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Judentum und Israel
   
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Der Samstagabend des 4. November 1995:
Der Mord

Ernest Goldberger

Eigentlich wollte ich am Samstagabend des 4. November 1995 an der Kundgebung für die Friedenspolitik der regierenden Arbeiter-Partei teilnehmen, doch döste ich nach einem zweistündigen Tennisspiel am Nachmittag in wohliger Faulheit über einem Buch ein, bis es zu spät war.

Zipi (Anm.: die Frau des Autors) durfte als Armeeangehörige sowieso nicht an politischen Demonstrationen teilnehmen und liess sich von meiner Passivität anstecken. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir je so früh zu Ben gegangen wären wie an jenem Abend, als ob wir vorausahnend vor einer der schicksalsschwersten Stunden in der Geschichte Israels flüchten wollten.



Am anderen Morgen holte ich die Tageszeitung «Jedioth achronoth» vor der Haustür, um gewohnheitsgemäss mit dem Kaffee die Schlagzeilen einzuschlürfen. Diese waren an diesem Tage viel grösser als sonst und bestanden nur aus zwei Worten: «Rabin nirzach» («Rabin ermordet»). Als ich dann las, dass ein jüdischer und religiöser Student die Bluttat ausgeführt hatte, beschlich mich so etwas wie eine Vorahnung vom Ende des Staates Israel. Dieses Gefühl bin ich seither nicht mehr losgeworden.

Wer war Rabin, und warum wurde er ermordet? Wer ist der Mörder, und warum hat er gemordet? War es eine Tat eines isolierten Fanatikers oder ein Symptom der gesellschaftlichen Situation, der Seele Israels?

Yitzchak Rabin wurde am 1. März 1922 als Spross einer alteingesessenen Familie in Jerusalem geboren. Er durchlief im Galil (Galiläa) eine Landwirtschaftsschule, in der er sich als bester Schüler so auszeichnete, dass ihn der damalige britische Hochkommissar Harold MacMichael mit einer Urkunde ehrte. Er wollte sich in den USA als Bewässerungsingenieur weiterbilden, um mit dem erworbenen Wissen die Landwirtschaft in seinem wasserarmen Geburtsland zu fördern. Doch bevor er die Studienreise antreten konnte, brach der Zweite Weltkrieg aus.

Besonders seit dem Eintritt Italiens in den Krieg an der Seite von Nazi-Deutschland im Juni 1940 bestand die grosse Gefahr eines Einmarsches der Achsenmächte in Palästina über den Suezkanal. Die jüdische Bevölkerung gründete daher im Jahre 1941 die «Palmach», eine Eliteeinheit innerhalb der militärischen Selbstverteidigungsorganisation «Haganah». Der nachmalige Generalstabschef und Aussenminister Moshe Dayan warb Rabin für diese Gruppe an. Sehr rasch wurde er dank seiner Fähigkeiten Leiter eines Kommandos der «Palmach». Nach der für die Briten siegreichen Schlacht bei El-Alamein im Herbst 1942 war die Gefahr für Palästina gebannt. Die militärischen Gruppen der jüdischen Bevölkerung wollten aber im Hinblick auf die feindselige Haltung der Araber trotzdem ihre Kampfkraft stärken und organisierten zudem das Einschmuggeln von Überlebenden des Holocaust, nachdem die Briten ihre Blockaden verstärkt hatten.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wollte Rabin sein Studium in den USA doch noch beginnen, doch erkannte der nachmalige Generalstabschef Yigal Alon seine Fähigkeiten als militärischer Führer und hielt ihn zurück. Im Unabhängigkeitskrieg kommandierte Rabin eine Brigade der «Palmach», welche unter grossen Verlusten den Versorgungsweg für den belagerten jüdischen Teil Jerusalems aufrecht erhielt. Danach wurde er Stellvertreter des Oberbefehlshabers der Südfront, Yigal Alon, und war massgeblich an der Eroberung der Negev-Wüste beteiligt. 1964 wurde Rabin Generalstabschef der israelischen Armee und in dieser Eigenschaft verantwortlich für den Sechstagekrieg vom Juni 1967, in dessen Verlauf Jerusalem wiedervereinigt wurde.

Von 1968 bis 1973 amtierte er als Botschafter Israels in den USA. 1974 wurde er Ministerpräsident, trat dann aber 1977 zurück, als ein eifriger Journalist entdeckte, dass seine Ehefrau Lea in den USA ein bescheidenes Bankkonto unterhielt, was damals gegen die Devisenbestimmungen verstiess. Im Jahre 1984 trat er als Verteidigungsminister wieder in die Politik ein und füllte diese Position bis 1990 aus. 1992 wurde er Vorsitzender der Arbeiter-Partei, welche die Wahlen im gleichen Jahre gewann, sodass er wiederum zum Ministerpräsidenten aufstieg. 1994 erhielt er, zusammen mit seinem Parteikollegen Peres und dem Palästinenser-Führer Arafat, den Friedensnobelpreis für den Abschluss des so genannten Osloer-Abkommens ein Jahr zuvor.

Als Persönlichkeit zeigte sich Rabin anders als die meist betont forsch auftretenden militärischen und politischen Führer seines Landes. Er erschien sensibler, zurückhaltender, selbstkritischer und hob fast nie die Stimme. Manchmal wirkte er geradezu verlegen und dann wieder wie ein trotziges Kind, das sich zu Recht gegen unechte Autoritäten auflehnt. Bill Clinton, der ehemalige Präsident der USA, liebte und respektierte ihn und fühlte sich mit ihm in Freundschaft verbunden. Unvergesslich ist mir als Ausdruck dieser Seelenverwandtschaft die Szene haften geblieben, in der Clinton im Weissen Haus dem nicht an förmliche Kleidung gewohnten Rabin dessen schlampig umgebundene Krawatte mit einem väterlichen Lächeln liebevoll zurechtrückte.



Rabin wollte sein Land fruchtbar machen, wurde aber durch die Umstände gezwungen, es mit der Waffe in der Hand zu verteidigen. Trotzdem er dies mit Erfolg tat, verlor er seine Sensibilität nicht und spürte, dass eine Lösung des israelisch-palästinensischen Konfliktes, eine Befriedung der Region, mit militärischen Mitteln nicht möglich sei. Schon im Herbst des Jahres 1986 kündigte sich diese innere Umstellung an, als er in einer Gedenkrede für seinen Freund, den ehemaligen Generalstabschef Yigal Alon, zur Bekämpfung des arabischen wie des jüdischen Terrors aufrief und von psychologischen Barrieren in beiden Lagern sprach, die es zu überwinden gelte. Zum ersten Mal rückte ein Politiker an der Regierungsspitze vom Dogma des absoluten im Rechtseins ab, wenn auch nur andeutungsweise und für viele noch nicht vernehmbar, und bezog die israelische Seite in die Verantwortung für die Friedenssuche in der Region mit ein. Sehr zum Ärger der religiösen Orthodoxie bemerkte er kurz danach in einer anderen Ansprache, die Bibel sei kein Kataster für politische Entscheidungen. Mit dieser Einstellung gelang ihm eine Aufweichung der bisherigen Bunkermentalität und des Feindbildsyndroms.

Die Folge waren Geheimverhandlungen zwischen israelischen Vertretern und Delegierten der PLO (Palestine Liberation Organisation) in Oslo auf Vermittlung norwegischer Politiker. Vom Januar bis August 1993 fanden insgesamt 15 Sitzungen statt. Vorher aber musste die Knesset noch ein Gesetz aufheben, das jegliche Kontakte mit der PLO verbot. Am 30. August 1993 orientierte Rabin seine Koalitionspartner über die getroffenen Vereinbarungen mit der Bemerkung, die Zeit sei gekommen, dem Frieden eine Chance zu geben. Das Kabinett bestätigte das Osloer Grundsatzdokument bei zwei Stimmenthaltungen. Wenige Tage danach traf auch die Zustimmung der PLO ein. Arafat anerkannte brieflich das Recht Israels auf Existenz in Frieden und Sicherheit und verpflichtete sich, alle ausstehenden Fragen auf dem Verhandlungswege zu lösen. Im Gegenzug anerkannte Rabin die PLO als Vertreterin des palästinensischen Volkes und verpflichtete sich, mit ihr Friedensverhandlungen aufzunehmen. Wenige Tage danach reichten sich Rabin und Arafat auf dem Rasen vor dem Weissen Haus in Washington die Hände.

Das Osloer Abkommen ist zwar kein Friedensschluss, aber doch ein Rahmenvertrag auf dem Weg dazu. Es legte vor allem fest, dass sich die israelischen Truppen zunächst aus Gaza und Jericho zurückziehen und alle anstehenden Probleme auf dem Verhandlungswege gelöst werden sollten. Die offenen Fragen betrafen in erster Linie die palästinensische Selbstverwaltung, Jerusalem, das Flüchtlingsproblem, die Siedlungstätigkeit, Sicherheitsregelungen und die endgültigen Grenzen. In der Folge zog Israel seine Truppen aus Gaza und allen Städten des Westjordanlandes und den Ballungszentren der arabischen Bevölkerung ab. In diesen Gebieten, die als Zone A bezeichnet wurden, übernahm die PLO die volle Autonomie. Sie wird seither PA («Palestinian Authority»), auf Deutsch «Palästinensische Autonomiebehörde», genannt. In einer zweiten Zone B wurde die Verwaltung ebenfalls der PA übertragen, doch ist diese gemeinsam mit Israel für die Sicherheit verantwortlich. In der Zone C ist Israel allein für Verwaltung und Sicherheit zuständig. Bis heute hat das Osloer Abkommen zu keinem Friedensschluss geführt. Die Gründe werde ich im Kapitel «Frieden» darlegen.

Die Vereinbarung wurde von der Knesset am 23. September 1993 mit nur 61 Stimmen gegen 50 Opponenten angenommen. Netanyahu, der Vorsitzende der rechts stehenden Likud-Partei und nachmaliger Ministerpräsident, bezeichnete den Plan als «Brückenkopf zur Zerstörung Israels». Sharon, der heutige Ministerpräsident, rief dazu auf, Arafat zu verhaften, sobald er den Fuss über den Jordan setzt. Gemäss verschiedenen Umfragen war die Bevölkerung zu etwa 60 Prozent für die Friedenspolitik der Regierung. Die rechts stehenden Nationalisten und die «Religiösen» fanden sich aber nicht mit der Tatsache ab, dass ein Friedensschluss mit den Palästinensern das Ende des Traumes von einem Gross-Israel und von einer Annexion der in der Bibel erwähnten Gebiete Judäa und Samaria bedeute. Ihre unerbittliche Fixierung auf diese Vorstellung liess sie nicht die gut sichtbaren, schwerwiegenden und mannigfachen Gefahren und die ethische Fragwürdigkeit erkennen, welche durch eine Herrschaft über Millionen von Arabern heraufbeschwört werden.

Gerade weil Rabin ein Held des Unabhängigkeitskrieges und der Befreier von Jerusalem im Jahre 1967 war, wurde er als Verräter verteufelt. Auf Aufklebern, an Wänden, Autos und Spruchbändern wurde Rabin als Mörder, Hund, Tyrann, Kollaborateur mit einem Kriegsverbrecher, Ausverkäufer des Vaterlandes, Vorsitzender des Judenrates in den Konzentrationslagern, Quisling und ähnlichen Bezeichnungen geschmäht. Seine Regierung wurde als blutige Verbrecherbande hingestellt. Viele Parolen spielten auf die Nazizeit an. Die rechtsextreme Bewegung «Su Arzenu» («Dies ist unser Land») nannte ihn einen Tyrannen, dessen Tage gezählt sind. An einer Kundgebung in Jerusalem wurde, für alle sichtbar, Poster mit Rabin in einer SS-Uniform hochgehoben. Netanyahu als Hauptsprecher und Likud-Vorsitzender sah es, ohne einzuschreiten und fuhr unberührt in seiner Rede fort, als die Rufe aus der Menge «Rabin ist ein Verräter» immer lauter wurden.
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Neben Netanyahu stand Katsav, der nachmalige Staatspräsident, ohne im Anblick dieser Niedertracht sein stets zur Schau gestelltes Lächeln abzulegen. In keiner wirklichen Demokratie wäre eine derartig fanatische Hetz- und Aufwiegelungskampagne gegen einen gewählten Staatsführer denkbar und ohne rechtliche Folgen geblieben.

Viele Rabbiner putschten die Stimmung gegen die Friedenspolitik Rabins mit der Vorschiebung von religiös-doktrinären Argumenten weiter auf. Zunächst verboten sie allen «religiösen» Soldaten und Zivilisten, sich an Aktionen zur Räumung von Ortschaften und Stellungen im Westjordanland zu beteiligen, ohne dass dieser gesetzwidrige Aufruf zum Ungehorsam irgendwie verfolgt worden wäre. Dann diskutierten sie in aller Offenheit, ob Rabin ein «Rodef» oder «Mosér» wäre. Als «rodef» wird nach dem jüdisch-archaischen Recht jemand bezeichnet, der einen Juden verfolgt. Ein «moser» ist eine Person, der einen Juden oder dessen Besitz an NichtJuden ausliefert. Solche Personen können nach den Vorschriften der «Halacha» ohne Gerichtsverfahren getötet werden.

*Anm. 1: Der im Mai 2003 verstorbene Journalist und Kommentator Arie Caspie schrieb zwei Wochen vor dem Mord in der Tageszeitung «haArez»: «Der Ausruf "Rabin ist ein Verräter" könnte einen rechtsgerichteten Zuhörer dazu veranlassen, mit diesem "Verräter" abzurechnen. Und die Ausrufer wissen dies.» (Sinngemässe Übersetzung).

Aus: Die Seele Isaels
Ernest Goldberger  - 2004, ca. 520 Seiten, Gebunden ca. € 38,- ISBN 3-7705-4024-7 Auslieferung Schweiz: NZZ, Zürich

Mene Mene Tekel:
Die Zeichen des Mordes standen an der Wand

Die Zeichen des Mordes an Rabin standen gross an der Wand, eingemeissell mit Hass, tiefer Feindseligkeit, Gesprächsunfähigkeit, einem überbordenden gesellschaftlichen Narzissmus und geschmückt mit den Wahrzeichen einer entleerten Religion. In dieser hysterischen Atmosphäre waren keine weiteren Begründüngen für den Mord notwendig. Es blieb nur die Frage, wer ihn begehen würde...

 


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