Beim
Malen denke ich nicht, ob es gut oder schlecht ist. Mich treibt nur der
Wille, als Augenzeuge, als einer, der es selbst erlitten hat, das
unverdiente Los von Millionen jüdischen und anderen Mithäftlingen zu
beschreiben und deren unbeschreibliche Angst zu beschwören!
(Adolf Frankl)
Wie ich meine Visionen auf die Leinwand bringe
Erzählungen und Auszüge aus Tonbandaufzeichnungen
des Überlebenden von Auschwitz-Birkenau
Adolf Frankl, Tätowierungsnummer B 14395
Auf einer Leinwand verteile ich ohne Plan und ohne
irgendwelche Vorbilder die Farben mit einer Spachtel, den Fingern und dem
Pinsel. Ich bin in die Arbeit so vertieft, dass ich Gesicht, Haare, Kleider
und Schuhe mit Farbe bekleckse und manchmal stecke ich auch aus Versehen den
Pinsel in den Mund.
In einer WUTFREUDE schaffe ich Farbflecke, die meistens unbewusst eine
Harmonie – oder das Gegenteil – bilden. Nach einigen Stunden muss ich mich
hinlegen, denn ich bin wie zerschlagen. Ich schlafe ein wenig, danach rauche
ich eine Zigarette und denke an das Vergangene, an die Jugend, an die Frauen
und auch an die schrecklichen Bilder des Lagers. Die Geister kriechen
langsam aus der Finsternis hervor. Es wird unerträglich. Ich laufe ins
Kaffeehaus, hinter mir fühle ich das Bild, welches – unvollendet – mir die
Weiterarbeit befiehlt.
Am Abend, wenn alle schlafen, hole ich das gefärbte Gewebe hervor und von
meinem Bett aus beobachte ich es stundenlang. Erst durch meine Hand, dann
nur mit einem Auge, dann im Spiegel suche ich nach der Lösung, um die
grauenhaften Gedanken, die hinter meinen Augen toben, für andere
verständlich zu machen. Mit geschlossenen Augen sehe ich sie vor mir, die
jüdischen Mädchen, die Blumen Zions, wie sie am Stacheldrahtzaun des Lagers
standen, als ich nach Birkenau (1) kam, mit gespreizten Beinen, um nicht
umzufallen, mit hängenden Armen, vorgebeugt. Wie Tiere starrten sie mich an.
Diese Augen – ich kann sie nicht vergessen!
"Drei, vier Wochen hältst du es aus, dann gehst du durch den Kamin. Mach dir
also keine Sorgen!", sagte mir mein Bekannter Süss aus Trenčin. Er war
"Kapo". So nannte man einen Mithäftling, der von der SS als Lageraufseher
eingesetzt wurde. Er trug schöne, hohe geschnürte Schuhe.
Mein begonnenes Bild holt mich zurück. Langsam bilden die Farben Gesichter,
zum Teil Tiere – verwischte Tiermenschen – und wieder kommen die
Erinnerungen ganz stark über mich. In Gedanken sehe ich auch einen großen
Mann mit dichtem, schwarzem Bart vor mir. Es ist der streng religiöse,
unbestechliche, prinzipientreue Rabbiner Goldstein, der mit stolzem Gang in
der Judengasse von Bratislava zum Sabbatvortrag zu gehen und aus dem
Wochenabschnitt der Thora zu zitieren pflegte. Im Konzentrationslager Sereď
sah ich ihn ohne Bart. Sein winziges Gesicht blickte mich voller Todesangst
an.
Ich sehe die Gesichter genau und erkenne auch Herbert, einen deutschen
Vorarbeiter aus der Weberei des Frauenlagers in Birkenau. Vorher war er bei
der Marine. Er nannte mich Wolf und manchmal auch Fuchs. Herbert sagte mir,
dass Brom (2) ins Essen gemischt wird und brachte mir manchmal etwas ohne
Brom. Als mir einmal eine Bekannte, die in der SS-Küche des Lagers
arbeitete, ein Stückchen Salat zuschob, wurde das leider von einer SS-Frau
bemerkt. Daraufhin schlug sie mich mit der Peitsche. Sie pfiff Herbert zu
sich. Er sagte zu ihr: "Der ist ein Grüner!"(3) Herbert begann mich zu
schlagen, warf mich zu Boden und trat mich mit Füßen.
Am nächsten Tag fragte ich ihn: "Herbert, warum hast du mich geschlagen?
Hast du mich nicht erkannt?" Darauf antwortete er: "Wolf, ich habe dich
nicht erkannt".
In Birkenau erkannte ich auch den Advokaten aus der Sedlárska in Bratislava
– ein Streber – eine Größe von gestern. Vor der Deportation hatte er eine
große Kanzlei. Sein Wartezimmer war immer voller Klienten. Jetzt im Lager
sah ich ihn aus dem "Kommando Mexiko" (4) kommen. In diesem Kommando mussten
Häftlinge u.a. beschädigte Baracken, zumeist mit bloßen Händen und in großer
Kälte, auseinander nehmen. Sein Kopf war kahl geschoren, das Gesicht
kohlschwarz und die Brille gesprungen. Beim Pfiff zum Appell im Morgengrauen
war er fertig – tot!
Ich sehe auch, wie ich in Birkenau Brot gegen Zigaretten tauschte, wie ich
bei Nacht in der Baracke nach Zigarettenabfällen suchte und vom Kapo, einem
ehemaligen Polizisten, dabei erwischt wurde. Ich musste mich über den Ofen,
der sich fast durch die ganze Baracke hinzog, beugen und bekam auf den
nackten Hintern zehn Stockhiebe. Ich schrie vor Schmerzen so laut, dass man
es in Krakau hätte hören können. Kaum auszuhalten war es!
Und immer wieder die Ratten, dicke fette Ratten! Sie waren die einzigen, die
immer etwas zu fressen fanden. Noch heute rieche ich den Geruch von
verbranntem Fleisch und verbrannten Haaren und sehe den Rauch aus den
Kaminen der Krematorien steigen. Diesen Geruch werde ich nie los. Ich wate
in der Suppe des Geruchs.
Ich wende mich wieder dem Bild zu. Farben und verwischte Gesichter nehmen
Gestalt an. Die grellen, leuchtenden Farben sind mir sympathisch. Wie das
Feuer leuchten sollen sie! Bei mir ist die tiefe Wirkung der Farben die
Grundlage meiner Werke. Das sind die Ursprünge meiner Malerei. Chagall
bewundere ich. Eines ist bei mir wie bei ihm: Die Macht der Farben ist in
den Bildern dominierend. Meine Bilder jedoch sind die eigenen schrecklichen
Erlebnisse, zeigen nur traurige Szenen und vieles in ihnen kann ich nicht
erklären. Beim Malen denke ich nicht, ob es gut oder schlecht ist. Aus den
Farbflecken entstehen, mit vielen Unterbrechungen und Verbesserungen, meine
VISIONEN, wobei ich keine Perspektive, Größenordnung und irgendwelche
Phrasen oder Richtungen bedenke.
Ich will nur an das unverdiente Los von Millionen Juden, allen anderen
Mithäftlingen, Kindern sowie Ungeborenen erinnern und ihre unbeschreibliche
Angst als Augenzeuge, als einer, der es selbst erlitten hat, beschwören.
Diese Erinnerungen, die sich in meinem Inneren als eine eingemeißelte,
heilige Wut befinden, will ich als Mahnmal mit meinen eigenen Händen
versuchen festzuhalten – in einer Art, die auch in der Zukunft die Menschen
an diese Tragödie erinnern kann. Ein Kritiker sagte einmal zu mir, er sehe
in einem meiner Bilder, in dem zähnefletschende Hunde vorkommen, eine
Ähnlichkeit mit Motiven von Chagall. Meine Bilder jedoch dokumentieren meine
eigenen Erlebnisse, mein eigenes Grauen ...
Das ist Frankl – nicht Chagall!
"Mit meinen Werken habe ich
allen Völkern dieser Welt
ein Mahnmal gesetzt.
Es soll niemandem,
egal welcher Religion
oder politischen Anschauung,
dieses oder ähnliches widerfahren!"
>> ZUR AUSSTELLUNG
Am Montag, den 28. September 1998 fand um 11 Uhr in Wien,
Dorotheergasse 6-8 eine Gedenkveranstaltung für den Künstler Adolf Frankl
s.l. statt:
Bericht von der feierlichen Enthüllung der Gedenktafel
/
Einladung zur feierlichen
Enthüllung der Gedenktafel
Anmerkungen:
(1) Birkenau (Brzezinka) war ein Teil des
Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz (Oświęcim). In diesen
Lagern vegetierten die Häftlinge unter unmenschlichen Lebensbedingungen, die
meisten von ihnen waren wandelnde Skelette. Hier wurden Erwachsene,
Jugendliche, Kinder und Säuglinge auf hochbürokratischem, industrialisiertem
Wege in den Gaskammern, durch medizinische Versuche, Giftinjektionen,
Erschießen, Erhängen, Erschlagen, Verbrennen, Erfrieren, Folter, Aushungern,
Sklavenarbeit und unter katastrophalen sanitär-hygienischen Bedingungen
ermordet. Die demütigenden, menschenunwürdigen Lebensbedingungen und die
hoffnungslose Situation trieben viele Menschen in den Selbstmord.
Auschwitz-Birkenau ist der größte Friedhof der Welt.
(2) Brom ist ein Mittel zur Unterdrückung des Geschlechtstriebes und wurde
dem Essen beigemischt.
(3) "Grüner" war die Bezeichnung für Berufsverbrecher, sie hatten Abzeichen
in grüner Farbe. Vater war jedoch keiner von ihnen. Die Häftlinge in
Auschwitz-Birkenau und in den Außenlagern wurden am linken Unterarm mit
einer Nummer tätowiert. Zusätzlich waren sie auf der linken Brustseite ihrer
Jacke und auf dem rechten Hosenbein nach den verschiedenen Kategorien
gekennzeichnet.
(4) "Kommando Mexiko" nannten die Häftlinge im Lagerjargon das berüchtigte
Arbeitskommando des Lagerabschnitts B III von Birkenau, wahrscheinlich
deswegen, weil sie sich dort zum Schutz gegen Kälte und Frost in Decken, wie
es in Mexiko mit dem Poncho üblich ist, einhüllten. Der Lagerabschnitt B III
hieß "Mexiko" und wurde als letzter Abschnitt von Birkenau im Spätsommer
1944 errichtet, jedoch nicht beendet. Er diente als Depot- und
Durchgangslager für Juden, die nach Deutschland zur Zwangsarbeit
transportiert werden sollten. Die Verhältnisse waren in diesem
Lagerabschnitt extrem schlecht und die Arbeiten, die von den Häftlingen
zumeist im Freien geleistet werden mussten, extrem hart. |