

Sprachen:
Jenseits des Kaukasus
Igor Chalmiev
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Seit 1992, seitdem ich in Deutschland lebe merke ich,
dass für die westeuropäischen Menschen alle Juden aus der ehemaligen
Sowjetunion gleich sind. (Ich fragte mich, woher soviel Unwissen kommt und
warum alle jüdischen Zuwanderer als Russen, Atheisten, jüdisch ungebildet und
nicht selten als befremdlich angesehen werden. Offenbar kommt es daher, dass
man die Unterschiede im Riesenreich der Sowjetunion nicht kennt.) Genausowenig
wie man das Leben der Juden in Deutschland mit dem der Juden in Indien
vergleichen wird, kann man die Lebensweisen in verschiedenen Regionen der
Sowjetunion gleichsetzen.
Nehmen wir mich. Ich komme aus einem Gebiet, wohin die
deutsche Wehrmacht nicht gelangt ist. Darum wurde das traditionelle jüdische
Leben nicht vernichtet. In der ganzen Sowjetzeit versuchte man, irgendwie
jüdisch zu leben, genauso, wie die Muslime nach ihren Traditionen lebten.
Das betrifft z.B. Feiertage, Beschneidung und dass es die Eltern und
Großeltern lieber sahen, wenn innerhalb des Volkes geheiratet wurde. Ich bin
in Baku geboren, hinter dem Kaukasus, in Aserbaidschan. Als Kind verbrachte
ich viel Zeit bei meinen Großeltern in einer Kleinstadt namens Kuba. Die Stadt
war durch den Fluss geteilt. Auf einer Seite lebten Muslime, auf der anderen
Juden. Im jüdischen Teil haben die Leute ihre eigene jüdische Sprache
gesprochen. Da es sich um "Bergjuden" handelt, sprachen sie den alten
persischen Dialekt, der über Jahrhunderte die Sprache der Bergjuden war und
heute fast ausgestorben ist. Unter Stalin wurde die Sprache "Tat" genannt, die
Juden selber hatten keinen Namen für sie. In anderen Gegenden sprechen
Bergjuden übrigens andere Dialekte, aber jetzt spricht kaum noch jemand diese
Sprachen. In der Hauptstadt Baku war es natürlich anders. In der Schule sprach
man Russisch, auf der Straße auch Aserbaidschanisch. Als Kind musste ich zu
Hause auch die Sprache der Bergjuden sprechen, denn meine Großmutter konnte
nur diese, aber meist wurde bei uns Russisch gesprochen.
Mein Großvater war eigentlich Rabbiner, er arbeitete aber nach der Revolution
als Lehrer in einer sowjetischen Schule. Wir wussten immer, dass wir Juden
sind, und das ist ein Teil meines Lebens. Wir waren die Juden, andere waren
z.B. Aserbaidschaner, Russen, Ukrainer oder Tataren. Als ich ohne ein Wort
Deutsch nach Berlin kam, staunte ich, dass ich mich in vielen Geschäften auf
Aserbaidschanisch verständigen konnte. Die Türken sagen dazu Aseri. Es ist dem
Türkischen verwandt, also verstehe und spreche ich eine Art Straßentürkisch.
In Baku gab es zwei Synagogen, eine kleine sephardische und eine große,
schönere aschkenasische. Ich bin manchmal in die eine und dann wieder in die
andere gegangen. Bei den Aschkenasim gab es zu Pessach selbstgebackene Mazza
zu kaufen. Mazzeknödel kannten die sephardischen Großmütter aber nicht, vieles
ähnelte den Speisen der Muslime (Dolma und Lammgerichte).
Ich kann mich an keine besonderen Konflikte mit Muslimen erinnern. Da sie ihre
Religion wollten, haben sie uns nicht gestört, im Gegenteil, die Nachbarn
beschenkten sich an den Feiertagen. Von den Russen bekamen wir wunderbar
bemalte Eier zu Ostern, von den Muslimen herrliche Süßigkeiten zum Zuckerfest,
aber von uns bekamen sie immer nur trockene Mazzen.
Muslime und Juden haben immer an der Beschneidung festgehalten. Wann
beschnitten wurde, entschieden die Eltern. Gab es keinen Rabbiner oder Mohel,
kam ein jüdischer Arzt ins Haus. Die jüdischen Knaben wurden in der Regel in
den ersten sechs Lebensmonaten beschnitten, die muslimischen - soweit ich weiß
- auch danach. Im europäischen Teil war das nach dem Krieg anders. Hier wurde
jede Religion unterdrückt und von Beschneidungen dort habe ich nur selten
gehört.
Ich arbeite jetzt im Jüdischen Kulturverein Berlin als
Integrationsbeauftragter. Irgendwann war uns klar, dass wir von anderen
Migranten lernen können, beispielsweise von den Türken. Also begannen wir mit
wechselseitigen Besuchen. Beim Fastenbrechen erinnerte ich mich an das Essen
der Muslime in Baku, und die Türken wunderten sich, dass ein jüdischer Russe
ihre Sprache versteht, bis ihnen schnell klar war, dass ich Aseri spreche. Ein
alter Jude sagte beim Fastenbrechen mit jiddischem Akzent, er habe sehr viel
erlebt. Aber eigentlich gäbe es nur zwei Völker. Die guten und die schlechten
Menschen.
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