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Jüdische Weisheit
 
 

Das Schtetl

Wirtschaftliche und soziale Strukturen
der ostjüdischen Lebensweise

Andrea Ehrlich

Teil IV


  1. Einleitung
  2. Zur Bedeutung des Begriffs "Ostjude"
  3. Der historische Hintergrund
  4. Das Schtetl
    - 4.1. Definition
    - 4.2. Das äußere Bild des Schtetlech
    - 4.3. Die wirtschaftliche Situation
    - 4.4. Soziale Strukturen im Schtetl
    - 4.5.
    Der Chassidismus als religiöses Empfinden im Schtetl
  5. Kriminalität der Ostjuden
  6. Schlußgedanke
  7. Verwendete Literatur

5) Kriminalität der Ostjuden

Bisher wurden die drückenden wirtschaftlichen Bedingungen und das soziale System des Schtetlech beschrieben. Es könnte das Bild entstehen, daß alle Menschen im Schtetl guter und frommer Natur waren, daß sie alle am liebsten den ganzen Tag die Thora studieren wollten, und wenn sie es nicht tun konnten, so waren es ökonomische Gründe, die sie daran hinderten. Leider ist die Quellen- und Literaturlage zur Kriminalität der Ostjuden sehr schlecht. In den wenigen Statistiken, die ich eingesehen habe, fand ich nur eine Aufteilung nach Konfessionen und Vergehen. Es ist daher unmöglich, eine Aussage über die tatsächliche Kriminalität im Schtetl zu machen. Dennoch lassen sich durch die Zahlen gewisse Tendenzen im Strafverhalten von Juden und Nichtjuden erkennen. Kriminalität bei Juden war in jedem Fall da, das ist nicht zu leugnen. Neben den üblichen Statistikproblemen, die schon in der Einleitung angesprochen wurden, kommt hier noch weiteres hinzu. In jedem der osteuropäischen Staaten, wie auch in verschiedenen Gouvernements gab es unterschiedliche Auffassung von Polizeidelikten, Straftaten wurden verschieden bewertet und geahndet. So gab es beispielsweise in den Niederlanden, Rußland und Deutschland eine geringe Zahl von straffälligen Juden für das ausgehende 19. Jahrhundert, für Österreich, Ungarn und Kroatien sind dagegen die Zahlen enorm hoch, "aber man wird nicht wagen dürfen, daraus allein irgendwelche Schlüsse zu ziehen." Vergleicht man nun diese Zahlen und stellt sie in Relation mit dem Bevölkerungsanteil der Juden des jeweiligen Staates, so steht man vor dem nächsten Problem. Die Statistik würde in diesem Fall nicht erfassen, daß es in Osteuropa viel mehr Strafunmündige gibt, da die Altersstruktur der Ostjuden grundverschieden zu Westeuropa war.

  Männlich Weiblich
Gesamtzahl der Juden 2.471.395 2.591.761
Strafmündige 1.751.292 1.873.485
Verurteilte Juden 3.807 414
In 0/000 der Strafmündigen 22 2

Genaue Zahlen zur Kriminalität finden sich bei Rudolf Wassermann nur für die russischen Juden im Jahr 1897. Die einschränkenden Gesetztesmaßnahmen und die verheerende wirtschaftliche Lage führten zu diesen hohen Kriminalitätszahlen im Vergleich zu beispielsweise Deutschland.

Die Zahl der weiblichen Straftäter ist durch die Prostitution zu erklären. Wobei aber ein wichtiger Faktor nicht übersehen werden darf: die Berufsangabe Prostituierte verschaffte vielen jüdischen Mädchen die Möglichkeit den Ansiedlungsrayon zu verlassen und in einer Großstadt wie Moskau zu studieren. Auch Joachim Schönfeld erklärt diesen üblichen Schwindel: "Since prostitutes were given permission to live in the big cities regardless of their nationality, Jewish girls who wanted to gain a resident´s license in a city where they could enroll in a university could obtain this privilege through the acquisition of the so called Yellow Ticket." Es ist anzunehmen, daß die allerwenigsten der Jüdinnen den Beruf der Prostitution nach dem Verlassen des Ansiedlungsrayon tatsächlich auch ausübten. Die Statistik bei Wassermann zur Prostitution ist damit wertlos und soll auch nicht näher aufgeführt werden.

Interessant ist dagegen eine andere Angabe, die in der selben Weise wie oben die Zahl der Straftäter unter den übrigen Sprachstämmen Rußlands ermittelt. Danach waren unter 10.000 Strafmündigen bei den Russen 19 , bei den Polen 23 und bei den Letto-Litauern 17 männliche Verurteilte. Diese Zahlen bestätigen die relativ hohe Kriminalität der Juden.

Bei Bernard D. Weinryb findet sich ein ausführlicher Exkurs zur Kriminalität der Juden in Warschau zwischen 1842 und 1853. Auch wenn damit nicht der zeitliche Schwerpunkt dieser Arbeit abgedeckt wird, sollen die Zahlen doch exemplarisch dargestellt werden. Die Daten, die Weinryb nennt, sind den jährlichen Berichten der Warschauer Polizeibehörde entnommen und können somit wohl als richtig angesehen werden. Manko dieser Statistik bleibt, daß nicht herausgefunden werden kann, wieviele der Inhaftierten freigesprochen wurden.

Der Anteil der Juden in Warschau in diesem Zeitraum betrug etwa 26%, was deutlich höher ist, als der Anteil der Juden an der Gesamtbevölkerung. Von den Inhaftierten dieses Zeitraums waren 37.320 Juden, was einem Anteil von 20,7% entspricht, also etwa ein Viertel kleiner als der Bevölkerungsanteil.

Betrachtet man nun die Vergehen der Inhaftierten in Warschau von 1842 bis 1853 ergibt sich folgendes Bild: überdurchschnittlich hoch ist der Anteil der Juden bei den Vergehen Beihilfe zur Desertation (52,3%), Zuwiderhandlung gegen Polizeiverordnung (30,4%), Betrug (49,8%), Schmuggel (74,7%) und Raub (54,9%). Gar nicht vertreten sind Juden bei Mord, Falschmünzerei und Amtsmißbrauch. Nur jeweils ein Jude wurde für Kindermord, Mordverdacht und Gotteslästerung inhaftiert.

Danach bringt Weinryb noch einige Vergleichsdaten aus verschiedenen polnischen Gouvernements, wobei die Sparte Verbrecher wohl mit Verurteilten gleichzusetzen ist. Der jüdische Anteil der Bevölkerung machte in Warschauer Gouvernement 1865 etwa 10,1% aus, in Lublin um 1850 etwa 12,5% und in Plock betrug er ebenfalls 1850 etwa 11,8%.

Gouvernement im Jahre Verbrecher davon Juden (%)
Warschau 1847 1.996 213 (10,7)
Warschau 1865 12.112 1.126 (9,3)
Lublin 1847 5.253 900 (17,1)
Lublin 1848 6.930 416 (6,0)
Plock 1848 7.102 458 (6,4)

Abschließend läßt sich feststellen, daß die Kriminalität bei Juden nach diesen Statistiken deutlich geringer ausfiel als bei den Nichtjuden, wobei vor allem die unterschiedlichen Schwerpunkte in den Vergehen auffallen.

6) Schlußgedanke

Bisher wurden die verschiedenen Seiten des Schtetlech beschrieben. Es wurden sowohl Charaktere gezeichnet wie auch die ärmlichen wirtschaftlichen Bedingungen beschrieben. Ich habe versucht, die Darstellung möglichst objektiv zu halten, etwas, was ich in einem Großteil der verwendeten Literatur vermißt habe.

Die Literatur, die nach 1945 erschienen ist, läßt sich einfach erkennen. Das Schtetl wird hier in durchweg idealistischer Weise dargestellt. Durch die vollständige Vernichtung der Schtetlech im Holocaust schwingt heute in vielen Darstellung eine mehr oder weniger banale Nostalgie mit. Vielleicht ist die allzu idealistische Darstellung aber auch eine Form des schlechten Gewissens, eine peinliche Berührtheit, daß man nicht schon früher die Einzigartigkeit dieser Welt entdeckt hat. Das Schtetl boomte gerade in den 60er Jahren als kulturelle Entdeckung, Zeugnis ist das Musical "Anatevka" und mißlungene Verfilmungen von "Tewje der Milchmann". Der Umgang mit dem Ostjudentum erinnert mich in vieler Hinsicht an den Umgang der Deutschen mit dem Staat Israel, Kritik ist schwer zu formulieren ohne gleich an den Pranger zu geraten. So ist es auch mit dem Ostjudentum. Die ganze Welt hat tatenlos dieser Vernichtung zugesehen, wie könnte man da heute noch Kritik üben. Und doch halte ich es nicht für richtig, das Bild des Schtetlech auf diese Weise zu idealisieren, denn es gab auch Schlechtes im Schtetl, es gab, wie gezeigt wurde Kriminalität, auch wenn sie prozentual geringer als bei den Nichtjuden war, und es gab religiöse Auseinandersetzungen. Gerade auch der Chassidismus wird heute in mystischer Verzücktheit verehrt, doch man vergißt dabei, daß die Spätphase des Zaddikismus an Ausbeutung grenzt. Man sieht heute nur noch den gläubigen, orthodoxen Juden, der sein Leben der Thora gewidmet hat. Man sieht nicht seine Frau, die für den Lebensunterhalt der ganzen Familie sorgen muß.

Aber auch die Lebenserinnerungen und Romane von Autoren, die im Schtetl geboren wurden, prägen das idealistische Bild. Die wenigsten von ihnen sprechen kriminelle Handlungen wie Diebstahl und Raub im Schtetl an.

Ich möchte hier keineswegs gegen das ostjüdische Gedankenerbe sprechen, das Interesse an der ostjüdischen Kultur ist grundsätzlich positiv zu bewerten, denn erst dadurch wird ein Überleben der verschiedenen Charaktere in der Erinnerung der Menschheit möglich. Die Verklärung weigert sich jedoch die wirklichen Menschen, jene also, die ein wirkliches Leben gelebt - und verloren haben - zumindest in den Köpfen der Menschen weiter existieren zu lassen. Ermordet wurden keine Engel - ermordet wurden Menschen.

7) Verwendete Literatur

  • Ben-Sasson, Haim Hillel (Hrsg.): Geschichte des jüdischen Volkes, München 1992 (Sonderausgabe).
  • Birnbaum, Salomo A.: Grammatik der jiddischen Sprache, Mit einem Wörterbuch und Lesestücken, Hamburg 19662.
  • Bloch, Chaijm: Chassidische Geschichten, München 1990.
  • Brandt, Leon (Hrsg.): Abschied von Tewjes Welt, Lebensbilder aus dem jiddischen Stätel, Köln 1981.
  • Diederichs, Ulf (Hrsg.): Ostjüdische Geschichten, München 19884.
  • Dubnow, Simon: Die neueste Geschichte des jüdischen Volkes, Berlin 1923.
  • Dubnow, Simon: Geschichte des Chassidismus, Berlin 1931.
  • Dubnow, Simon: Mein Leben, Berlin 1937.
  • Eliasberg, Alexander (Hrsg.): Ostjüdische Erzähler, Potsdam 1920.
  • Genin, Salomea: Scheindl und Salomea, Von Lemberg nach Berlin, Frankfurt a.M. 1992.
  • Haumann, Heiko: Geschichte der Ostjuden, München 1990.
  • Heschel, Abraham J.: Die Erde ist des Herrn, Die innere Welt des Juden in Osteuropa, Neukir chen-Vluyn 1985.
  • Hödl, Klaus: Vom Shtetl an die Lower East Side, Wien 1991.
  • Kahanowitsch, Pinhas, genannt Der Nister: Die Brüder Maschber, Frankfurt a.M. 1995.
  • Klanska, Maria: Aus dem Schtetl in die Welt, Wien 1994.
  • Maurer, Trude: Ostjuden in Deutschland 1918-1933, Hamburg 1986.
  • Neugroschel, Joachim (Hrsg.): The Shtetl, New York 1989.
  • Die Ostjuden, Sondernummer Süddeutsche Monatshefte, Februar 1916.
  • Pat, Jacob: Life and Death in the Shadow of the Forest, 1991.
  • Polonsky, Antony (Hrsg.): From Shtetl to Socialism, Studies from Polin, London 1993.
  • Riff, Michael: Das osteuropäische Judentum, in: Bautz, F.J.: Geschichte der Juden, München 1983.
  • Salamander, Rachel (Hrsg.): Die jüdische Welt von Gestern, Wien 1990.
  • Schoenfeld, Joachim: Shtetl Memoirs, Jews in Galicia under Austria and in the Reborn Po land - 1898-1939, Hoboken 1985.
  • Schoeps,Hans Joachim (Hrsg.): Jüdische Geistswelt, Hanau 1986.
  • Schramm, Gottfried: Die Ostjuden als soziales Problem des 19. Jahrhunderts, in:
  • Maus, H. (Hrsg.): Gesellschaft, Recht und Politik, Neuwied u. Berlin 1968.
  • Seraphim, Peter-Heinz: Das Judentum im osteuropäischen Raum, Essen 1938.
  • Somogyi, Tamar: Die Schejnen und die Prosten, Berlin 1982 (Kölner Ethnologische Studien Band 2).
  • Sperber, Manes: Churban oder Die unfaßbare Gewißheit, Wien 1979.
  • Wassermann, Rudolf: Beruf, Konfession und Verbrechen, Eine Studie über die Kriminalität der Juden in Vergangenheit und Gegenwart, München 1907 (Statistische und National ökonomische Abhandlungen, Heft II).
  • Weinberg, Sydney Stahl: The World of our Mothers, University of North Carolina 1988.
  • Weinryb, Bernard D.: Neueste Wirtschaftsgeschichte der Juden in Rußland und Polen, Hildes heim 19722.
  • Zborowski, Mark/Herzog, Elisabeth: Das Schtetl, München 19923.
  • Zweig, Arnold: Das ostjüdische Antlitz, Berlin 1922.

Zur vorherigen Teil

1996© Andrea Ehrlich


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