gemeinschaft in Amerika und den
Konservativen und Reformern in Israel, ganz zu schweigen von den
zahllosen amerikanischen Juden, die sich keiner religiösen Strömung
zuordnen, doch ihre Identität als Juden bewahren. Da letztere keine
ideologischen oder institutionellen Bande mit den entsprechenden
israelischen Kreisen geknüpft hatten, engagierten sie sich nicht so
vehement und direkt für Israel wie die orthodoxen Juden. Die
jährlichen Umfragen des American Jewish Committee zeigen diesen
Unterschied. In der Befragung von 1995 z.B. sagten
201
72. Prozent der Orthodoxen, sie fühlten sich Israel «sehr
verbunden», verglichen mit 13 Prozent der reformerisch eingestellten
Juden. Zwar stellen die Orthodoxen nur etwa ein Zehntel der sechs
Millionen Juden Amerikas, die israelischen Orthodoxen hingegen ein
Fünftel der Gesamtbevölkerung, doch inspirieren und unterstützen
sich die beiden Gemeinschaften in hohem Maße. Ihr passionierter
Glaube und nicht ihre Zahl sorgte für ihren politischen Einfluß.
Die Gebietseroberungen von 1967 veränderten laut Rabbiner Krauss das
Leben der orthodoxen Juden in den Vereinigten Staaten grundlegend.
Doch es gab einen weiteren «Tag, der unsere Welt verwandelt hat»,
den 13. September 1993, als das Osloer Abkommen zwischen Israel und
der PLO unterzeichnet wurde. Yaakov Kornreich, ein Journalist, der
für verschiedene orthodox-jüdische Zeitschriften schreibt, hat unter
ebendiesem Titel seine Eindrücke und Gefühle beschrieben, als «ein
Vertrag öffentlich besiegelt wurde, der eines Tages das Leben jedes
einzelnen Juden verändern wird». Während andere Beobachter auf der
ganzen Welt Rührung oder Begeisterung darüber empfanden, daß sich
einstige Feinde auf friedliche Weise ein Land teilten, das Konflikte
ein Jahrhundert lang zerrissen hatten, dachte Kornreich ganz anders:
«Wir sahen erschrocken und ungläubig zu», erinnerte er sich,
«sprachlos und hilflos außen vor stehend, als die Heimat von 130000
Juden [in den besetzten Gebieten] mit einem Federstrich vielleicht
für immer hergegeben wurde.»
Sechs Tage nach dem schicksalhaften Federstrich in New York trafen
die Rabbiner der Young-Israel-Bewegung zusammen und antworteten auf
den Schock mit einem Aktionsplan. Keiner machte den Vorschlag, erst
einmal abzuwarten, um zu sehen, ob Kornreichs Befürchtung über das
Schicksal der Siedler zutraf. Niemand dachte daran, erst einmal Luft
zu holen und dem Frieden eine Chance zu geben. Mit der Unterstützung
schlachterprobter Kämpfer wie Rabbiner Herbert Bomzer aus Brooklyn
führten der Präsident von Young Israel, Chaim S. Kaminetzki, und
Geschäfts-
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führer Rabbiner Pesach Lerner die Bewegung ganz im Sinne jener
Mitglieder, die nach Israel emigriert waren und Dutzende von neuen
Gruppen in den besetzten Gebieten aufgebaut hatten. Und Young Israel
war nicht alleine. In den amerikanischen orthodoxjüdischen Kreisen
war man entschlossen, das gerade unterzeichnete Osloer Abkommen mit
allen Mitteln zu bekämpfen: mittels Gebeten, Versammlungen,
Demonstrationen, Rundbriefen, Leserbriefen, Radio- und
Fernsehsendungen und vor allem mittels Druck auf Lokal- und
Bundespolitiker. Dieser Mühsal hätte man eigentlich das Prädikat
«Graswurzelbewegung» in der besten Tradition der amerikanischen
Demokratie verleihen können, hätte sie nicht voll blindem Haß das
Ziel verfolgt, eine demokratisch gewählte Regierung in einem 12000
Kilometer entfernten Land zu stürzen.
Am 13. Dezember 1993 vermerkte Colette Avital in ihren
Aufzeichnungen die ersten Demonstrationen von Aktivisten der
AntiOslo-Bewegung. 300 Leute hatten sich auf dem Times Square
versammelt, die meisten von ihnen mit Gebetskäppchen und Plakate
schwingend, auf denen es hieß: «Macht Israel nicht zu einem zweiten
Libanon» und «Jüdisches Blut ist nicht billig», während sie den
Reden von Rabbiner Abraham Hecht, des Parlamentariers Dov Hilkind,
des Stadtrats Anthony Wiener und des Geschäftsmanns Sam Domb
lauschten. Von Zeit zu Zeit stürmten Demonstranten auf die Straße
und blockierten den Verkehr auf dem Broadway, bis der Polizeikordon
sie zurückdrängen konnte. Die Demonstration wurde vom World
Committee on Israel getragen, unter Führung des inzwischen
verstorbenen Dr. Manfred Lehmann, der sie als «überparteilichen
Protest» bezeichnete, weil «die alten und etablierten jüdischen
Organisationen gelähmt» seien. Robert Friedman von der Village Voice
fiel ein junger Demonstrant im Parka auf, der die Mütze der New York
Ranger und eine Sonnenbrille trug. Warum er gekommen sei? «Rabin ist
schlimmer als Hitler. Hitler war ein Goi, der Juden getötet hat.
Rabin ist ein Jude, der Juden tötet. Rabin sollte umgebracht
werden.»
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Damals war dies noch eine vereinzelte Stimme; Rabbiner und andere
führende Vertreter der orthodoxen Gemeinschaft schreckten vor solch
hanebüchenen Vergleichen noch zurück. Dennoch, die Demonstration war
ein Dammbruch. Zum ersten Mal ertönten Rufe wie «Tötet Rabin» und
tauchten Plakate mit den Worten «Rabin - Verräter» in der Menge auf.
In Israel erlebte man dies erst vier Monate später.
Voll Zorn über eine derart unerhörte Sprache beklagte sich Colette
Avital direkt bei Malcolm Hoenlein, dem Direktor des einflußreichen
Präsidentenrats von zweiundfünfzig großen jüdischen Organisationen.
«Das ist verbale Gewalt», fauchte sie und verlangte eine scharfe
Verurteilung der Haßtiraden. «Das ist ansteckend und muß im Keim
erstickt werden.» Doch Avital war nicht die einzige, die Hoenlein
anrief. Die Leiter von Young Israel und der ZOA, die von ihrem weit
rechts stehenden Präsidenten Morton Klein zu den Demonstrationen
geführt worden war, setzten Hoenlein unter Druck, er solle neutral
bleiben. Selbst bekannte Verfechter des Friedens rieten zur
Zurückhaltung, da ein Protest den Aktionen einer kleinen Minderheit
weitere Aufmerksamkeit verschaffen würde. Schließlich brachte
Hoenlein seine Mißbilligung zum Ausdruck - ohne nennenswerte
Wirkung.
Nach New York war Capitol Hill Ziel eines Zangenangriffs von
israelischen und amerikanisch-jüdischen Gegnern des
Friedensprozesses. Dank ihrer direkten Verbindungen zum Likud und
Yesha-Rat erhielten die orthodoxen Rabbiner in Amerika ständig
Berichte über angebliche Vertragsverletzungen der Palästinensischen
Autonomiebehörde. Viele dieser Meldungen stammten von Yossi
Ben-Aharon, dem ehemaligen Leiter des Büros von Ministerpräsident
Shamir; von Yigal Carmon, der Shamirs Berater für
Terrorismusbekämpfung gewesen war, und von Yoram Ettinger, einem
ehemaligen Attache für Kongreßangelegenheiten der israelischen
Botschaft in Washington. Doch die «Dreierbande», wie Rabin sie
getauft hatte, ging noch einen Schritt weiter. Zur großen
Verärgerung des AIPAC und der israelischen Botschaft richteten sie
ihr
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eigenes Büro in Washington ein, um im Kongreß Lobbyarbeit zu
betreiben. Man verfolgte drei Ziele: Verlegung der amerikanischen
Botschaft in Israel von Tel Aviv nach Jerusalem; im Keim schon die
Idee zu ersticken, amerikanische Truppen im Rahmen eines
Friedensvertrags zwischen Israel und Syrien (der allerdings noch
nicht in Sicht war) auf den Golanhöhen zu stationieren; und vor
allem, amerikanische Gelder für die sich immer in akuter Geldnot
befindende Palästinensische Autonomiebehörde zu stornieren, was
diese - und den Friedensprozeß - an den Rand des Zusammenbruchs
gebracht hätte.
Diesem Unternehmen schloß sich die orthodoxe jüdische Lobby an, die
große Anstrengungen unternahm, um zwei mächtige republikanische
Kongreßmitglieder für sich zu gewinnen: Jesse Helms aus North
Carolina, den Vorsitzenden des außenpolitischen Ausschusses im
Senat, und Benjamin Gilman aus New York, den Vorsitzenden des
Ausschusses für internationale Beziehungen im Repräsentantenhaus.
Der republikanische Senator Alfonse D'Ama-to aus New York und die
Kongreßabgeordneten Michael Forbes, Charles Schumer und Peter King
hatten sich schon bereit erklärt, die Schlacht im Kongreß
anzuführen.
Der Höhepunkt des Kreuzzuges gegen die Palästinensische
Autonomiebehörde war der 13. Juni 1995, als eine Delegation von 100
orthodoxen Rabbinern nach Washington kam, um den Aufschub der von
der Regierung versprochenen Hilfen für die Palästinensische
Autonomiebehörde durchzusetzen, bis die Palästinenser die
Forderungen der israelischen Rechten erfüllt hatten. Zwei Wochen
später sollte der Kongreß über das Verlangen der Regierung
debattieren, den Palästinensern weitere 100 Millionen Dollar zu
überweisen, aus einem Gesamtpaket von 500 Millionen an Hilfsgeldern
und Krediten in einem Zeitraum von fünf Jahren. Washington war mit
den Zahlungen an die Palästinenser bereits im Verzug. Obwohl zwei
Jahre seit der Unterzeichnung des Osloer Abkommens vergangen waren,
hatten die Vereinigten Staaten -über einen dafür eingerichteten
Verteilungsapparat der Geberlän-
205
der, den Holst-Fonds - der Palästinensischen Autonomiebehörde nur 80
Millionen Dollar überwiesen. Helms und Gilman hegten die Hoffnung,
die Zahlungen noch weiter verzögern zu können, und beantragten, die
Fortsetzung der versprochenen Hilfe müsse halbjährlich vom Kongreß
abgesegnet werden. D'Amato hatte die Forderungen noch verschärft und
vorgeschlagen, die amerikanische Hilfe an die Palästinensische
Autonomiebehörde ganz zu streichen und sie statt dessen für
amerikanisch geführte humanitäre Projekte zu verwenden.
Der Kreuzzug der Rabbiner - auf die Beine gestellt von Rabbi Sholom
Gold, dem ehemaligen Präsidenten von Young Israel -hatte das Ziel,
Unterstützung für diese Anträge zu mobilisieren. Gold erklärte vor
der Presse, solange die PLO die Kriterien der freiwilligen
Zusammenarbeit, Rechenschaftslegung und Offenheit nicht erfülle,
müsse sie «immer noch als terroristische Organisation betrachtet
werden». Young Israel, der Rabbinical Council of America, die
Rabbinical Alliance of America und nichtjüdische Gruppen wie die
Pro-Israel Christians und die Traditional Values Coalition (mit
denen die orthodoxe Lobby ein Ad-hoc-Bündnis geschmiedet hatte):
Alle heuerten sie Busse an, und man fuhr nach Washington. Dort
fielen die Rabbiner in die Büros von Senatoren und Abgeordneten aus
beiden außenpolitischen Ausschüssen ein. Sie beriefen sich auf einen
sechzehnseitigen Bericht der ZOA mit einer Litanei palästinensischer
Vertragsverletzungen, angefangen von der mangelnden Bereitschaft,
den Terrorismus zu bekämpfen, bis hin zur antiisraelischen
Propaganda in den staatlich kontrollierten Medien. Doch der Kern
ihrer Klagen war das Osloer Abkommen selbst. «Wenn man Land für
Versprechungen tauscht und die Versprechungen gebrochen werden,
sagen sie <Tut uns ja so leid>, aber das Land ist unwiederbringlich
verloren», erklärte Rabbiner Moshe Portnoy den Senatoren. «Israel
wird nie mehr in der Lage sein, das Land zurückzuerobern.»
Was in diesen Gesprächen wohlweislich unterschlagen wurde, war ein
zwei Wochen zuvor veröffentlichter Bericht des Außenmi-
206
nisteriums, wonach die PLO sich an die Grundsatzerklärung (Osloer
Abkommen) gehalten und Maßnahmen eingeleitet habe, um der Gewalt
vorzubeugen und die Verantwortlichen für Terroranschläge zu
bestrafen. Vertreter Israels informierten den Kongreß über diesen
Befund und mühten sich nach Kräften, den Angriff der Orthodoxen
abzuwehren. Botschafter Itamar Rabinovich zog persönlich über den
Capitol Hill und warnte die Abgeordneten, daß «eine kleine,
gutorganisierte und schlagkräftige Gruppe innerhalb der Vereinigten
Staaten mit aller Entschlossenheit gegen die Regierung Rabin
arbeitet». Diese Beobachtung wurde im Kongreß selbst bestätigt. Der
demokratische Senator Joseph Lieberman aus Connecticut, selbst ein
orthodoxer Jude, sah sich von Rabbinern und anderen rechten
Lobbyisten unablässig durch die Korridore des Senats verfolgt, wies
deren Annäherungsversuche jedoch ab. «Die Siedler investieren
riesige Summen in die Propaganda», klagte Lieberman. Zwar gab er zu,
daß die Palästinensische Autonomiebehörde weniger Fortschritte
mache, als er erhofft hatte, doch er stellte entschieden in Frage,
ob die richtige Antwort darauf sei, «die Hilfe für die Palästinenser
einzustellen und damit den Friedensprozeß letztlich abzuwürgen».
Andere Kongreßmitglieder zeigten sich verärgert ob des Versuchs, das
politische Schlachtfeld von Jerusalem nach Washington zu verlegen.
Während einer Sitzung des außenpolitischen Ausschusses im
Repräsentantenhaus machte sich der demokratische Abgeordnete Akee
Hastings aus Florida Luft: «Ich denke, wir veranstalten heute dieses
Hearing, weil parteipolitische israelische Interessen mit Macht in
die amerikanische Tagespolitik drängen. Und ich denke weiterhin, daß
die israelische Innenpolitik im amerikanischen Kongreß nichts zu
suchen hat...Ich verabscheue den Versuch von Oppositionsparteien in
Israel, die aufrichtige Besorgnis amerikanischer Juden in den Dienst
ihrer eigenen politischen Interessen zu stellen.» Ebenso schneidend
äußerte sich der Geschäftsführer des AIPAC, Near Sher, in einem
Interview: «Es ist sehr problematisch, wenn bestimmte Gruppen
versuchen, im
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Kongreß Lobbyarbeit gegen die rechtmäßige Regierung Israels zu
betreiben. Es ist gefährlich, wenn innerisraelische Fragen in die
Hallen des amerikanischen Kongresses gezerrt werden.»
Noch während die ioo Rabbiner versuchten, im Kongreß eine Lobby für
ihre Ziele zu schaffen, warf sich sogar Außenminister Peres ins
Zeug. Telefonisch bat er Gilman, die Rabbinerdelegation nicht zu
empfangen, da ein solches Treffen den Friedensprozeß gefährden
könne. «Die meisten amerikanischen Juden unterstützen das Osloer
Abkommen», mahnte er den Kongreßabgeordneten, «die Orthodoxen sind
nur Randfiguren.» Doch die Rabbiner setzten sich durch. Gilman
empfing sie nicht nur, er gab gemeinsam mit den Delegationsleitern
eine Pressekonferenz, in der er den Bericht des Außenministeriums
als «Schönfärberei» abtat und sich hinter die Forderungen der
Rabbiner stellte.
Begeistert von ihrem Erfolg, bestieg die Delegation die Treppe zum
Lincoln Memorial und sprach Gebete zum Wohle Großisraels. Man hatte
sich diesen Ort ausgesucht, um die Juden an eine andere,
vierhundertköpfige Delegation von Rabbinern zu erinnern, die im
Herbst 1943 an dieser Stelle demonstriert hatten, nach einem Gang zu
Präsident Roosevelt, den man flehentlich gebeten hatte, die
europäischen Juden zu retten. Die Anspielung war deutlich: Dem
jüdischen Volk drohte eine Katastrophe von den Ausmaßen des
Holocaust. Freilich ging man vor der Presse nicht so weit, die
schweren Geschütze aufzufahren: «Es dreht sich hier nicht um die
Frage, ob man für oder gegen den Friedensprozeß ist. Es geht nicht
einmal unmittelbar um die Haltung der israelischen Regierung»,
erklärte Rabbiner Steven Pruzansky nicht ganz wahrheitsgetreu. «Es
geht hier allein um ein Problem des amerikanischen Steuerzahlers.»
Vor ihren eigenen Gemeinden schlugen die führenden Vertreter der
Orthodoxen und Rechten jedoch ganz andere Töne an. Beispiele für
solche Brandreden gibt es genug. Der World Likud (ein Ableger der
israelischen Partei) überschwemmte orthodoxe Synagogen in
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Brooklyn und Miami mit Flugblättern, auf denen die israelische
Regierung angegriffen wurde. Rabbiner Mordechai Friedman, Leiter der
orthodoxen Vereinigung amerikanischer Rabbiner, klagte in Radio- und
Fernsehinterviews: «Rabins Demokratie verfolgt die Siedler» und «Die
israelische Armee ist in eine ultralinke Rabin/ Peres-Miliz
verwandelt worden». Als Rabbiner Benjamin Schafer-stein von der
Kanzel aus wetterte, «Israel ist nicht mehr demokratisch, sondern
eine Diktatur von Rabin und Peres», nahmen die Gläubigen das Diktum
protestlos hin - kein Wunder, denn in den Blättern der orthodoxen
Gemeinschaft war die israelische Regierung bereits als
«Judenratpolizei» denunziert worden. Andere Würdenträger mieden
demonstrativ die sumpfigen Felder der Politik und widmeten sich der
allgemeinen Volksbildung. Rabbiner Moshe Tendier etwa,
Biologieprofessor an der Yeshiva University und angesehene
Halacha-Autorität, erläuterte den Medien geduldig, daß gemäß dem
jüdischen Religionsgesetz jeder, der als Rodef erkannt ist, getötet
werden muß.
Während die Gemeinderabbiner ihre Offensive vorantrugen, achteten
sie sorgfältig darauf, ihre Flanken zu schützen. Den IDF-Offizieren,
die nach Amerika geschickt wurden, um die Umsetzungsschritte des
Osloer Abkommens zu erläutern, verwehrten sie den Zutritt zu ihren
Synagogen. Die Mitglieder ihrer Gemeinden, so die Rabbiner, seien
der gegenwärtigen israelischen Regierung nicht gewogen, und sie
könnten daher nicht für die Sicherheit der Offiziere einstehen.
Wenigstens ersparten sie den Militärs die Demütigung ihrer
diplomatischen Weggefährten: Talia Lador etwa, Konsul für
Öffentlichkeitsarbeit in New York, wurde bei der Eröffnung der
Jerusalemwoche in Queens mit den Rufen «Verräter» und «Nazi»
empfangen.
Auch Colette Avital kam bald unter Sperrfeuer. So beschimpfte man
sie am Telefon als «Nazi» und drohte, sie zu «erledigen». Hörer, die
bei Zev Brenners Radioshow «Talkline» anriefen, bezeichneten sie als
«Feind Israels» und «Verräterin, die vor Gericht gestellt werden
sollte». «Wir sorgen dafür, daß sie vor ein Er-
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schießungskommando gestellt wird», raunzte ein Anrufer. Brenner, der
nach eigenem Bekunden derlei noch nie erlebt hat, beobachtete, daß
die Haßtiraden gegen die Regierung Rabin zweimal besonders explosiv
waren: nach der Bekanntgabe des Friedensnobelpreises im Oktober 1994
und nach der Unterzeichnung des Abkommens Oslo II im September 199s.
«Die Juden aus Brooklyn, die in der Sendung anriefen, legten gleich
mit wüsten Beschimpfungen los und nannten Colette Avital und Rabin
<Nazis> und <Verräter>. Ich mußte sie aus der Leitung werfen, um ein
Mindestmaß an Würde zu bewahren.» Avital schlug zurück, in
Sendungen, die ein viel breiteres Publikum erreichten. Bei Mike
Wallace in «60 Minutes» antwortete sie auf Drohungen von Mike
Gozovsky, dem Leiter der Kahane Chai in New York, und warnte vor der
verbalen Gewalt jüdischer Fanatiker. Dieser Auftritt brachte ihr'
einen weiteren Schwall telefonischer Beschimpfungen ein, die zeigen
sollten, daß sie jederzeit mit neuen Angriffen zu rechnen hatte.
Anregungen fand die Kunst der Hetze gegen die Regierung Rabin auch
in selbstgebastelten «Infos», die per Fax und E-Mail verschickt oder
auf Webseiten abgelegt wurden und dann mündlich oder durch Zitate in
rechten jüdischen Publikationen weitergetragen wurden. Avital
erinnert sich: «Einmal ging bei den Orthodoxen das Gerücht um,
israelische Soldaten, die Siedler (im Westjordanland) begleitet
hätten, hätten den Befehl erhalten, sie inmitten eines arabischen
Gebietes zu verlassen und damit ihr Leben in Gefahr zu bringen.
Viele orthodoxe Juden in Amerika haben Söhne und Töchter in den
besetzten Gebieten und waren erbost. Doch das Ganze war natürlich
eine Ente.»
Anfang 1995 sprach Rabbiner Sholom Gold vor einer
Rabbinerversammlung in New York, und das Algemeiner Journal druckte
lange Passagen seiner Rede ab. Gold verglich zunächst die Gefahren,
die in Rabins Politik lauerten, mit dem Holocaust, und rechtfertigte
dann seine Charakterisierung von Rabins Kabinett als «unmoralische
Regierung» mit einem Gerücht, das ihm zu Ohren gekommen war. Dem
Algemeiner Journal zufolge behauptete Gold:
210
«Vor zwei Wochen, an dem Abend, als ein junger israelischer
Taxifahrer von Terroristen auf offener Straße ermordet wurde, hatte
das israelische Kabinett zu einer Party eingeladen. Auf die Frage,
ob es nicht angebracht sei, diese abzusagen, nachdem ein Jude von
einem Terroristen getötet wurde, hat Rabin geantwortet: <Solche
Dinge passieren in Israel jeden Tag.>» Das Publikum reagierte
erwartungsgemäß mit Zornesschreien, woraufhin Gold seine Zuhörer
mahnte: «Die Zeit der politischen Höflichkeiten ist um. Machen Sie
jedem Mitglied der Regierung, das nach Amerika kommt, das Leben
schwer.»
Ein in den orthodox-jüdischen Kreisen Amerikas besonders beliebtes
Klagelied, das in Israel selbst nur von den Mitgliedern der
radikalen Zo Artzenu zu hören war, handelte von der angeblichen
Neigung der Regierung Rabin, die eigenen Bürger zu tyrannisieren.
1995 brachte The Jewish Press während des ganzen Sommers auf den
ersten Seiten großformatige Fotos israelischer Polizisten, die
haredische Demonstranten vom Ort einer Protestaktion wegschleiften.
Die Fotos waren nicht gefälscht; die begleitenden Schlagzeilen, in
denen behauptet wurde, Rabbiner seien bei Demonstrationen verhaftet
worden, waren Mummenschanz. Berichte dieser Art häuften sich: Die
israelische Regierung ließe Rabbiner systematisch verprügeln und
verhaften und dann während der Haft foltern; die Regierung versuche
jeglichen Protest zu ersticken, indem sie Demonstrationen verbiete,
die Polizei anweise, Demonstranten mit brutaler Gewalt zu vertreiben
und sie vor allem dazu anhalte, dabei auch Frauen und Kinder zu
schlagen. Allenthalben behauptete die orthodox-jüdische Presse,
Jitzhak Rabin habe das Land in eine «Diktatur» verwandelt, während
dieselben Blätter in großer Aufmachung über die vielen
Demonstrationen berichteten, die zum Teil von ihren Lesern
finanziert wurden.
Die Parteilichkeit dieser Blätter tat dem Vertrauen in ihre
Berichterstattung keinen Abbruch. Die Jewish Press und ihr
Herausgeber Sholom Klass waren für ihre Sympathien für jüdische
Fanatiker bekannt. Rabbiner Kahane und sein Sohn Benjamin
211
hatten in der Zeitung ihre festen Kolumnen, ein Forum, das letzterer
nutzte, um «das apathische jüdische Volk gegen die israelische
Regierung zu mobilisieren, die israelische Kinder mit Drogen, AIDS
und anderen Annehmlichkeiten der westlichen Kultur vollgestopft
hat». Die Schlagzeile, mit der das Blatt 1994 seinen Bericht über
das Massaker an Palästinensern in der Höhle der Stammesväter
schmückte, überging solche Einzelheiten wie die Zahl der Opfer und
den Namen des Mörders, um gleich auf den Punkt zu kommen:
«Hintergründe des Massakers: Regierung Rabin auf der Anklagebank».
In einem Artikel dieser Ausgabe wurde Goldstein als «Heiliger von
Kiryat Arba» bezeichnet. Und in nicht mehr zu unterbietender
Niederträchtigkeit zitierte man seine Bewunderer mit den Worten:
«Die Araber, die Goldstein töteten, hatten vor, Juden zu töten.»
Der Wunsch, das Schlimmste über die von der Arbeitspartei geführte
Koalitionsregierung zu denken, trieb die Leser dieser Zeitungen
dazu, jedem Bericht zu glauben und dann die israelischen
Vertretungen in New York und Washington mit Anrufen und Faxen zu
überfluten, in denen Rabin und seine Minister als «Verräter» und
«Regierung der Nazis» beschimpft wurden. «Woche für Woche bezeichnen
sie die israelische Regierung als Nazis», klagte Avital in einem
Interview mit der New York Times, während der Sprecher des Konsulats
sich regelmäßig bei Klass über die giftige Sprache seines Blattes
beschwerte - doch es nützte nichts.
Die orthodoxen Wochenblätter standen mit ihren Feindseligkeiten
gegenüber Rabin und dem Vertrag von Oslo nicht allein. Und der
Ministerpräsident war nicht das einzige Objekt von unverfrorenen
Ausfällen und Tiraden. Peres eignete sich ebenso als Ziel, da er in
Israel bereits mit einer Reihe von Verleumdungskampagnen
konfrontiert gewesen war. Die Gerüchte, die man während seiner
langen politischen Laufbahn über ihn in Umlauf brachte, reichten von
der Behauptung, seine Mutter sei Araberin (Peres ist in Belorußland
geboren und hat auch einen entsprechenden Akzent), bis hin zur
Anschuldigung, sein Sohn habe sich vor dem Wehr-
212
dienst gedrückt (er war in Wahrheit Luftwaffenpilot). Doch als
Ministerpräsident war Rabin ein lohnenderes Ziel, wenn auch gewiß
ein weniger bequemes. Seine militärische Laufbahn, von den Tagen an,
da er sich als Jugendlicher dem Palmach-Untergrund anschloß, bis zu
seiner Ernennung zum Stabschef der IDF im Sechstagekrieg, verlieh
ihm gerade in den Augen nationalistischer Kreise einen
unangreifbaren Rang im Pantheon israelischer Helden und bekräftigte
sein Image als Verkörperung eines «echten Eingeborenen», eines
Sabra: Er stand für Bodenständigkeit und Aufrichtigkeit, ja sogar
Reinheit. Rabin hatte an der politischen Börse Israels zwei
beneidenswerte Beinamen: «Mr. Sicherheit» und «Teflon», letzterer,
weil der Schmutz, mit dem ihn seine politischen Feinde bewarfen,
nicht an ihm haftenblieb.
Auf der anderen Seite des Globus jedoch, fern von der Mythologie der
«Sabra-Erfahrung», waren die Versuche, Rabin als Feind alles
Gerechten, Guten und Aufrechten zu diffamieren, in geradezu
unglaublichem Maße erfolgreich. Mit groben, unbeholfenen
Pinselstrichen machte man aus dem Helden ein Schreckgespenst, das
sich dem Alkohol ergeben habe, die Religion verabscheue und allen
jüdischen Werten feindlich gegenüberstehe. Selbst seine
militärischen Leistungen wurden durch Verleumdungen in den Schmutz
gezogen: Er habe im Unabhängigkeitskrieg von 1948 seine Leute auf
dem Schlachtfeld im Stich gelassen und am Vorabend des
Sechstagekrieges einen Nervenzusammenbruch erlitten.
Die Februarausgabe 1995 der Vierteljahresschrift Outpost ist ein
erhellendes Beispiel dafür, wie Hetze funktioniert: Haltlose
Vorwürfe werden als Fakten vorgestellt, die dann als Rechtfertigung
für Schmähungen dienen. Die meisten Autoren der Ausgabe schlagen in
ihren Beiträgen auf Rabin und seine Friedenspolitik ein; der
Aufmacher ist ein Artikel mit dem Titel «Der wahre Rabin» von Erich
Isaac, emeritierter Geographieprofessor der New York City University
und Mitglied des Herausgebergremiums von Outpost. Zu Beginn fragt
Isaac nach der Quelle des Vertrauens, das die «etablierten jüdischen
Organisationen und führende Per-
213
sönlichkeiten der Vereinigten Staaten» Rabin entgegenbrächten, und
kommt zu dem Schluß:
«Zum großen Teil gründet sich dieses Vertrauen auf Jitzhak Rabin,
den Armeeführer. Typisch dafür ist eine Anzeige in einer Reihe von
amerikanisch-jüdischen Blättern vom August 1994 mit der Überschrift:
<Wenn es um Israels Sicherheit geht, kann keiner Rabin etwas
vormachen. Keiner.> Tenor der Anzeige war, daß Rabin als der Mann,
der 1967 für Israel die Gebiete eroberte, niemals territoriale
Zugeständnisse machen würde, die den Staat gefährden. Für all jene,
die sich einlullen lassen von Rabins angeblichen militärischen
Glanzleistungen als unerschrockener Führer in der Schlacht vor der
Staatsgründung und als siegreicher General bei der Verteidigung des
Landes, sollte Dr. Uri Milsteins demnächst erscheinendes Buch The
Rabin File ein Weckruf sein. Vielleicht wird eines Tages dann
folgende Frage zu den historischen <Was-wäre-wenn>-Gedankenspie-len
hinzukommen: <Hätte Milsteins Buch den knappen Sieg der
Arbeitspartei verhindert, wenn es einige Jahre früher erschienen
wäre?>»
Was in New York als durchaus vernünftige Frage klingen mochte,
erwies sich bald als trügerisch. Denn Milsteins Buch - in dem er
Rabin der blamablen Feigheit während des Unabhängigkeitskriegs
bezichtigt - wurde von seinen Historikerkollegen in Israel in der
Luft zerrissen. «Die kommentierenden Ausführungen Milsteins ergänzen
nicht die Tatsachen, sie ersetzen sie und werden als Tatsachen
aufgetischt», schrieb Dr. Levy Yagil in der Ha'aretz in einer
trockenen, aber vernichtenden Kritik.
Isaacs Artikel ist in klarem und nüchternem Stil verfaßt und war -
wenn auch auf Schlußfolgerungen aus zweifelhaften Forschungen
beruhend - als ernsthafter Beitrag zur demokratischen
Auseinandersetzung gemeint. Doch in derselben Ausgabe von
214
Outlook findet sich auch der Beitrag eines gewissen J. S. Sorkin,
der sich alle Mühe gibt, den Ruf des Ministerpräsidenten zu
vernichten, und sich über Rabins angebliche Feigheit hermacht. Die
Autoren in Outlook werden immer kurz mit Hinweis auf ihre
wissenschaftliche oder organisatorische Tätigkeit vorgestellt, doch
unter Sorkins Beitrag hieß es nur, «bevor die Order ausgegeben
wurde, man habe dem Händedruck zu applaudieren», habe der Autor
«Arbeiten in verschiedenen Blättern veröffentlicht». Ein Wink mit
dem Zaunpfahl: Sorkin macht erst gar nicht den Versuch, Isaacs
nüchternem Stil zu folgen. Im Gegenteil, er beklagt die
«gespenstische Charade der Nobelpreiszeremonie in Norwegen» und den
Glauben, wonach der «Weg zum Frieden über einen Staat westlich des
Jordan für das alte palästinensische Volk führt, ein Glaube, der in
die besten Köpfe Israels eingedrungen ist wie eine <Invasion der
Körperfresser>». Er stempelt Rabin zum «Borderline-Alkoholiker, der
bekanntermaßen sein Leben lang immer wieder psychische und
militärische Rückzüge angetreten hat», und holt am Ende zu folgendem
Schlag aus:
«Was immer Rabins persönliches Schicksal sein mag, sein bisheriges
Vermächtnis ist belastet von Anschuldigungen, er habe sich 48 als
feige vor dem Feind erwiesen, von seinem selbsteingestandenen
psychischen Zusammenbruch von 67, seinem Rückzug im Libanon 85*,
seinem Rückzug aus Gaza und Jericho 94 und Gott weiß aus welchen
Gebieten noch in den kommenden Wochen...
Viel jüdisches Blut ist bereits im Namen des Friedens vergossen
worden, und obwohl man darauf vertrauen kann, daß sein Wahnsinn nie
obsiegen wird, bleibt die Frage - ein halbes Jahrhundert nach dem
Holocaust -, wieviel Blut die Juden noch vergießen müssen, bis
dieser erbärmliche Mensch von dannen zieht.»
Als Verteidigungsminister in der Regierung der nationalen Einheit
1984-1988.
215
Rabins «Feigheit vor dem Feind» im Jahr 1948 ist eine «Tatsache»,
die Sorkin bei Milstein auflas. Von anderen Historikern des
Unabhängigkeitskrieges wird sie allerdings als die Entscheidung
eines Feldkommandeurs bewertet, seine Männer nicht in eine Schlacht
zu werfen, die nichts weiter gebracht hätte, als die ohnehin schon
ausgebluteten Einheiten noch weiter zu dezimieren. Außerdem griff
Rabins Harel-Brigade den Feind 1948 mehrmals an, bis sie die Straße
nach Jerusalem freigekämpft und gesichert hatte. Sein «psychischer
Zusammenbruch» zwei Wochen vor dem Ausbruch des Sechstagekriegs ist
eine Episode, die Rabin mit seltener und vielleicht unvorsichtiger
Offenheit in seinen Memoiren schildert. Dagegen half schon ein
Beruhigungsmittel und eine gut durchschlafene Nacht. Sein «Rückzug
im Libanon 85» war weder der seine noch ein «Rückzug», sondern ein
Teilrückzug, befohlen von der Regierung der nationalen Einheit, in
der einige Minister entsetzt waren, daß die israelischen
Streitkräfte überhaupt so tief in den Libanon eingedrungen waren.
Und sein «Rückzug aus Gaza und Jericho» ließ einen Seufzer der
Erleichterung durch die Reihen der Soldaten und Reservisten gehen,
die Befehl hatten, die israelische Kontrolle über die Million elend
dort lebender Palästinenser aufrechtzuerhalten. Sogar Vertreter der
Rechten unterstützten den Schritt, der Rabin dann den
Friedensnobelpreis einbrachte.
Einige der amerikanischen Rabin-Gegner machten ihrem Ressentiment
nicht nur in randständigen Publikationen Luft, sondern mühten sich,
ihre Litanei seiner Verbrechen und kleineren Sünden in die
amerikanische Mainstream-Presse zu bringen. Meister in diesem Spiel
war Dr. Manfred Lehmann, ein Millionär aus Miami, der ein Vermögen
damit gemacht hatte, Teile seiner Sammlung von Judaica und seltener
Briefmarken zu verkaufen (letztere unter anderen an König Ibn Saud).
Von der Ausbildung her Orientalist, tat Lehmann nichts, um seine
bodenlose Verachtung für die Araber zu verhehlen, und bezeichnete
die Palästinenser bei Gelegenheit als Nazis. Und in den Blättern,
für die er regelmäßig schrieb, sparte er nicht mit Hieben gegen die
Verfechter des Friedensprozesses. Rabin
216
verglich er mit Marschall Petain und Außenminister Yossi Beilin mit
Hitlers Propagandaminister Joseph Goebbels.
So überraschte es, daß Lehmann im Oktober 1995 Gast bei einem
Abendessen war, das vom Präsidentenehepaar Clinton gegeben wurde,
die mit Rabin herzlich befreundet waren. Tatsächlich hatte das Weiße
Haus die Einladung an Sam Domb verschickt, der Clintons Wahlkampagne
1992 unterstützt hatte. Domb bat um die Erlaubnis, Lehmann
mitzubringen, und die Clintons vertrauten auf sein Urteilsvermögen.
Im Laufe des Abends sprach Lehmann Mrs. Clinton an und teilte ihr
mit, die Regierung Rabin ließe gewohnheitsmäßig jüdische Frauen
brutal verprügeln, die gegen den Osloer Friedensprozeß
demonstrierten. Mrs. Clinton gelang es offenbar mit Geschick, eine
Antwort auf dieses Gambit zu vermeiden, doch Lehmann gab sein Spiel
nicht auf. Denn am nächsten Tag rief ein Journalist im Weißen Haus
an und bat sie um ihre Antwort auf das, was sie von Lehmann erfahren
habe. Da es für Gäste des Präsidenten nicht üblich ist, den Inhalt
von Gesprächen bei privaten Anlässen der Presse mitzuteilen,
reagierte man im Weißen Haus erzürnt.
Trotz des Eklats schreckte Lehmann nicht davor zurück, seine
Botschaften mittels einer anderen Strategie in der Presse
unterzubringen, und diesmal außerordentlich erfolgreich. Im Februar
1996 veröffentlichte eine Reihe amerikanischer Zeitungen, darunter
das Wall Street Journal, eine Meldung, die in Washington und
Jerusalem großes Aufsehen erregte und den Friedensprozeß zu
gefährden drohte. Es ging um eine Ansprache Jasir Arafats bei einem
Klausurtreffen arabischer Botschafter in Stockholm. Thema der Rede
war, so hieß es, «Der kommende totale Zusammenbruch Israels». In dem
Bericht über das Treffen hieß es, Arafat habe den Diplomaten gesagt,
mindestens die Hälfte der russischen Einwanderer nach Israel seien
Christen oder Muslime, die, wenn der erwartete Bürgerkrieg dort
ausbreche, für einen vereinten palästinensischen Staat kämpfen
würden. «Wir Palästinenser werden überall die Macht übernehmen, auch
in ganz Jerusalem», habe er
217
angeblich prophezeit und hinzugefügt, große Schwierigkeiten würde es
nicht geben, da die meisten Juden nach Amerika auswandern würden.
«Sie müssen wissen, daß wir vorhaben, den Staat Israel zu
eliminieren und einen rein palästinensischen Staat aufzubauen. Wir
werden den Juden mittels psychologischer Kriegsführung und einer
Bevölkerungsexplosion das Leben unerträglich machen; die Juden
werden nicht unter uns Arabern leben wollen!» Seine Rede habe Arafat
mit einem Aufschrei beendet: «Ich kann mit Juden nichts anfangen;
sie sind und bleiben Juden! Wir brauchen jetzt all die Hilfe, die
wir von Ihnen bekommen können, in unserem Kampf für ein vereintes
Palästina in ausschließlich arabisch-muslimischer Hand.»
Die Berichte lösten auf höchster Ebene derartige Bestürzung aus, daß
sich die amerikanische und die israelische Botschaft in Stockholm
zusammen mit dem Mossad an die Untersuchung der Angelegenheit
machten. Wie sich herausstellte, hatte es tatsächlich ein Treffen
arabischer Botschafter in Stockholm gegeben, und Arafat hatte dabei
gesprochen. Doch es gab keine schriftliche oder Bandaufzeichnung
seiner Rede, und alles, was die Ermittler in die Hände bekamen,
waren heftige Dementis der Pressezitate durch Teilnehmer und Arafats
Büro in Gaza.
In den Vereinigten Staaten schrieb man die ursprüngliche Meldung
einer schwedischen Zeitung namens Dagen zu. Tatsächlich war sie am
16. Februar in einem gleichnamigen Blatt christlichcharismatischer
Ausrichtung im norwegischen Bergen erschienen. Verblüfft darüber,
daß ein norwegisches Provinzblatt die Riesen der Branche mit einer
solch heißen Story übertrumpft hatte, machte sich Akiva Eldar von
der Ha'aretz auf den Weg, um die Quelle der Meldung ausfindig zu
machen. Beim norwegischen Dagen konnte man nur sagen, daß ein
anonymer schwedischer Journalist die Information an einen Reporter
des Dagen weitergegeben habe. Die außenpolitische Redakteurin des
schwedischen Dagen erinnerte sich, daß ihr und einigen Kollegen die
Story ebenfalls von einem «projüdischen Journalisten» angeboten
wurde.
218
Man habe sie jedoch unter den Tisch fallen lassen, da die eigenen
Leute nicht in der Lage waren, die Zitate anhand anderer Quellen zu
erhärten.
Schließlich entdeckte Eldar, daß der Bericht zuerst gar nicht in
Skandinavien, sondern in New York veröffentlicht worden war, am 9.
Februar in American Jewish Week, von niemand anderem als Dr. Manfred
Lehmann, einem gebürtigen Stockholmer, der sich enger Kontakte zu
seinen schwedischen «Quellen» rühmte. Der anonyme «projüdische
Journalist» hatte Lehmanns Story dem norwegischen Dagen
untergeschoben, die amerikanischen und israelischen Blätter griffen
den Bericht auf, und das Karussell begann sich zu drehen.
Seltsamerweise entsprechen die angeblichen Zitate aus Arafats Rede
in der Jerusalem Post vom 23. Februar, die ebenfalls dem Dagen
zugeschrieben werden, fast wörtlich Lehmanns englischer Fassung. Die
Post fügte die noch merkwürdigere Bemerkung hinzu, erstmals seien
die entscheidenden Passagen von Arafats Rede schon am 7. Februar in
Israel bekanntgemacht worden, und zwar von dem «Off-shore-Sender
Arutz 7», der sie gewiß nicht aus dem Dagen hatte, wo die Story erst
sieben Tage später erschien.
Wie hatte Lehmann den gesamten Text der angeblichen Arafatrede in
die Hand bekommen? Das wollte er nicht sagen. Er sagte Eldar nur,
einer der anwesenden Botschafter habe seine Aufzeichnungen
«jemandem» in Stockholm überlassen, der sie dann ins Französische
übersetzt habe. Der geheimnisvolle Übersetzer gab seinen Text dann
einem ungenannten schwedisch-jüdischen Journalisten weiter, der ihn
ins Schwedische übertrug und dem norwegischen Dagen übermittelte.
Bis zum heutigen Tag gibt es keinen handfesten Beleg dafür, daß
Arafat die ihm von Lehmann zugeschriebene Rede jemals gehalten hat,
und der Millionär nahm die Wahrheit über seine Rolle in der Affäre
mit ins Grab.
Im Juli 1995 waren die Angriffe auf Rabin so heftig und allgemein
geworden, daß dem Premier eine grimmige Bemerkung über «eine
219
kleine Gruppe Rabbiner in Amerika» entfuhr, «die man besser als
Ayatollahs bezeichnen sollte». Anlaß dieser spitzen Bemerkung war
ein Vorgang, der gewiß als Krönung der Hetzkampagne gegen Rabin in
die Geschichte eingehen wird: der Aufruf zur Gewalt durch eines der
angesehensten Mitglieder des rabbinischen Establishments, Rabbiner
Abraham Hecht.
Mit seinen dreiundsiebzig Jahren war Rabbiner Hecht ein Mann von
großem Einfluß. Der New Yorker Kardinal O'Connor hatte ihm eine
Audienz beim Papst verschafft. Bürgermeister Giuliani hatte ihn bei
seiner Amtseinführung im Dezember 1993 auf die Ehrentribüne gebeten.
Als er im Dezember 1994 New York besuchte, hatte auch Rabin Hecht
Zeit und besondere Aufmerksamkeit gewidmet und ihn über die
Fortschritte des Osloer Prozesses unterrichtet, was der Rabbiner mit
stoischer Ruhe aufnahm. Hecht galt zwar nicht als Halacha-Autorität,
doch als Leiter der 54oköpfigen Rabbinical Alliance of America war
er als Mann mit exzellenten Beziehungen geschätzt, der die Karriere
junger Kollegen voranbringen konnte. Schon früh in seiner Laufbahn
hatte er sich politischen Tätigkeiten gewidmet, und während es mit
ihm steil bergauf ging, unterstützte er Rabbiner Kahane und schloß
sich Dov Hilkinds United Jewish Coalition an. Auch war er eine Säule
des Konservatismus in Fragen, die über die Grenzen der Halacha
hinausgingen. Als er sich 1989 für Giuliani einsetzte, verkündete
er, sein Kandidat werde in einer von Übeln wie vorehelichem Sex,
Abtreibungen und homosexuellen Verbrechen korrumpierten Stadt
endlich aufräumen, und er unterstützte (wie der örtliche
Ku-Klux-Klan) die milde Bestrafung eines Mörders durch einen
texanischen Richter, weil dessen Opfer nach dem Wort des Richters
«Schwuchteln» waren.
Über ein halbes Jahrhundert lang war Rabbiner Hecht mit der
Shaare-Zion-Synagoge am Ocean Parkway in Brooklyn verbunden gewesen,
mit einer Gemeinde aus überwiegend reichen, syrischstämmigen Juden.
Vielleicht haben sie nicht bemerkt oder waren nicht besorgt darüber,
daß ihr geistlicher Führer die Heiligkeit von
220
Groß-Israel vor allen anderen Werten verkündete. Nach dem 19. Juni
1995 jedoch war es schwieriger, gleichmütig zu bleiben. Denn an
jenem Tag sprach Hecht vor einer Versammlung der International
Rabbinical Coalition for Israel - einer Organisation von 3000
orthodoxen Rabbinern zur Rettung der besetzten Gebiete vor dem
Friedensprozeß - und machte dabei eine erschreckende Bemerkung. Die
Aufgabe irgendeines Teils des biblischen Lands Israel sei eine
Verletzung des jüdischen Religionsgesetzes, erklärte er seinen
Zuhörern, und so sei es erlaubt und notwendig, Rabin und alle seine
Helfer zu töten.
Die Reaktion unter den Zuhörern war gemischt. Viele der Rabbiner
unterschrieben eine Erklärung, in der Hechts Ansichten unterstützt
wurden. Anderen verschlug es die Sprache. Was immer sie über den
Sinn des talmudischen Gebots Din Rodef insgeheim gedacht oder im
vertraulichen Gespräch gesagt haben mochten, mit der öffentlichen
Verkündung eines solchen Urteilsspruchs ging Hecht entschieden zu
weit. Danach besuchten ein paar Kollegen Hecht in seinem Brooklyner
Büro und baten ihn inständig, seine Aussage zurückzuziehen. Doch
Hecht blieb unerbittlich. «Ich spreche nicht für mich, sondern für
das jüdische Gesetz», erklärte er, «und die Aufgabe von Gebieten ist
ein schweres Verbrechen im Judaismus». Tatsächlich verschickte Hecht
in den Monaten darauf Briefe an amerikanische Rabbiner, mit Kopien
für die israelischen Kollegen, in denen er seine Worte wiederholte.
Im August 1995 nutzte er das Forum der Jewish Press für einen
offenen Brief «an alle Rabbiner in den USA», in dem er bekräftigte,
daß «die Thora den Einsatz der äußersten Mittel gegen jene
gestattet, die unseren jüdischen Mitmenschen Schaden zufügen».
Darüber hinaus erklärte er, die israelischen Offiziere, die nach
Amerika geschickt wurden, um den Osloer Friedensplan zu erläutern,
seien «hier nicht erwünscht, und wir müssen bereit sein, sie als das
bloßzustellen, was sie sind: Feinde des jüdischen Staates und des
jüdischen Volkes.»
Am 9. Oktober 1995 bekundete Rabbiner Hecht im New York Magazine,
ihm sei «buchstäblich schlecht» wegen des Friedens-
221
Prozesses, «denn er frißt mich bei lebendigem Leibe auf». Auf die
Frage, wie er sich fühlen würde, sollte jemand aus seiner Erklärung
vom Juni den Schluß ziehen, daß er das Recht habe, Rabin zu töten,
antwortete Hecht: «Ich würde gar nichts fühlen ... Rabin ist kein
Jude mehr. Dieser Mann hat so viel Schaden angerichtet. Das kann ich
ihm nicht vergeben.» Zur umstrittenen Erklärung selbst sagte er:
«Ich habe doch nur gesagt, daß gemäß dem jüdischen Gesetz jede
Person - nehmen Sie, wen Sie wollen -, die willentlich, bewußt und
absichtlich Menschen oder Eigentum oder den menschlichen Reichtum
des jüdischen Volkes einem fremden Volk überantwortet, sich der
Sünde schuldig macht, die unter Todesstrafe steht. Und bei
Maimonides - zitieren' Sie mich ruhig - heißt es ganz klar: Wenn ein
Mann ihn tötet, hat er eine gute Tat vollbracht.»
Wie, so fragte sein Gesprächspartner, könne dieses Prinzip mit dem
Gebot «Du sollst nicht töten» vereinbart werden?
«Das Gebot sagt, ich soll nicht morden, und nicht, <Du sollst nicht
töten>», erklärte Hecht mit einem Glanzstück semantischer Akrobatik.
«Wenn es sagt <Du sollst nicht töten>, kann man ja nicht in den
Krieg ziehen. Und auch keine Hühner schlachten.»
In der letzten Oktoberwoche gab Hecht, inzwischen überall gefragt,
dem Korrespondenten des ersten israelischen Fernsehens, Ya'akov
Ahimeir, ein Interview, in dem er nachdrücklich wiederholte: «Ich
habe gesagt, Maimonides zufolge gilt für jeden, der Land oder
Menschen Israels an Fremde aushändigt - daß jeder, der rasch genug
zur Stelle ist, das Vorrecht hat, ihn zu töten.»
«Welcher Schluß ist daraus zu ziehen?» fragte Ahimeir, erstaunt, daß
jemand sich derart vor laufender Kamera äußerte. «Daß, Gott bewahre,
dem Ministerpräsidenten von Israel Schaden zugefügt werden sollte?»
«Nein, nein -»
222
«Sie sagen, daß jeder, der -»
«Ja», bestätigte Hecht. «Aber ich hatte nicht das Vorrecht.» «Was
meinen Sie damit, <Ich hatte nicht das Vorrecht>?» «Ganz einfach. Er
lebt noch», sagte Hecht lachend. Ahimeir war über das Material, das
er auf Band hatte, so bestürzt, daß er beschloß, es nicht zu senden,
um nicht Gefahr zu laufen, daß er oder sein Sender der Mordhetze
angeklagt würden. Erst nach dem Attentat gab er das Interview frei.
Rabbiner Hechts Ausfälle waren die klarsten in aller Offenheit
ausgestoßenen Hetzworte. Als angesehenes Mitglied des orthodoxen
rabbinischen Establishments hörten oder lasen Hunderte von Rabbinern
seine Tiraden. Nur eine Handvoll widersprach ihnen öffentlich. «Die
Stimme Hechts ist nicht die eines einsamen, verrückten Extremisten»,
fühlte sich das New York Magazine verpflichtet zu erklären, als es
das Interview brachte, «sondern die eines wachsenden Chors jüdischer
Militanter, die die Grenze einer berechtigten Diskussion
überschritten haben und sich das Recht herausnehmen, zur Gewalt
aufzurufen - und selbst Gewalt zu üben.»
In diesem Netz war auch der republikanische Bürgermeister von New
York, Rudolph Giuliani, gefangen.
Ehrengast bei seiner Amtseinführung war Dov Hilkind, ein beliebter
Politiker Anfang Vierzig, der mal als offenherzig und schlagfertig,
mal als schrullig und laut beschrieben wird. Er war auf der Liste
der Demokraten in das Parlament des Staates New York gekommen und
hegte Hoffnungen, eines Tages den Weg nach Washington zu schaffen.
Hilkind, 1950 im Brooklyner Distrikt Williamsburg geboren, wuchs in
der grauen Welt eines selbstauferlegten Ghettos auf, das die
orthodoxen Juden als Bollwerk gegen die Assimilation errichtet
hatten. Als Sohn von Holocaust-Überlebenden, die sich 1947 in New
York niedergelassen hatten, fühlte er sich von Kahanes Evangelium
angezogen, das die Zukunft der amerikanischen Juden in
apokalytischen Tönen zeichnete, und 1970, als er am Queens College
studierte, schloß er sich der Jewish
223
Defense League (JDL) an. Er beteiligte sich an deren
Patrouillengängen, die die Bewohner der jüdischen Viertel vor der
Gewalt armer und zorniger Schwarzer schützen sollten. Hilkind gewann
unter den jungen «Milizionären» rasch den Ruf eines geborenen
Anführers, der sich besonders bei den «Kommandounternehmen» der JDL
und anderen Protestaktionen hervortat. Zusammen mit neun
Bundesgenossen wurde er erstmals festgenommen, als die Gruppe die
Amtsräume der sowjetischen UN-Botschaft stürmte und sich mit
Handschellen an das Tor fesselte. Als Zugabe stürmte er gemeinsam
mit einem anderen JDL-Aktivisten die ägyptische Botschaft und
entfachte eine Schlägerei, bei der drei Botschaftsangehörige
verletzt wurden.
Derlei Gebaren mag Hilkinds Karriereaussichten in der Politik nicht
verbessert haben, doch es war Qualifikation genug, uni von Rabbiner
Kahane zur rechten Hand in der JDL erkoren zu werden. Seitdem lernte
er eine ganz andere Spielart politischer Bildung kennen. Hilkind zog
sich 1973 offiziell aus der Führungsriege der JDL zurück und wurde
Chef der SOIL (Save Our Israeli Home-land), einer neuen
Kahane-Gründung, der Juden auf den Leim gehen sollten, die sich vom
kriegerischen Gehabe der JDL abgestoßen fühlten. Kahane hatte sein
Hauptquartier inzwischen nach Jerusalem verlegt, befehligte jedoch
von hier aus immer noch die New Yorker Operationen. Wie er
arbeitete, geht aus einem Brief an ein Führungsmitglied der JDL
hervor (der der Village Voice zugespielt wurde):
«SOIL unter Dov H. ist ein gutes Beispiel dafür, was gemacht werden
kann. Ich denke, wir sollten Dov zum nächsten Vorstandstreffen [der
JDL] einladen, damit er erklärt, was getan wurde und wird. Alle
SOIL-Namen sollten diskret der JDL überlassen werden, die diese
Leute erst viele Wochen später kontaktieren darf, ohne zu sagen, daß
man die Adressen von SOIL hat. Arbeiten Sie eng mit Dov zusammen.
Ich habe ihm gesagt, er soll Ihnen zuhören.»
224
Und er lauschte und lernte gut. Zwanzig Jahre später nutzte Hilkind
immer noch den Namen der angeblich moderaten SOIL, um Zulauf für
Demonstrationen gegen das Osloer Abkommen zu gewinnen.
Hilkinds Assistent bei der SOIL war Victor Vancier, ein stämmiger
junger Mann, dessen hauptsächliche Arbeit darin bestand, Sprengsätze
und Molotowcocktails zu basteln. Seinen Dutzenden von gewalttätigen
Attacken auf Schwarze, Mitarbeiter sowjetischer Einrichtungen und
Araber verdankte er die Aufnahme in die «Terroristen»-Kartei des
FBI. Man konnte ihn schließlich festsetzen und vor Gericht stellen.
Er hatte einen Bombenanschlag auf eine sowjetische
Diplomatenresidenz in New York verübt sowie während eines Auftritts
der Moiseyev Dance Company einen Kanister Tränengas in die
Metropolitan Opera geworfen. Im Oktober 1987 wurde Vancier zu zehn
Jahren Haft in einem Staatsgefängnis verurteilt, doch schon nach der
Hälfte dieser Zeit wurde er entlassen und avancierte zu einem Star
der jüdischen Medien New Yorks. In Zev Brenners
Samstagabend-Talkshow «Talkline» pries er Baruch Goldstein als
«Zaddik» (heiliger Lehrer) und nannte Rabin einen «Verräter und
Judenmörder». Als Gastmoderator für zwei Sendungen im
Kabelfernsehen, «Positively Jewish» und «Jewish Task Force», nutzte
er die Gelegenheit zu Tiraden gegen Schwarze, Araber und NichtJuden
im allgemeinen.
Wundersamerweise fiel der Schatten von Vanciers Verbrechen nie auf
seinen Chef bei der SOIL, obwohl Hilkind selbst ähnlicher
Machenschaften verdächtigt worden war. 1976 stand er vor einem
Bundesgericht, weil er nach der Stürmung der nach Entebbe entführten
Air-France-Maschine durch ein israelisches Kommando eine Rauchbombe
in die ugandische UN-Mission geworfen hatte. Ein Jahrzehnt später
verdächtigte ihn das FBI, an der Planung einer Serie von sechs
Bombenanschlägen gegen arabische Ziele in New York, Massachusetts
und Kalifornien beteiligt gewesen zu sein -bei denen ein Mensch
getötet und mehrere verletzt wurden -, doch Beweise gegen ihn waren
nicht aufzutreiben. Mindestens fünf
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26-10-04 |