Helden:
Abie Nathans Flug nach Kairo
Die Zeit vor dem Sechstagekrieg 1967
Aus dem Kapitel "Helden" aus Tom Segevs Buch
1967 - Israels zweite
Geburt
Abie
(Teil 2, der erste Teil liegt
hier, der dritte
dort)
... Nach dem Schulabschluss konnte Abie sich nicht
entscheiden, ob er Anwalt oder Schauspieler werden sollte. Am Ende beschloss
er, Pilot zu werden, und trat in die indische Luftwaffe ein. Nach dem Umzug
nach Israel wurde er 1948 einer der ersten Piloten in der israelischen
Luftwaffe und bombardierte im Unabhängigkeitskrieg mehrere arabische Dörfer.
Als er einmal die Ruinen des Dorfes Sa'asa im Norden Israels besichtigte,
fand er den Ort verlassen und die meisten Häuser zerstört vor. Unter den
Ruinen entdeckte Abie verbrannte Leichen. »Ich stürzte in eine tiefe
Depression«, erzählte er später. »Ich machte mir immer mehr Gedanken
darüber, was der Krieg den Menschen antut.« Er nahm auch an dem Luftangriff
auf den »Kessel von Faludscha« teil, einer ägyptischen Festung in der Nähe
des Kibbuz Negba im Süden Israels.
Unter den ägyptischen Offizieren, die den Angriff
überlebten, war Gamal Abd el-Nasser, der spätere Präsident von Ägypten.
Nach dem Krieg bekam Abie zunächst eine Stelle als Pilot bei der
israelischen Fluggesellschaft El Al, ehe er das California eröffnete. Der
stattliche Mann, der überall seinen Charme spielen ließ, heiratete, bekam
eine Tochter, ließ sich scheiden und pflegte sein Image als romantischer
Playboy, wohlhabend und großzügig, der an eine bessere Welt glaubte. Häufig
spendete er für wohltätige Zwecke.
Abie war ein neuer Heldentypus, der sich von Yechiam Weitz (siehe
Segevs Buch)
vollkommen unterschied. Hier der aus Jerusalem hervorgegangene Krieger, der
das Nationalepos verkörperte, dort die liebenswerte Tel Aviver Berühmtheit,
die das gute Leben symbolisierte. Irgendwann in den Jahren dazwischen hatte
sich Israel verändert und war zu einem Land geworden, das sich von der
Vision seiner Gründer deutlich entfernt hatte.
Anfang der sechziger Jahre hatte die israelische Luftwaffe den Slogan
geprägt: »Die Besten gehen zur Luftwaffe«. Der Slogan war umstritten, schlug
aber ein. Aufgrund seiner Geschichte als Pilot im Unabhängigkeitskrieg hatte
Abie sich einen Platz unter »den Besten« verdient. Die Tatsache, dass er
einen Privatjet besaß, wenn auch nur geleast, wurde als aufregende Neuerung
betrachtet. Im Gegensatz zur Arbeitsmoral der ersten Zionisten, der von
ihnen geschaffenen sozialistischen Wirtschaft und der von ihnen geförderten
nationalen Ideologie - die den Landwirt im Kibbuz glorifizierte und den
städtischen Unternehmer schmähte - tauchte Abie als einer der ersten
Vertreter einer amerikanischen Kultur auf, die allmählich in Israel Einzug
hielt. Der von bezaubernden Frauen umgebene Abie war ein tollkühner Mann,
der sich von den Fesseln gesellschaftlicher Normen frei machte, obwohl er
nie ein echter Revolutionär war. Als 40-jähriges Kind hatte er außerdem den
eigentlichen Sinn des Lebens entdeckt: Frieden schließen. Seine Freunde
überredeten ihn, für die Knesset-Wahlen vom November 1965 zu kandidieren.
Abie versprach seinen Wählern, nach Ägypten zu fliegen, um mit Nasser
Friedensgespräche zu führen.
Der Friedenspilot Abie Nathan 1966
In Israel werden Parteien auf dem Wahlzettel durch zwei oder drei hebräische
Schriftzeichen dargestellt. Abies Zeichen waren nun-samech, die zusammen das
hebräische Wort für »Wunder« ergeben. Er erhielt nur 2135 Stimmen, aber
seiner Beliebtheit tat das keinen Abbruch. Im Gegenteil: Sein politisches
Scheitern verstärkte noch sein Image, zu den Besten zu zählen. Abie träumte
immer noch davon, mit Nasser zu sprechen, auch wenn er niemals verriet und
vermutlich auch nicht wusste, was er denn dem ägyptischen Präsidenten bei
dem Treffen sagen wollte - als hätte schon das Treffen als solches die
Kraft, den Gang der Geschichte zu beeinflussen. Er warb häufig für die Idee
und bat prominente Persönlichkeiten weltweit um Unterstützung.
UN-Untergeneralsekretär Ralph Bunche versuchte ihm einmal mit großem Ernst
zu erklären, weshalb nicht die geringste Chance bestand, dass Nasser die
Initiative aufgriff. Außenminister Yigal Allon kam ins California und
versuchte Abie ebenfalls von der Eskapade abzubringen, doch laut Abie
versprach Allon am Ende des gemeinsamen Mittagessens, Abie auf dem Flug zu
begleiten.
Es lässt sich kaum sagen, wann genau aus dieser typischen Dizengoff-Idee ein
konkretes Projekt wurde. Abie redete so viel darüber, dass schließlich seine
Integrität und sein Mut auf dem Spiel standen. Er hatte das Gefühl, er müsse
seinen Freunden, und vielleicht sich selbst, beweisen, dass er - um des
Friedens willen - zu seinem Wort stand. Im Februar 1966 rief er in einer
Anzeige dazu auf, eine Petition zu seiner Unterstützung zu unterschreiben.
Viele Israelis kamen der Bitte nach, weil sie sich von Abies Versprechen
anstecken ließen, mit einem Abstecher über die Grenzen des kleinen Israel in
die Sphären des Friedens vorzustoßen. Sie wollten ebenso sehr, dass Abies
Flug stattfand, wie die Briten sich fast ein Jahrhundert zuvor gewünscht
hatten, dass Phileas Fogg die Welt tatsächlich in achtzig Tagen umrundete.
Vielleicht verspürten sie das »Fernweh«, das Amos Oz bei der Kibbuz-Jugend
ausmachte, einen Schmerz, den Menschen empfanden, die sich abgeschottet
fühlten: »Sie sehnen sich nach anderen Orten, die zwar unbestimmt sind, aber
fern.«
Wie dem auch sei: Die massive Unterstützung bestärkte Abie jedenfalls in
seinem Eifer. Er beriet sich mit seinem Anwalt, machte sein Testament und
lud Journalisten ein, sich die Kisten anzusehen, die seiner Aussage nach
Zehntausende Unterschriften enthielten. Als die Hunderttausender-Marke
erreicht war, beschloss er, nun sei es an der Zeit zu handeln.
Am Morgen des 28. Februar 1966 wurde Abie vom Telefon geweckt. Zwi Elgat,
ein Reporter von Ma'ariv, war am Apparat. Eine Stunde später kam Elgat
vorbei, um Abie zu dem kleinen Flugplatz in Herzlija zu fahren, wie sie es
am Abend zuvor an der Bar des California verabredet hatten. Unterwegs holten
sie noch den Fotografen der Zeitung ab. Dem Flugplatzpersonal sagten sie,
dass Abie gekommen sei, um ein Bild von sich neben dem Flugzeug zu machen,
das er von einer Düngemittelfirma gemietet habe. Es war eine einmotorige
Stearman aus dem Jahr 1927, Abies Geburtsjahr, mit offenem Pilotensitz. Auf
Hebräisch, Englisch und Arabisch war der Name »Peace 1« auf das weiße
Flugzeug gepinselt.
Abie setzte sich in Fliegermontur an den Steuerknüppel, schaute direkt in
die Kamera und startete plötzlich den Motor. »Eine Sekunde, vielleicht einen
endlosen Moment lang, stand mir das Herz still«, schrieb Elgat am nächsten
Tag. »Ich hatte das Gefühl, dass das Ganze am Ende vielleicht nur ein Traum
war. Ich ging zu ihm und rief. Meine Stimme wurde von dem Propeller
übertönt. Ich trat näher. 'Abie, willst du fliegen?' Er nickte. Ich wusste
es. Ich konnte stolz auf ihn sein. Abie hatte es geschafft! Ich werde nie
erfahren, wer aufgeregter war - Abie oder ich selbst. Ich weiß nur, dass ich
noch Zeit hatte, ihn zu fragen: 'Abie, hast du Angst?' Er war blass, hatte
den Pilotenhelm aufgesetzt, und er signalisierte ein einziges Wort: 'Nein!'
Dann hob er ab. Einen Moment lang wollte ich es nicht glauben.«
Elgat war als einziger Reporter dabei, doch als die
Exklusivstory erschien, war von einer amerikanischen Nachrichtenagentur in
Kairo bereits die Meldung eingetroffen, dass das Flugzeug abgestürzt und
Abie Nathan tot sei. Der beliebte Restaurantbesitzer wurde schlagartig zum
Nationalhelden. »Ich werde jeden verklagen, der sagt, dieser Mann sei nichts
als ein Selbstdarsteller gewesen«, schwor Elgat. Die Meldung von Abies Tod
stürzte das ganze Land in Trauer. Die Tageszeitungen Ma'ariv und Jediot
Aharonot brachten Sonderausgaben, Rundfunksender unterbrachen ihr Programm.
Scharen von Menschen versammelten sich vor dem California, viele weinten,
als hätten sie einen Freund und eine Hoffnung verloren. Seine engsten
Freunde, zum großen Teil Künstler und Medienleute, drängten sich im
Restaurant und unterhielten sich im Flüsterton. Plötzlich erhob einer von
ihnen, der Besitzer einer Galerie, seine Stimme: »Ich bin sein bester
Freund, aber ich habe die Petition nicht unterschrieben. Niemand hätte sie
unterschreiben dürfen. Ihr habt ihn nach Ägypten in den Tod geschickt. Ihr
habt ihn umgebracht!« Es herrschte eine schreckliche, bedrückende Stille.
Und dann drängte sich der Songschreiber Chaim Hefer durch die Menge und
rief: »Er lebt! Er lebt!« Eben hatte man es im Radio bekannt gegeben.
Der Nachrichtenagentur Associated Press, die ursprünglich seinen Tod
gemeldet hatte, war ein Fehler unterlaufen. Nach dem Start hatte Abie die
Maschine scharf in Richtung Mittelmeer gedreht und war so tief geflogen, wie
er konnte, um dem Radar der israelischen Luftwaffe auszuweichen. Als er über
Tel Aviv flog, berührte er fast die Dächer; über dem Meer spritzte ihm die
Gischt ins Gesicht. Die Luftwaffe spürte ihn aber trotzdem auf und sandte
Flugzeuge aus, die ihn zurückholen sollten, doch er weigerte sich und flog
einfach weiter. Und dann verloren sie ihn. Er hatte weder ein Funkgerät noch
genügend Treibstoff, um Kairo zu erreichen. Er kam bis Port Said, eine
Hafenstadt an der nördlichen Mündung des Suezkanals, wo er sicher landete,
sich dem verblüfften Flughafenpersonal vorstellte und darum bat, zu Nasser
gebracht zu werden. Die Ägypter krümmten ihm kein Haar. Sie brachten ihn zum
zuständigen Provinzgouverneur, bewirteten ihn reichlich und erlaubten, dass
er über Nacht blieb. Ja, sie fuhren ihn sogar in die Stadt, damit er sich
einen Pyjama kaufen konnte. Dann brachten sie ihn zum Flugplatz zurück. Am
Abend spielte er mit den Wachen Karten und gewann. Am nächsten Tag schickten
sie ihn wieder nach Hause.
Die Menschen im Restaurant umarmten und küssten sich, als die Meldung, dass
er noch am Leben war, eintraf. Tränen der Freude vermischten sich mit Sekt.
Auf dem Bürgersteig sprach jemand ein Dankgebet. Die Nachricht machte rasch
die Runde, und es gingen Meldungen von spontanen Feierlichkeiten im ganzen
Land ein. Soldaten in Kirjat Gat kauften eine Flasche Cognac und forderten
Passanten auf, auf Abies Wohl zu trinken. Am nächsten Tag strömten Tausende
von Menschen zum Flugplatz, um ihn zu begrüßen, und die Rollbahn musste
geräumt werden, damit er landen konnte. Seine Anhänger erdrückten ihn fast.
Es war ein entschieden israelischer Moment: Nichts war charakteristischer
für die Israelis als dieser plötzliche Wechsel von lähmender Depression zu
überschäumender Freude, von tiefer Verzweiflung zum Jubel über die Rettung.
Im Jahr 1967 sollte sich dies wiederholen.
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Fortsetzung...
Tom
Segev: 1967 - Israels zweite Geburt
[BESTELLEN?]
Gebundenes Buch, 800 Seiten, 15,0 x 22,7 cm
ISBN: 978-3-88680-767-3
Erscheinungstermin: Mai 2007 bei
Siedler
Tom Segev schildert Ursachen, Verlauf und Auswirkungen des Sechstagekriegs,
den Israel im Juni 1967 mit seinen arabischen Nachbarstaaten führte.
Spannend und kenntnisreich zeigt er, wie dieser Krieg zu einer
folgenschweren weltpolitischen Auseinandersetzung wurde, die Israel
tiefgreifend verändert hat.
Der Sechstagekrieg jährt sich im Juni 2007 zum 40. Mal.
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