
Jiddisch:
Wiederbelebung einer Sprache, die nie tot war
Shmuel Atzmon
In einem köstlichen jiddischen Rätsel wird gefragt: "Farvoss
farmacht der hon die oigen ven er krayt?" (warum schließt der Hahn
die Augen, wenn er kräht?), und die Lösung ist: "Veil er kenn ess
off oisenvaynig!" (weil er es auswendig kann!). Frage und Antwort
passen recht gut auf den Juden und sein Verhältnis zum Jiddischen.
Entweder kennt er es auswendig oder gar nicht. In Wahrheit kennen es
die meisten Juden nicht.
Wenn das Überleben des jüdischen Volkes während zweitausend
Jahren Verbannung als geschichtliches Wunder gilt, was sollen wir
vom Überleben der jiddischen Sprache sagen, nachdem die Mehrheit
derer, die sie gesprochen haben, in der Shoah ermordet worden ist?
Daß sie überlebt hat, ist in sich Grund genug, die jiddische
Sprache, ihre Literatur und ihr Theater zu erhalten und sie wieder
leben zu lassen im Gedenken an die Millionen Jiddisch sprechender
Menschen, die in der Shoah umgekommen sind. Wie Isaac Bashevis
Singer sagte: "Jiddisch ist die Sprache der Toten, keine tote
Sprache." Darüber hinaus müssen wir dieses reiche und bereichernde
jiddische Erbe erhalten, weil das jiddische Idiom zu stark, beißend,
evokativ, humorvoll, saftig, lebhaft und lebendig ist, um
unterzugehen und aus der menschlichen Erfahrung getilgt zu werden.
Solange es Juden auf der Bühne gibt, wird "Mammeloschen" dabei sein.
Nachdem das ursprüngliche Jiddisch recht gut verstanden wurde im
Lande Israel, dessen eigene Sprache die Grundlage für das sich vor
tausend Jahren zu entwickeln beginnende Idiom darstellte, wollte
Jiddisch einfach nicht verschwinden, und konnte es nicht unterdrückt
werden, so wie der Glaube und der Optimismus von Tewye, des "Fiddler
on the Roof". Eigentlich "Tewye der Milchmann" genannt, faszinierte
er als "Fiddler" die ganze Welt und brachte das Leben des "Alten
Landes" auf jede Bühne.
Hansen
und die drei Shmuliks
(Vergrößerung: Klick!)
Und es war in der Tat der berühmteste "Fiddler", Shmuel Rodensky,
der diese Rolle in der bekanntesten deutschen Theaterproduktion
("Anatevka") verkörperte, und mit ihr begann der kulturelle
Austausch zwischen dem Staat Israel und dem Deutschland nach Hitler.
Der verstorbene Shmuel Rodensky, einer der großen jüdischen
Schauspieler des 20. Jahrhunderts, war ein Begründer des in den
achtziger Jahren so populären Trios der "Drei Shmuliks" - Shmuel
Rodensky, Shmuel Segal und Shmuel Atzmon, das anläßlich des 120.
Geburtstages des bedeutenden jiddischen Schriftstellers Scholem
Aleichem entstanden war. Die drei wurden mit der "Kleine
Menschelech" 1988 zu den Wiesbadener Maifestspielen eingeladen. Und
es war eigentlich dort, daß die Idee geboren wurde, ein jiddisches
Theater ins Werk zu setzen. Und das kam so: Der frühere deutsche
Botschafter in Israel Dr. Niels Hansen, seit kurzem NATO-Vertreter
in Brüssel, befand sich unter den Ehrengästen, die der Aufführung
beiwohnten. Er hatte bei der Arrangierung des Gastspiels geholfen,
und war mit Rodensky befreundet, der in seinem Haus in Herzliya
gesungen hatte und von dem er zusammen mit seiner Frau Barbara 1985
als einzige Ausländer zu einer zu Ehren des Mimen veranstalteten
großen Fernsehparty eingeladen worden war. Als Gastgeberin fungierte
die hessische Staatsministerin für Kultur und Wissenschaft Dr. Vera
Rüdiger. Auch ich sprach bei dem feierlichen und anregenden Abend
ein Grußwort, und ich schlug bewußt vor, daß Deutschland und Israel
das jiddische Theater vor dem Aussterben bewahren sollten, dessen
künstlerisches Gewicht in Israel abnimmt, und ich zitierte dabei
Bashevis Singer. Frau Rüdiger hob spontan die Hand und kündigte an,
daß sie einen beträchtlichen Zuschuß in die Wege leiten werde, um
beim Aufbau eines jiddischen Theaters in Israel zu helfen.
Bei meiner Rückkehr nach Israel wandte ich mich mit Hansens
Unterstützung an den Tel Aviver Bürgermeister Shlomo (Tschitsch)
Lahat, der ein begeisterter Freund des Jiddischen ist. Er nahm die
Fackel sogleich auf: "Wir werden mit dem jiddischen Theater in Tel
Aviv beginnen, mit jüdischem Geld und aus unserer eigenen Kraft."
Gleichzeitig bat er mich, die Sache in die Hand zu nehmen, was ich
gewiß nicht ablehnen konnte und wollte.
Hinsichtlich Dr. Rüdigers Großzügigkeit meinte er, wir sollten
sie zu einer Mitwirkung des Theaters bei kommenden Maifestspielen
nutzen. So brachten wir im August 1987 unsere erste Inszenierung
heraus, Scholem Aleichems "Schwer zu sein a Jid", womit das
Jiddische Theater des Staates Israel seine Pforten geöffnet hatte.
Mit ihr vertraten wir Israel 1988 in Wiesbaden. Es ist eine Ironie
der Geschichte: Die Errichtung eines jiddischen Theaters wurde von
der Stadtverwaltung Tel Aviv und dem Staat Israel veranlaßt, was die
Erneuerung des historischen Bündnisses der beiden Sprachen und
Kulturen beeinflußte.
Heute, sechs Jahre später und nach fünfzehn klassischen und
modernen Inszenierungen sowie der Mitwirkung an neun internationalen
Festspielen in Wiesbaden (1993 verlas dabei der Präsident des
Hessischen Landtags Karl Starzacher bei einem Empfang nach der
Aufführung von Abraham Goldfadens klassischer Operette "Die
Machscheife" - Die Hexe - eine Rede in fehlerfreiem Jiddisch!),
Berlin, Moskau, London, Warschau und Jerusalem, bereiten wir uns auf
einen weiteren Arbeitsabschnitt in unserem neuen von C6cile und Leon
Fishman gestifteten Auditorium vor, einem modern ausgestatteten
Theater mit Simultanübersetzung ins Hebräische für alle israelischen
"Gojim".
Und wenn heute jemand fragt, ob für die jiddische Sprache und ihr
Theater Hoffnung besteht, kann ich nur mit einem weiteren Zitat von
Bashevis Singer erwidern: "Aufs Jiddische sind fünfhundert Jahre
lang Grabreden gehalten worden, und vielleicht dauert es noch
fünfhundert Jahre, bis es verschwindet." Niels Hansen, der große
Optimist, wird mir gewiß darin beipflichten, daß über die
fünfhundert Jahre Leben dieser großartigen Kultur nicht zu spaßen
ist. Jiddisch muß weiterleben und Teil der Kultur des sich
erneuernden Israel werden. Und natürlich soll es als kulturelle
Brücke zwischen Deutschland und Israel dienen.
Aus der "Festschrift aus Israel", herausgegeben
1994 zum 70. Geburtstag von Niels Hansen, ehemals deutscher
Botschafter in Israel:
Recht und Wahrheit bringen Frieden.
hagalil.com
17-10-2004 |