"Esra"
betreut NS-Verfolgte:
Dafür haben Staat und Land kein Geld
Berlin (dpa/eu) - Die ältere jüdische Dame aus Berlin nannte ihre
Angewohnheit einen Tick. In jedem Raum, den sie betrat, schaute sie
zuerst: "Ist hier ein Ort, wo ich meine Mutter hätte verstecken können?"
Die Mutter wurde im Konzentrationslager Auschwitz von den
Nationalsozialisten ermordet.
Heute sagt die Tochter, sie habe nicht einmal von ihrer
Angewohnheit gewußt. Es sei wie ein Blitz im Kopf gewesen. Erst eine
Therapie bei "Esra", dem bundesweit einzigen Hilfszentrum für NS-
Verfolgte in Berlin, hat die Überlebende des Holocaust mit ihrem Zwang
konfrontiert. "Diese Menschen brauchen eine ganz spezielle Betreuung",
sagt Alexandra Rossberg, die Leiterin des Zentrums.
"Esra" ist hebräisch und
bedeutet Hilfe. Doch die Hilfe für Verfolgte und deren Nachkommen ist
von 1998 an keinen Pfennig mehr wert. 50 000 Mark aus dem Etat der
Senatsverwaltung für Soziales und Gesundheit in Berlin fallen ersatzlos
weg.
Der Staat, der "Esra"
zwischen 1993 und 1995 als Modellprojekt mit je 100 000 Mark
unterstützte, hat sich zurückgezogen. "Wir können uns diesen Posten im
Haushalt angesichts der Sparzwänge nicht mehr leisten", sagt Detlef
Orwath von der Senatsverwaltung. "Die Betreuten haben keine unmittelbare
Verbindung mehr zum Holocaust."
Alexandra Rossberg ist wütend: "Allein wegen solcher
Äußerungen brauchen unsere Leute Therapie", sagt sie. "Wie unmittelbar
muß denn die Verbindung zum Holocaust sein? Reicht es nicht, wenn sich
einer unserer Patienten auf der Flucht als Achtjähriger vier Jahre lang
im Wald und auf Bauernhöfen versteckt hat?" Die Psychologin erzählt von
ähnlichen Schicksalen. "Ich habe hier fast jeden Tag das Grauen." Auch
in anderen Ländern gibt es vergleichbare Beratungsstellen. "Esra" in
Wien zum Beispiel bekommt jährlich zehn Millionen Schilling von der
Stadt, fast alle Mitarbeiterstellen werden nach Angaben der Österreicher
aus öffentlichen Geldern finanziert. "Kein Geld zur Verfügung zu
stellen, das ist, als würde man zu meinen Patienten sagen, es gebe sie
gar nicht."
Rund 150 Menschen werden jährlich bei "Esra" in Berlin
betreut. Sie kommen teils über Jahre zu Einzeltherapien, zu
Gruppenbehandlungen oder nur ein paar mal. "Gerade die Nachkommen, die
als Kind Mitverfolgten, haben bis heute mit den Folgen zu kämpfen", sagt
Rossberg. "Sie haben alles verloren - Eltern, Familie, Freunde."
Viele seien ohne kulturelle Indentität, in Heimen
aufgewachsen. Viele hätten keine anständige Schulbildung gehabt, einfach
keine Chance. Ihr Leben sei geprägt von Minderwertigkeitsgefühlen, von
Mißtrauen, Isolation und Überanpassung. "Das haben sie als Kinder
gelernt."
Bei ihrer Arbeit kämpft Rossberg auch gegen körperliche
Beschwerden, in denen das Verdrängen seinen Ausdruck findet. "Eine Frau
kann bis heute nicht über ihre Geschichte reden - sie bekommt sofort
einen wahnsinnigen Ausschlag."
Auch beim Ausfüllen von Anträgen für Entschädigungen brauchen
ihre Patienten Hilfe. "Wenn die beantworten müssen, warum sie verfolgt
wurden, kommen alle Emotionen hoch." Diese Erfahrung hat auch die ältere
jüdische Dame gemacht, die bei Rossberg in Behandlung war: "Das ist
alleine unaushaltbar."
Das meiste Geld für die Arbeit bekommt "Esra" nach eigenen
Angaben seit 1996 von der "Jewish Claims Conference". Die
US-Organisation vertritt die Ansprüche auf erbenloses Vermögen von
Holocaust-Opfern und unterstützt satzungsgemäß soziale Einrichtungen für
Juden. Zwar ist "Esra" dankbar für die Hilfe. Doch gleichzeitig kommt
sie in den Augen Rossbergs von der falschen Seite: "Jetzt sollen Juden
für das bezahlen, was Deutsche Juden angetan haben." Es gehe ihr nicht
einmal um eine vollständige Finanzierung des Projekts von staatlicher
Seite. "Jeder Beitrag würde unseren Patienten klarmachen, daß sie nicht
vergessen und verleugnet werden."
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