Als der Zug in den Bahnhof von Kiel einfuhr, war aus meinem
Herzen der festsitzende Ärger darüber verflogen, daß sich nicht das
gewünschte Ausmaß von Haß auf Wilhelm Kunde bei mir eingestellt
hatte. Momentan war aus meiner Erinnerung die stämmige Gestalt des
Hauptscharführers in der säuberlich gebügelten Uniform ausgelöscht.
Die knirschenden Bremsen übertönten das letzte Stöhnen meiner
Mutter, als er mit einem Schlag seines Pistolenkolbens ihren Schädel
zertrümmerte, einer Parabellum, damals die übliche Waffe der
SS-Offiziere.
Der Bahnhofslärm zerstreute das letzte Nachsinnen darüber. Ich nahm
meinen Koffer und stieg aus. Die verglaste Kuppel des weitgespannten
Bahnhofsdaches über mir war wie ein durchsichtiger Schirm, der die
Sonnenstrahlen siebte. Ich stand einen Augenblick mit dem Koffer in
der Hand und beobachtete die Leute, die dem Ausgang zustrebten. Eine
junge Frau kam mit energischen Schritten auf mich zu, blieb vor mir
stehen, blickte mich prüfend an und sagte: "Hoffentlich hatten Sie
eine gute Reise, Herr Frister." Was unterschied mich von all den
übrigen Reisenden? Sendete ich eine besondere Botschaft aus, die sie
instandsetzte, mich zu erkennen? Ich konnte es nicht ausmachen. Sie
benahm sich, als wären wir alte Bekannte. Ich fragte:
"Entschuldigung, kennen wir uns?"
"Nein, wir sind uns nie begegnet. Jedenfalls nicht im üblichen
Wortsinn. Aber ich kenne Sie, oder genauer: ich kenne Ihre
Lebensgeschichte. Ich bin vertraut mit den Geschehnissen der Zeit,
derentwegen Sie jetzt hier sind. Schauen Sie mich bitte nicht so
verblüfft an, Herr Frister. Ich werde Ihnen alles gleich erklären...
Ist das Ihr ganzes Gepäck?" "Ja. Ich komme nicht in die Ferien." Sie
reagierte leicht distanziert.
"Das hätten Sie nicht zu sagen brauchen. Ich kann Ihren
Seelenzustand begreifen."
"Ich wollte Sie nicht kränken. Übrigens, ich verstehe noch nicht,
womit ich Ihnen behilflich sein kann."
"Ich bin es, die Ihnen helfen möchte. Oder genauer: helfen in der
Arrangierung von Formalitäten wie Hotel, Restaurant, Auto. In den
Kleinigkeiten. Ich gehöre zum Diakonischen Werk der lutherischen
Kirche. Die Kirche sieht es als ihre Aufgabe an, sich um Menschen
wie Sie zu kümmern. Zum Prozeß von Kunde reisen etwa ein Dutzend
Zeugen an. Sie kommen aus der ganzen Welt, und wir wollen ihnen
zeigen, daß es auch ein anderes Deutschland gibt. Wir sehen darin
einen wichtigen Beitrag, der Gerechtigkeit wieder ihren gebührenden
Platz einzuräumen."
"Ist es möglich, das nicht Wiedergutzumachende gutzumachen?" "Ich
weiß nicht." Sie hob die Schultern. "Ich war ein Kind, als all das
passierte. Aber wenn es keinen Sinn hat, Dinge, die passiert sind,
wiedergutmachen zu wollen, hat es auch keinen Sinn, Kunde auf die
Anklagebank zu setzen."
"Möglicherweise haben Sie recht. Entschuldigen Sie das, was ich
gesagt habe."
"Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Ich verstehe das, was in
Ihrem Herzen vorgeht. Haben Sie bereits ein Hotel bestellt?"
"Nein."
"Ich möchte das Hotel Rebs empfehlen. Wir haben dort ein Zimmer
für Sie reservieren lassen. Aber Sie können natürlich, wenn es Ihnen
nicht zusagt, ein anderes nehmen. Es gibt genug in Kiel. Wir sind
eine Stadt, die sich über Besucher freut. Mein Auto steht vor dem
Bahnhof. Bitte folgen Sie mir."
Sie hatte einen alten Volkswagen, doch fuhr sie, als ob sie hinter
dem Steuer eines Luxusautos säße. Sie war etwa dreißig, mit einem
hübschen Gesicht, nicht geschminkt. Mit einem marineblauen
Baumwollkleid, die Ärmel bis zum Ellbogen und ein weißer Kragen wie
von einer Gymnasialschülerin. Sie strahlte ganz den Charme von
Einfachheit und Unbefangenheit aus. Sie wollte meinen Koffer nehmen,
was ich nicht zuließ. Als sie die Autotür öffnete, fragte ich: "Wenn
Sie es mir verraten wollen: wie heißen Sie?"
"Um Himmels willen, bei all dem Gerede habe ich vergessen mich
bekanntzumachen. Sie müssen verstehen, ich sehe nur so still und
ruhig aus. Im innersten bin ich ziemlich aufgeregt. Zum ersten Mal
im Leben habe ich so eine Aufgabe. Ich wußte ja nicht, wie Sie auf
mich reagieren würden... Ich heiße Trude, Trude van Gluck. Ich bin
flämischer Abstammung, wie Sie gewiss erraten haben."
Wir fuhren, wie mir schien, auf einer Hauptstraße. Blattstraße las
ich auf dem Schild an der Ecke. "Es ist nicht weit", bemerkte sie,
und dann erzählte sie, ohne daß ich sie darum gebeten hätte, ihre
Lebensgeschichte. Sie hatte eine besondere Sprechweise, Wort folgte
auf Wort, als ob sie fürchtete, ich hätte keine Geduld ihr
zuzuhören. Ihr Vater war Arzt gewesen, der in einer
Freiwilligeneinheit von Anton Mussert diente. Sie sagte, er sei an
der Ostfront gefallen. In seinem letzten Brief schrieb er, daß er
den Frost der Steppen Weißrußlands nicht überstehe, doch werde man
nicht erfahren, wie er umgekommen sei. Nach seinem Tod wurde er mit
dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet.
"Ich hoffe, daß ich Sie mit meiner Geschichte nicht belästige.
Das ist persönlich, sehr persönlich. Und trotzdem finde ich es
richtig, es Ihnen zu erzählen. Gerade Ihnen."
"Das ist in Ordnung. Ich bin nicht sehr sentimental."
"Ich merke das. In diesen Jahren wurden nicht nur Menschen gemordet,
sie haben auch Seelen zerstört."
"Warum drücken Sie sich abstrakt aus? Die Mörder hatten einen Namen.
Gedächtnisschwäche? Nicht die Jahre haben gemordet und zerstört,
sondern die Deutschen."
Offensichtlich hatte ich einen wunden Punkt getroffen, denn
plötzlich polemisierte sie mir gegenüber mit einer Aggressivität,
die ich ihr nicht zugetraut hätte: "Wenn Sie bei genauen
Definitionen bleiben wollen, müssten Sie sagen: die Nazis."
Ich nickte. Und überlegte, ob sie meine vorbehaltlose Zustimmung
hinterfragen würde, als sie ihre Aufmerksamkeit nach vorne auf den
Verkehr richtete. Erst als sie fortfuhr "Das war in Auschwitz, nicht
wahr?", merkte ich, dass sie mir gespannt zuhörte.
"Auschwitz und Mauthausen. Fünfsterne-Hotels."
"Damit scherzt man nicht."
"Ich erlaube mir zu scherzen", sagte ich etwas überheblich, als ob
ich den Abgrund hervorheben wollte, der sich zwischen uns aufgetan
hatte.
"Sie machen es mir nicht leichter", bemerkte sie.
"Was erwarten Sie? Freundschaft? Verständnis?"
"Ich weiß nicht. Ich bin ziemlich verlegen ... eigentlich ja.
Vielleicht habe ich Verständnis erwartet. Ist das zu viel verlangt?"
Ich schwieg, und sie schwieg ebenfalls. Der Wagen hielt vor dem
Hoteleingang. Ich wollte mein Gepäck nehmen und mich von ihr
verabschieden, doch überlegte ich es mir, als ich ihr enttäuschtes
Gesicht betrachtete. "Was halten Sie von einem Gläschen Cognac mit
mir?", schlug ich vor.
"Ich trinke keine scharfen Sachen", antwortete sie, und fügte
sogleich hinzu: "Ich möchte Sie herzlich zu einem einfachen Essen
einladen. Keine Sorge, das wird mich nicht belasten. Man gab mir
etwas Geld für bescheidene Ausgaben. Ich kenne ein kleines gutes
Restaurant in der Nähe."
Das Restaurant war nett, mit einem leichten Küchengeruch in der
Luft, wie das manchmal bei Familienrestaurants vorkommt. Ein Kellner
brachte uns Speisekarten. Trude van Gluck legte die ihre zur Seite.
"Vielleicht habe ich einen Fehler gemacht, als ich Ihnen von meinem
Vater und von seinem Orden erzählte", begann sie entschuldigend.
"Ich sagte Ihnen schon, daß das in Ordnung ist."
"Ich habe bemerkt, daß Sie ein höflicher Mensch sind. Ihr Vater war
Rechtsanwalt, nicht wahr? Eine gutbürgerliche Familie. Kein Wunder,
daß Sie höflich sind. Und Ihr Deutsch ist so flüssig... Einen
Augenblick vergaß ich, daß Sie Jude sind. Oder genauer: Israeli. Das
ist nicht das gleiche, stimmt's? Vielleicht habe ich unter den
gegebenen Umständen meine Worte schlecht gewählt. Aber ich möchte so
gerne, daß Sie verstehen. Oder, genauer, jedenfalls versuchen zu
verstehen."
"Ich verstehe, Frau van Gluck", sagte ich vage.
"Nennen Sie mich Trude, Fräulein Trude. Ich weiß, was mit Ihrer
Mutter geschehen ist. Das ist schrecklich. Und es ist schrecklich,
daß Sie, als es geschah, dabei waren."
"Sie meinen, der Mord sei weniger schrecklich, wenn ich nicht dabei
gewesen wäre?"
"Legen Sie mich nicht auf ein Wort fest, Sie wissen, was ich sagen
will".
Ich lächelte. "Natürlich weiß ich ... Ja. Das war schwer. Sie fiel
hin, und Kunde befahl mir, mich neben sie zu legen. Ich legte mich
zu ihr. Ich spürte, wie ihr Körper kalt wurde. Minuten vergingen.
Jede Minute wurde mir zur Ewigkeit. Ich lag bewegungslos und wartete
auf den Tod. Niemals werde ich wissen, warum ich am Leben blieb."
"Er ermordete sie... Er ermordete sie einzig, weil sie Jüdin war?"
"Ja und nein. Natürlich, ohne Juden gewesen zu sein, wären wir nicht
in diese Lage geraten. Trotzdem, in diesem Fall gab es noch einen
anderen Grund. Nachdem wir in dem Teil der Stadt verhaftet worden
waren, der damals 'arisch' genannt wurde, brachte man uns zum Verhör
in Kundes Büro. Der Hauptscharführer wollte wissen, von wem uns
geholfen worden war, wer uns gefälschte Personalpapiere beschafft
hatte, wer in der Stadt noch unsereins versteckte. Meine Eltern
sagten mir, mich nicht zu äußern, doch auch ohne dieses Gebot hätte
ich gar nichts verraten können - aus dem einfachen Grund, weil ich
nichts wusste. Alles geschah im geheimen, und als Kind wurde ich
nicht eingeweiht. So halfen also nicht einmal die Fußtritte Kundes,
mich zum Sprechen zu bringen. Um die Wahrheit zu sagen, im ganzen
verspürte ich den Schmerz nicht. Mehr litt ich, als er meinen Vater
und meine Mutter schlug. Möglicherweise trug ich deswegen ein Gefühl
von Schuld im Herzen. Sie fragen warum? Ich werde es Ihnen sagen. Es
war im Mai 1943. Ich arbeitete damals als Laufjunge im Dienste des
Grafen Pototzki. Der Graf hatte Karpfenteiche und eine
Fischkonservenfabrik. Da ich Deutsch sprach - gewiß haben Sie in den
Gerichtsunterlagen gelesen, daß ich in Schlesien geboren bin -,
bekam ich die Aufgabe, Geschenkpakete in die Häuser der Offiziere
und höheren Beamten auszutragen. Als ich einmal nach der Arbeit nach
Hause ging, hielten mich zwei Gendarmen der Schutzpolizei an. Sie
wären nicht auf mich gekommen, hätte sie nicht ein jüdischer
Denunziant, der sie begleitete, mit ausgestrecktem Finger auf mich
hingewiesen."
"Ein jüdischer Denunziant?" wunderte sich Trude.
"Er gab sich der Illusion hin, auf diese Weise sein Leben retten
zu können."
"Das ist eine unbeschreibliche Gemeinheit."
"Ich bin nicht schnell bei der Hand, solche Menschen gemäß den
Normen zu richten, die in einer normalgebildeten Gesellschaft gültig
sind. Die Gemeinheit war untrennbarer Anteil einer dunklen Zeit, und
deshalb ist es nicht an uns, die Taten des Denunzianten nach den
Normen der Zeit des Lichts zu bewerten."
"Jetzt tue ich mich schwer zu begreifen."
"Wer nicht dort war, wird nie begreifen, weil er keinen
Vergleichsmaßstab hat. Aber lassen Sie mich meine Geschichte zu Ende
erzählen. Die Gendarmen prüften meine Papiere und befanden sie in
Ordnung. Ich atmete erleichtert auf. Der Denunziant ließ sich jedoch
seine Beute nicht entgehen. Auf seinen Rat befahlen sie mir, die
Hosen herunterzulassen, und entdeckten, daß ich beschnitten war. Es
hatte keinen Sinn mehr zu leugnen. Ich hatte keine Wahl und wurde
gezwungen, sie zu unserer Wohnung zu führen. Die Eltern waren zu
Hause."
"Sie waren ein Kind. Was konnten Sie anderes tun?"
"Ich konnte versuchen zu flüchten und mich töten zu lassen. Aber ich
tat es nicht, weil ich Angst hatte zu sterben. Das ist etwas, das
mich bis ans Ende meiner Tage verfolgen wird. Als ich sah, wie meine
Eltern im Büro von Kunde geschlagen wurden, war ich mir meiner
Schuld bewusst. Mein Vater antwortete einfach nicht auf seine
Fragen; er tat so, als verstünde er kein Deutsch. Meine Mutter bot
ihm ihren Schmuck als Gegenleistung für unsere Freilassung an. Kunde
nahm den Vorschlag an. Die Schmucksachen waren in der Wohnung
polnischer Nachbarn versteckt. Mutter und Kunde gingen zusammen
dorthin. Unterwegs benahm er sich wie ein Gentleman, lud Mutter zu
Tee und Kuchen in ein Café "nur für Deutsche" ein, pries ihre
frauliche Erscheinung, ihre Herzensstärke und Umsicht. Aber sein
Versprechen hielt er nicht. Haft und Untersuchung gingen weiter -
bis Mutter die Geduld riss und sie ihn laut an die
Geschäftsgrundlage erinnerte. Sollte die Geschichte vielen bekannt
werden, würde man ihn natürlich der Bestechlichkeit anklagen. Es war
also klar, dass er eine Zeugin vernichtete, die ihn zu vernichten
drohte."
"Und was war das Schicksal Ihres Vaters?"
"Er starb im Lager."
"Es tut mir leid."
"Mir auch."
"Ich bitte um Verzeihung. Aber glauben Sie mir, wenn ich Bedauern
zum Ausdruck gebracht habe, so war das nicht nur so hingesagt. Es
war so gemeint... Gott im Himmel, vielleicht wird es mir nie
gelingen, diesen schrecklichen Dingen auf den Grund zu kommen.
Vielleicht war es ein Fehler, mich für eine solche Aufgabe zu
melden. Es gibt in Kiel viele Frauen, denen es nicht eingefallen
wäre, sich freiwillig mit jemandem wie Ihnen konfrontieren zu
lassen. Was sollen sie sich etwas aufladen? Wozu sich Rechenschaft
ablegen? Sie leben ihre Leben im Treibhaus der Fülle. Mann, Kinder,
angenehme Wohnung, Ferien auf Mallorca. Habe ich mich gehäutet, als
ich glaubte das Unrecht sühnen zu können? Was treibt mich nur von
innen, ohne es bremsen zu können, ein Teil jenes Prozesses der
Wiedergutmachtung zu sein, den Sie gewiß mißachten? Das sind Fragen,
auf die ich niemals eine Antwort finden werde. Bevor ich ging, um
Sie auf dem Bahnsteig zu treffen, nahm ich das Eiserne Kreuz meines
Vaters in die Hand. Es liegt auf der Kommode im Schlafzimmer meiner
Mutter. Ich lasse es dort liegen, denn auch sein Tod war ein Tod
unter Qualen. Ich erinnere sein Gesicht nur undeutlich, und deshalb
wärmt alles, was von ihm übrigblieb, mein Herz. Ich verbinde nicht
alle Gedanken an ihn mit dem Heldenmut, der ihm die Auszeichnung
einbrachte. Man schrieb, dass er sein Leben riskierte, um Soldaten
zu helfen, die im Gefecht verwundet worden waren. Und auch Ihre
Torah lehrt ja, dass wer auch nur eine Seele rettet, gleichsam die
ganze Welt rettet. Kennen Sie das Zitat?"
"Ich kenne es. Es heißt: 'Nur eine Seele in Israel rettet.'"
Trude überhörte meine Bemerkung. Vielleicht verstand sie ihren Sinn
nicht. Sie drehte nervös an ihrem Ring und fuhr fort: "Ich möchte
betonen, dass es keinerlei Verbindung gibt zwischen meinen Gefühlen
als Tochter und meiner Einstellung zur Zeit, in der mein Vater
lebte. Ich bin Christin, und deshalb ist mir die Doktrin der Nazis
von Grund auf fremd, wie sie jedem Menschen fremd ist, der an Gott
glaubt. Sind Sie gläubig?"
"Nein."
"Schade. Der Glaube hat für mich starke Bedeutung. Ich habe in ihm
viel Trost gefunden. Er hilft mir an die Menschen zu glauben."
"Auch ich habe meinen Glauben an die Menschheit nicht verloren. Mein
Schicksal ging seinen Gang, und ich entkam der Hölle ohne dieses
schwere Gefühl, das viele Überlebende des Holocaust charakterisiert,
das Gefühl, dass alle Welt gegen sie ist. Sie sagten vorhin, dass
diese Jahre Seelen zerstört haben. Meine wurde nicht zerstört. Sie
ist nur angeschlagen. Die Wunde hinterließ eine Narbe. Sie wurde
dann weniger empfindlich. Gefühle der Hoffnungslosigkeit gehörten
damals bekanntlich nicht zu den Eigenschaften, die zur
Überlebensfähigkeit beitrugen. Aus diesem Grund bin ich nicht fähig,
wirklich zu lieben, und ich empfinde auch nicht den geringsten Hass.
Ich vermute, dass in meinem Innern ein Verdrängungsmechanismus
arbeitet, der es mir ermöglicht, nicht in der Vergangenheit zu
stöbern, und der mir hilft, die schweren Erlebnisse in einem Abgrund
von Vergessen verschwinden zu lassen."
"Meine Mutter sieht die Dinge in anderer Weise, doch das ist ihre
Sache. Sie lebt noch in der Luftblase ihrer Erinnerungen,
abgekapselt vom Leben, in dem das, was übrigblieb, mehr und mehr an
Bedeutung verliert. Erhielte sie nicht die bescheidene Witwenpension
von der Staatskasse, wüsste ich nicht, wie sie existierte. Unser
Haus wurde durch Bomben vernichtet, es blieb uns nichts. Genauer:
fast nichts. Hören Sie mich?"
"Ich höre."
Ich fragte mich, ob sie versuchen würde, raffiniert die Leiden des
Eroberers den Leiden des Opfers gegenüberzustellen und beide
miteinander zu vergleichen. Oder vielleicht voller Naivität einen
originellen Weg zu suchen, sich mir zu nähern und mich wider Willen
an ihren Sorgen und Nöten teilhaben zu lassen. Ich gab mir keine
Mühe, ihren Gedanken auf den Grund zu gehen. Mittlerweile verlor der
bei uns stehende Kellner die Geduld. Er beugte sich über den Tisch
und sagte in fachmännischem Ton: "Ich empfehle Schweinebraten. Auch
der Kohl ist heute besonders gut."
Quelle: "Festschrift aus
Israel", herausgegeben 1994 zum 70. Geburtstag von Niels Hansen,
ehemals deutscher Botschafter in Israel:
Recht und Wahrheit bringen Frieden.
hagalil.com
17-10-2004