Editorial
GOLEM 01 vom 12-99
Sind wir Narren? Die meisten
Israelis würden schlichtweg ja sagen. Nicht nur, weil das Wort "Golem" im
Hebräischen den Narren oder Dummkopf bezeichnet - auch weil wir behaupten, daß
Juden in Europa nicht nur eine Vergangenheit haben! Das europäische Judentum
lebt - trotz aller gegenteiligen israelisch-amerikanischen Prophezeiungen -,
es ist heterogen, und es wird auch in der Zukunft ein fester Bestandteil im
Konzert der Völker Europas sein.
Das Magazin "Golem" zielt, zehn Jahre nach
dem Fall des "Eisernen Vorhangs", auf ein Europa, das nicht mit den Grenzen
der EU aufhört. Wir möchten das vielschichtige Erbe, auf welches das
Judentum in ganz Europa zurückblickt, als Ausgangspunkt betrachten, ohne
dabei die unterschiedlichen Entwicklungen in West- und Osteuropa oder die
verschiedenen Traditionen des ashkenasischen und sephardischen Judentums
verwischen zu wollen. Je besser wir einander zuhören, desto deutlicher
schälen sich - trotz aller nationalen Verschiedenheit - die gemeinsamen
Fragen heraus: Woraus besteht, sechzig Jahre nach der Shoah, jüdische
Identität in Europa und wie inklusiv und tolerant gehen wir mit der Frage
"Wer ist Jude?" zukünftig um? Können wir Toleranz von der Außenwelt fordern,
ohne sie auch nach innen zu beweisen?
Europäisches Judentum:
Nicht nur Nachlaßverwalter sondern kritischer Partner
Das Judentum war nie einfach und
eindeutig; Jüdischsein heute in Europa kann vielerlei bedeuten, und dieser
lebendigen Vielfalt versuchen wir, mit unserem Magazin gerecht zu werden. So
blenden wir uns zum Beispiel in eine aktuelle Diskussion in Polen ein:
Shoshana Ronen, eine Israelin, die seit sieben Jahren in Polen lebt, löste
mit ihrer Polemik gegen die Rückkehr polnischer Juden zur Orthodoxie, die in
der größten polnischen Tageszeitung "Gazeta Wyborcza" erschien, heftige
Reaktionen aus. Konstanty Gebert, Chefredakteur des polnisch-jüdischen
Magazins "Midrasz", verdeutlicht in seiner Antwort auf Shoshana Ronen, wie
wir von israelischer Intoleranz lernen können. Die Tatsache, daß Ronen der
orthodoxen jüdischen Lebensform jede Existenzberechtigung abspricht, zeigt,
wie tief der Graben zwischen säkularen und orthodoxen Juden in Israel
inzwischen geworden ist. Eine Entwicklung, die wir in Europa durch Toleranz
und Offenheit gegenüber allen jüdischen Lebensformen vermeiden könnten. So
ist in der Beziehung, die das europäische Judentum zu Israel und Nordamerika
pflegt, vieles in Bewegung geraten: Europa ist nicht mehr nur
Nachlaßverwalter eines großen Erbes, sondern mausert sich wieder zu einem
selbstbewußten, kritischen Partner.
Europäisches Judentum:
Ein dritter Pfeiler neben Israel und Nordamerika
In ihrem Essay "The Third Pillar?
Toward a European Jewish Identity" skizziert die Historikerin Diana Pinto
die Konturen eines revitalisierten europäischen Judentums kurz vor Anbruch
des 21. Jahrhunderts. Eine spezifisch europäisch-jüdische Identität weist
genügend Substanz auf, um sich heute als dritte Säule des Judentums neben
Israel und Nordamerika zu behaupten.
Wenn wir von Substanz sprechen, meinen wir damit natürlich auch die
lebendige jüdische Kultur, die nicht nur aus Religion, sondern auch aus
Literatur, Philosophie, Sprache oder bildender Kunst bestehen kann.
Der Frage, was "jüdische Kunst" sei,
wollen wir uns nicht in endlosen theoretischen Diskussionen widmen. Wir
präsentieren in unserem Magazin SchriftstellerInnen, PublizistInnen,
LyrikerInnen und bildende KünstlerInnen, deren Werk sich mit jüdischen
Inhalten auseinandersetzt. Die Abbildungen im "Golem" stammen aus der
Ausstellung "das jüdische Zentrallabyrinth", die die Gruppe Meshulash Berlin
im November 1999 im Rahmen der Jüdischen Kulturtage organisiert hat.
Ist unser europäisch-jüdisches Magazin
"Golem" also ein Narrenstreich? In seiner ursprünglichen Bedeutung
bezeichnet das Wort "Golem" im Hebräischen etwas Entstehendes, im Prozeß
Befindliches. So möchten wir auch den Namen unseres Magazins verstanden
wissen, als einen lebendigen Beitrag auf dem Weg zu einer
europäisch-jüdischen Identität. Urteilen Sie selbst!
Berlin 2. Dezember 1999
Meshulash
[golem@hagalil.com]
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