Juni 1967:
Israels Sechstagekrieg
Aus dem Kapitel "Helden" aus Tom Segevs Buch
1967 - Israels zweite
Geburt
Abie
(Teil 3, der erste Teil liegt
hier, der zweite
da)
Im Sechstagekrieg kulminierten Ereignisse, die bereits
Jahre vorher ihren Anfang genommen hatten. Seit Mitte der sechziger Jahre
griff die Fatah, die Bewegung zur nationalen Befreiung Palästinas,
militärische und zivile Ziele in Israel an. Die Fatah betrachtete diese
Aktionen als direkte Fortsetzung der Kämpfe von
1948.
Obwohl die Israelis die Palästinenser als feindliche Macht außer Acht
ließen, markierte der Krieg, der im Juni 1967 ausbrach, im Grunde nur eine
neue Runde im Konflikt der beiden Völker. Die Terroristen, die vor dem Juni
1967 nach Israel einsickerten, taten dies häufig von syrischem Staatsgebiet
aus und erhöhten die Spannungen an der nördlichen Grenze.
Am 7. April schoss die israelische Luftwaffe in Reaktion auf derartige
Infiltrationen sechs Maschinen der syrischen Luftwaffe ab. Weitere Warnungen
und Drohungen, die in Israel unmittelbar vor dem Unabhängigkeitstag im Mai
geäußert wurden, erweckten den Eindruck, Israel stehe kurz vor einem Angriff
auf Syrien, das mit Ägypten einen Beistandspakt im Verteidigungsfall
geschlossen hatte. Mitte Mai entschieden die Ägypter sich zur Intervention
und ließen in der Wüste Sinai Truppen aufmarschieren.
Die prägnanteste Schilderung dieser Entwicklung lässt sich den
Kabinettsprotokollen vom 16. Mai 1967 entnehmen. »Im Lichte der
Informationen und Gesuche, die Ägypten aus Syrien betreffend der
israelischen Absichten erreichen, umfassend gegen Syrien vorzugehen«,
erklärte Premierminister Levi Eschkol, »im Lichte der israelischen
Erklärungen und Warnungen der letzten Tage und im Lichte der schwierigen
Situation, in der sich Ägypten seit dem 7. April befindet, hat Ägypten den
Entschluss gefasst, dass es angesichts des gegenwärtigen Stands der Dinge
nicht untätig zusehen kann.«
Eschkol zufolge wollte Ägypten Israel davon abhalten, seine Drohungen gegen
Syrien wahr zu machen.
Die Spannung an der ägyptischen Front griff rasch auf die jordanische und
die syrische Front über. Während der Krieg mit Ägypten auf Israels
Demoralisierung und ein Gefühl der Hilflosigkeit zurückzuführen war,
drückten sich im Kampf gegen Jordanien und Syrien Machtstreben und
messianischer Eifer aus.
Die Ereignisse, die zum Krieg führten, sein Verlauf und die Folgen sind
detailliert untersucht und analysiert worden; will man verstehen, warum er
überhaupt ausbrach, reicht die Kenntnis der diplomatischen und militärischen
Hintergründe jedoch nicht aus. Vonnöten ist vielmehr die eingehende
Beschäftigung mit den Israelis selbst.
1966 waren sie durch ein emotionales, politisches und moralisches Erdbeben
tief erschüttert worden. Damals lebten nur knapp über 2,3 Millionen Juden
und etwas mehr als 300.000 Araber im Land. Immer mehr Israelis verloren den
Glauben an sich und versanken in Depression, Zweifeln und schließlich
Verzweiflung. »Was sollen wir tun, Leute, was sollen wir nur tun«, klagte
der Songschreiber Chaim Hefer. »Nichts gelingt, es gibt nicht das kleinste
bisschen Glück... Alles ist deprimierend, jedermann traurig. Nichts klappt,
und keiner weiß, warum.«
Israel machte damals eine tiefe wirtschaftliche Rezession durch, und die
Einwanderung ging drastisch zurück. Zehntausende kehrten dem Land sogar
dauerhaft den Rücken. Die europäische Kultur der Aschkenasim wurde durch den
Zustrom von Misrachim, jüdischen Immigranten aus arabischen Ländern,
bedroht, was zu sozialen Spannungen und Ressentiments führte. Diese
Entwicklungen zogen eine tiefe und schmerzhafte Identitätskrise nach sich,
und die zionistische Vision schien am Ende zu sein. »Wir sind ein
erbärmliches Volk«, sagte ein Mapai-Politiker, und viele zogen den Schluss,
dass »das Unternehmen gescheitert« sei, wie eine Zeitung schrieb.
In den Vorkriegsmonaten herrschte das weit verbreitete Gefühl, dass die
Grundwerte des Staates - Opferbereitschaft und nationale Einheit - an
Gewicht und Bedeutung verloren hatten, ohne dass etwas anderes an ihre
Stelle getreten wäre. Unter Rückgriff auf die Hauptlehren des Zionismus
stritten die Leute viel, und oft ging es dabei nicht nur um
Auseinandersetzungen zwischen »links« und »rechts«, sondern eher um eine
grundsätzliche Überprüfung des israelischen Traums selbst. Viele hatten den
Eindruck, dass die Gesellschaft auseinanderfiel. Vor diesem Hintergrund
erklärte ein Redakteur von Ma'ariv das Bedürfnis so vieler Israelis, Abie
Nathan zu lieben und ihn als Helden zu verehren, so: »Du hast uns wenigstens
für einen Tag aus der schrecklichen Routine herausgerissen, die an unseren
Nerven zerrt.«
Die Krise, die dem Sechstagekrieg voranging, war tiefgreifend. »Ich habe
große Angst«, schrieb der Landwirtschaftsminister Chaim Gvati in sein
Tagebuch. Israel habe seiner Beobachtung nach seit dem Unabhängigkeitskrieg
vor keiner so schweren Prüfung mehr gestanden. »Allen ist klar, dass das ein
Kampf auf Leben und Tod ist.« Im Ministerpräsidentenamt hörte Gvati, die
Sowjetunion habe offenbar beschlossen, »bis zum Äußersten zu gehen und nicht
einmal vor der Zerstörung Israels zurückzuschrecken«. Diese Berichte
entbehrten jeglicher Grundlage, aber die auf Vernichtung eingestellten
Israelis ließen kein Gerücht unbeachtet. Soldaten auf Wochenendausgang
erzählten von Niedergeschlagenheit und schlechter Kampfmoral. »Es kursieren
Gerüchte, dass wir nicht auf einen Krieg vorbereitet seien... und es
herrscht kein Vertrauen, dass wir es mit unseren Feinden aufnehmen können«,
schrieb der Minister. Auch diese Angst war in Wirklichkeit unbegründet. Eine
Kabinettssitzung, an der Gvati teilnahm, unterbrach Stabschef Jizchak Rabin
mit der Mitteilung, dass vier ägyptische MiG-Flugzeuge sowjetischer Bauart
in den israelischen Luftraum eingedrungen seien. Die Flugzeuge waren wieder
vertrieben worden, aber offenbar hatten zwei Gelegenheit gehabt, den
Atomreaktor in Dimona zu fotografieren.
In Erwartung der Apokalypse kam vielen Israelis der Holocaust in den Sinn.
»Wie ist das möglich?«, schrieb eine Frau aus Ramatajim einer ehemaligen
Klassenkameradin, die in Los Angeles lebte. »Keine 25 Jahre sind seit dem
Zweiten Weltkrieg vergangen, und jetzt passiert es wieder?« In einem Bericht
an Präsident Lyndon B. Johnson hieß es, Efraim Evron, ein israelischer
Diplomat in Washington, habe die Vereinigten Staaten »mit Tränen in den
Augen« um Unterstützung angefleht.
Als der Krieg endlich ausbrach, verbrachte Minister Gvati die ersten Stunden
mit seinen Nachbarn im Luftschutzkeller. Am nächsten Tag war die ganze
Angelegenheit so gut wie vorbei. »Es war der größte Tag in unserem Leben,
vielleicht in der ganzen Geschichte des jüdischen Volkes«, schrieb er. Die
meisten Israelis glaubten, dass die Armee sie vor der Vernichtung gerettet
habe. Viele bezeichneten den Sieg als ein Wunder, als seien sie der
Unterwelt entronnen und ins Paradies eingezogen. Im Leitartikel der
Zeitschrift Jediot Aharonot war von »der Hand Gottes« die Rede. Das
Untergangsgefühl verschwand; nun konnte die Geschichte von Neuem beginnen.
Zwei beliebte Witze machen diesen Stimmungsumschwung deutlich: In dem
ersten, der vor dem Krieg erzählt wurde, hängt in der Abflughalle des
Flughafens von Lod ein Schild, auf dem der Letzte, der das Land verlässt,
aufgefordert wird, das Licht auszumachen. Der zweite Witz kam nach dem Krieg
auf: Zwei Offiziere denken darüber nach, wie sie den Tag verbringen können.
»Erobern wir doch einfach Kairo«, schlägt der eine vor. Der andere erwidert:
»Schön, aber was machen wir nach dem Mittagessen?«
Einige Monate vor dem Krieg hatte Moshe Dayan Vietnam besucht. »Die
Amerikaner gewinnen hier alles - außer den Krieg«, schrieb er nach seiner
Rückkehr. Kurz nach dem Juni 1967 hätte man über die Israelis das Gegenteil
sagen können: Das Einzige, was sie gewonnen hatten, war der Krieg. Außer den
im Krieg besetzten Gebieten hatten sie nichts hinzugewonnen. Zunächst von
Angstgefühlen und dann vom Siegesrausch überwältigt, handelten sie im
emotionalen Überschwang häufig gegen ihre nationalen Interessen, ein
Verhaltensmuster, das die Israelis häufig den Arabern zuschrieben. Der
britische Botschafter meldete verwundert an seine Vorgesetzten in London:
»Es ist wirklich bemerkenswert, wie oft sich die Israelis arabischer
benehmen als die Araber.«
Weder die vor dem Krieg herrschende Panik noch die Euphorie danach waren
berechtigt. Und genau deshalb ist die Geschichte Israels im Jahr 1967 so
schwer zu verstehen.
Tom Segev:
1967 - Israels zweite
Geburt
[BESTELLEN?]
Gebundenes Buch, 800 Seiten, 15,0 x 22,7 cm
ISBN: 978-3-88680-767-3
Erscheinungstermin: Mai 2007 bei
Siedler
Tom Segev schildert Ursachen, Verlauf und Auswirkungen des Sechstagekriegs,
den Israel im Juni 1967 mit seinen arabischen Nachbarstaaten führte.
Spannend und kenntnisreich zeigt er, wie dieser Krieg zu einer
folgenschweren weltpolitischen Auseinandersetzung wurde, die Israel
tiefgreifend verändert hat.
Der Sechstagekrieg jährt sich im Juni 2007 zum 40. Mal. |