Die Geschichte der Ostjuden
Zaristisches Rußland, Sowjetunion, GUS
von Chaim FRANK
Der Einbruch der Moderne
Der Einbruch der Moderne in die russisch jüdische
Lebenswelt begann spät, wobei man hier etwa die Zeit zwischen 1870/1880
dafür ansetzen kann. Der Aufbruch setzte sich gewissermaßen gewaltsam
durch und brach tief in die jüdischen Gesellschaft und Shtetls ein.
Russische Holzsynagoge
Über Jahrhunderte hinweg blieb die jüdische Masse
unpolitisch, denn die Stellung im Staat - nämlich Leibeigenschaft und
allgemeines Untertanentum - machte eine politische Haltung unmöglich.
Nun kam die Moderne, wie ein Tauwetter, ja schlug wie
ein Paukenschlag, über das starre Land, das bis dahin in mittelalterlicher
Form vor sich vegetierte. Es war wie ein neues Aufatmen, aber nicht nur
das, so führten die 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts gleichzeitig,
gerade wegen der unzähligen Verfolgungen, auch einen jüdischen
Nationalismus mit sich.
Auch für Juden brach der Beginn eines nationalen
Erwachens an, jedoch mit dem 'uralten' Ziel: Dem Wunsch nach Heimkehr ins
gelobte Land der Väter.
Theodor Herzl, selbst dem Ostjudentum angehörend, legte
den Samen für das Projekt der Heimführung. 1897 fand der erste
Zionistenkongreß statt und 50 Jahre später, 1948, wurde sein Werk: ''Wenn-Ihr-Wollt-Ist-Es-Kein-Traum'',
lebendige Wirklichkeit.
Während und nach dem Russisch-Japanischen Krieg hatten
Juden erneut Erniedrigungen und Ausschreitungen zu erdulden.
Der zweite große Pogrom fand Ostern 1903 unter der
Agitation der 'Schwarzen Hundert' in Kischinjew statt,
schwappte im selben Jahr nach Gomel
über.
Nach dem Pogrom in Kischinjew 1903
Unterschwellig flammte es immer wieder weiter, bis die
Pogrome 1905 Hunderte von Ortschaften erfaßte. Sie verliefen weitaus
blutiger als jene der vorangegangenen Jahre (1881 - 1882).
Der damalige Innenminister W.K. PLEWE (1846-1904)
stellte diese Pogrome als Racheakte der christlich-patriotischen
russischen Menschheit gegen die jüdischen Revolutionären hin.
Nach den Pogromen 1906/07 verstieg sich die
Wochenzeitung >Potschajewskij Listok< sogar in die Behauptung, daß die
Juden diesen Pogrom selbst veranstaltet hätten.
Es kam aber auch die Zeit der ''Protokolle der
Weisen von Zion'' über angebliche Pläne zur Errichtung einer
''jüdischen Weltherrschaft'', dessen eigentliche Herkunft weitgehend
unbekannt blieb.
Sie erschienen 1905 als Anhang in einer Schrift von
Sergej NILUS in Moskau. NILUS Buch diente zur Bekämpfung liberaler Ideen
und der Festigung des zaristischen Systems, sowie dem Kampf gegen das
russische Judentum. Der Echtheitsbeweis für die 'Protokolle' konnte nie
erbracht werden, war aber millionenfach verbreitet und spielte als
Kampfmittel der Antisemiten während der Pogrome 1918-20 (und später auch
für die Nazi) eine unheilvolle Rolle.
Kurz vor dem I. WK waren in vier Wahlen 12 liberale
jüdische Abgeordnete in die Duma entsandt worden. Mit Ausbruch des
Krieges, wurde aber das erste Zeichen zur Emanzipation zunichte gemacht.
Vor dem Ersten Weltkrieg machte der jüdische Anteil
unter der Gesamtbevölkerung etwa 4.07%, also annähernd 6 Millionen, aus.
Davon waren 2.5% in der Landwirtschaft, 33% in Industrie und Handwerk, und
37% im Handel tätig.
Jüdische Landbevölkerung
Der Weltkrieg, unter dem auch die Revolution stattfand,
brachte erneut unerträgliches Leid. 500.000 Juden wurden aus hunderten von
Städten und Shtetln der Rand-Provinzen evakuiert und verloren aus
'militärischen Gründen' oft ihre Häuser, ihr Gut und kleinen Äckerchen von
denen sie sich ernährt hatten. Sie lebten entweder am Rand des
Existenzminimums und nach dem Waffenstillstand war die Not bereits so
groß, daß annähernd 1 1/2 Millionen Juden durch Wohlfahrts-Organisationen,
besonders der jüdisch-amerikanischen Organisation mit Spenden unterstützt
werden mußten.
Täglich sahen sie sich dem ständig heftiger werdenden
Druck ihrer Umgebung ausgeliefert. Pogromwellen und größere Übergriffe,
von Seiten der christlichen Bevölkerung, zwangen sie dem Übel zu
entfliehen. Ausreise Ströme brachten sie nach Westeuropa, nach Nord- oder
Süd-Amerika und natürlich ins Land der Väter, nach Palästina. Nach der
Oktoberrevolution sind zwar 140 antijüdischen Gesetze aufgehoben worden,
bis zur Festigung der Sowjetmacht hatten Juden allerdings noch einige
tragische Pogromwellen über sich ergehen lassen müssen.
Zwischen 1917 und 1921 fanden rund 1.500 Pogrome in
Weißrußland und Ukraine statt, bei denen mehr als 150.000 Juden das Leben
verloren.
Nach der Konstitution der Sowjetmacht war es auch nicht
besser. Zwischen 1917 bis 1921 waren Juden besonders in den von
Weißgardisten besetzten Gebieten Weißrußlands und der Ukraine,
mörderischen Verfolgungen ausgesetzt; der große Hunger 1922 tat sein
Übriges.
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