Second Generation:
Lebende Gedenkkerzen
Die Kinder der Holocaust-Überlebenden kämpfen
seit Jahren um die Anerkennung ihrer Leiden. Tausende haben inzwischen eine
Sammelklage gegen Deutschland erwogen und angestrengt...
von bernd keuerleber
Ich denke, es ist an der Zeit, die Stimme für die Zweite
Generation zu erheben, deren Seelen die Angst gezeichnet hat, und sie ebenfalls
als Opfer des Holocaust anzuerkennen«, sagt Gideon Fisher in der Presse. Er ist
das Kind Überlebender des Vernichtungslagers Auschwitz. Und er ist der Vertreter
der Anklage. Am 15. Juli 2007 reichten etwa 4.000 Angehörige der so genannten
Zweiten Generation bei einem Tel Aviver Bezirksgericht eine Sammelklage gegen
die Bundesrepublik Deutschland ein. Mit dieser Klage soll Deutschland zur
Zahlung der Therapiekosten von Hilfsbedürftigen verpflichtet werden, die sie
nicht selbst begleichen können. Neben dem konkreten, finanziellen Anliegen geht
es aber auch darum, auf die schwierige Situation der Kinder von Überlebenden der
Shoah aufmerksam zu machen.
Die Überlebenden, die nach der Befreiung 1945 aus den Lagern, Verstecken oder
dem Exil in das Leben zurückkehrten, nachdem die Nationalsozialisten das
scheinbar sichere Todesurteil über sie verhängt hatten, litten in ihrer
überwiegenden Mehrheit unter verschiedenen Symptomen, die mittlerweile unter dem
Begriff der »posttraumatischen Belastungsstörung« zusammengefasst werden. Viele
waren die einzigen Überlebenden ihrer Familien. Sie hatten verheerende
körperliche und psychische Gewalt erlitten. Ihre Kinder, Eltern, Freunde oder
Geschwister waren von den Nazis ermordet worden. Nun kamen diese dem Tod
entronnenen Menschen zurück in eine Welt, die ihnen fremd geworden war und die
ihnen oft mit Unverständnis und Ablehnung begegnete.
In den ersten zehn Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg wurden viele Kinder von
Überlebenden geboren, häufig noch in den Lagern für so genannte Displaced
Persons oder kurz nach der Ankunft in den Einwanderungsländern. Die Geburt eines
Kindes wurde für viele zum Symbol des eigenen Überlebens und ermöglichte ihnen,
an das Leben vor der Shoah anzuknüpfen und sich eine Zukunft vorzustellen. So
wurden die Kinder vor enorme Anforderungen gestellt. Und da sie ihre
traumatisierten Mütter und Väter als äußerst schutzbedürftig und verletzlich
erlebten, kam es in vielen Fällen zu einem regelrechten Rollentausch, in dem die
Kinder an die Stelle der Eltern traten.
Auch wenn die meisten Überlebenden nach außen hin ein ganz gewöhnliches, oft
sogar sehr erfolgreiches Leben führten, waren ihre Kinder in der Familie
andauernd mit den Nachwirkungen des Holocaust konfrontiert. Sei es durch die
nächtlichen Schreie der von Alpträumen geplagten Eltern oder durch die
Allgegenwärtigkeit von Überlebensstrategien aus der Zeit der Verfolgung. Egal,
ob in der Familie nun ein »Pakt des Schweigens« herrschte oder unentwegt von der
Shoah gesprochen wurde, die Leerstellen in den Erzählungen, ebenso wie immer
wiederkehrende Andeutungen, Gesten oder Gesprächsabbrüche wurden von den Kindern
zwangsläufig mit den Erfahrungen der Shoah in Verbindung gebracht und
gleichzeitig mit eigenen Ängsten und Phantasien angefüllt.
Zudem konnten sich viele Angehörige der Zweiten Generation, die an den
Auswirkungen der psychischen Wunden ihrer Eltern litten, nicht eingestehen, dass
sie auch negative Gefühle gegen ihre Väter und Mütter entwickelten. Noch
schwieriger war es, diese Gefühle zu äußern und zu kanalisieren. Die Eltern
hatten ja schon genug gelitten. Das Verhältnis der Kinder zu ihnen war auf diese
Weise mit Schuldgefühlen behaftet.
Die häufig beschriebene »Überbehütung« machte es den Nachkommen der
Holocaust-Überlebenden gleichzeitig unmöglich, sich abzunabeln. Psychoanalytiker
wie Ilan Kogan, der 1957 nach Israel emigrierte und zahlreiche Arbeiten zur
Zweiten Generation veröffentlicht hat, haben auf die daraus resultierenden
Probleme in der Identitätsbildung und der Entwicklung des Selbstwertgefühls
hingewiesen.
In zahlreichen Familien waren die Nachgeborenen auch ein Ersatz für ein Kind,
das die Shoah nicht überlebt hatte. In anderen Fällen wurden die Kinder oft nach
den ermordeten Eltern oder Geschwistern benannt und so zu lebenden
»Gedenkkerzen« gemacht. Dina Wardi, eine israelische Psychotherapeutin, die seit
vielen Jahren Kinder von Holocaust-Überlebenden behandelt, beschreibt in ihrem
Buch »Siegel der Erinnerung« den Fall der 1946 geborenen Dvorah. Nach ihrer
Geburt verfiel die Mutter in Depressionen. Für den Vater, der seine gesamte
Familie während der Shoah verloren hatte und nach dessen Schwester Dvorah
benannt wurde, stellte sie den Inbegriff der Kontinuität dar. Sie erzählt in dem
Buch: »Mein Vater hat nie über den Holocaust gesprochen. Kein Wort. Über keinen
einzigen seiner Familie. Aber er warf mir oft einen langen Blick zu, voller
Trauer und Sehnsucht, und sagte: ›Du siehst wie meine Schwester Dvorah aus, nur
nicht so hübsch wie sie.‹«
Wardi beschreibt anhand dieses Falles die ambivalente Stellung, die die Kinder
im Bewusstsein der Eltern einnehmen: »Gegen die Bilder der umgekommenen, nach
ihrem Tod idealisierten Objekte haben die ›Gedenkkerzen‹ keine Chance und werden
in dieser ganz und gar unfairen Gegenüberstellung stets das Nachsehen haben.«
Wardi geht anhand analytischer und familientherapeutischer Ansätze davon aus,
dass in vielen Familien mit mehreren Kindern eines die Rolle der »Gedenkkerze«
übernimmt und damit die Geschwister von der emotionalen Last befreit. Das ist
möglicherweise ein Grund dafür, dass viele Angehörige der Zweiten Generation
zwar Anzeichen für eine Weitergabe des elterlichen Traumas aufweisen, aber in
ihrer großen Mehrheit nicht mit psychischen Problemen konfrontiert sind.
Zwar ist die Weitergabe von Traumata heute kaum noch umstritten. Der Großteil
der Zweiten Generation und selbst die meisten Überlebenden kamen und kommen aber
ausgesprochen gut mit ihrem Leben zurecht. Baruch Mazor, der Direktor des von
Anklagevertreter Gideon Fisher gegründeten Fisher-Fonds, gibt an, ungefähr vier
bis fünf Prozent der Kinder Überlebender benötigten therapeutische Hilfe.
Natan Kellermann, Psychologe bei AMCHA, einer israelischen
Selbsthilfeorganisation für die psychosoziale Unterstützung von
Holocaust-Überlebenden und deren Angehörigen, kommt in einer im Jahr 2001
veröffentlichten Studie ebenfalls zu dem Ergebnis, dass nur eine Minderheit der
Nachkommen an psychischen Problemen leidet. Er stellt jedoch heraus, dass die
Betroffenen ein spezifisches, psychologisches Profil aufweisen, das vom Trauma
des Holocaust geprägt wurde.
AMCHA arbeitet seit 20 Jahren für Überlebende und Angehörige der Zweiten
Generation und bietet breit gefächerte Unterstützung in Form von Sozialclubs,
Gesprächsgruppen und therapeutischer Hilfe an. Im vergangenen Jahr waren
ungefähr zehn Prozent der Klienten Nachkommen von Überlebenden. Mehr als die
Hälfte der Kosten für Therapiesitzungen tragen die Betroffenen selbst, da die
Krankenkassen in Israel im Allgemeinen nur einen geringen Anteil übernehmen. Die
verbleibende Summe muss durch Spenden aufgebracht werden. Auch wenn die
Organisation nicht an der derzeitigen Sammelklage beteiligt ist, könnten
Spendenzuschüsse die Anstrengungen und Bemühungen von AMCHA erleichtern, die
Situation dieses Teils der israelischen Bevölkerung zu verbessern.
Doch nicht wenige der Zweiten Generation stehen der Klage skeptisch oder sogar
ablehnend gegenüber. In einem Interview mit dem NDR sagte die israelische
Schriftstellerin Lizzie Doron, die Tochter einer Shoah-Überlebenden, sie fühle
sich bei dem Gedanken an das Verfahren nicht wohl und befürchte eine Belastung
der deutsch-israelischen Beziehungen.
Die Angst ist groß, dass durch die finanziellen Forderungen und den gewählten,
juristischen Weg dem an sich wichtigen Anliegen geschadet werden könnte. Denn
sowohl das Mitgefühl für die Betroffenen als auch das Wissen um die psychischen
Spätfolgen der Shoah sind gering in Deutschland. Die Klage könnte eher Abwehr
als Verständnis hervorrufen.
Erschienen in
Jungle World Nr. 33 vom 17.August 2007
Friedmann,
A. , Hofmann, P. , Vyssoki, D. (Hrsg.)
Psychotrauma:
Die Posttraumatische Belastungsstörung
Die Autoren dieses Handbuches sind anerkannte Experten und
bereiten Themen wie Epidemiologie, Komorbidität, Psychodiagnostik
praxisrelevant auf. Aktuelle Beispiele geben Hilfestellung im Umgang mit
Überlebenden der NS-Verfolgung, sowie mit Opfern von Folter, Flucht, Gewalt,
sexuellem Missbrauch, Katastrophen oder Unfällen. "Psychotrauma" bietet
somit umfassende Information sowie klare Handlungsanleitungen, die
unterschiedliche Fachleute zur Ergänzung ihrer eigenen Arbeitsweisen nutzen
können.
2004. IX, 221 Seiten. 13 Abbildungen., Broschiert EUR 39,80,
ISBN 3-211-83882-1, www.springer.at /
Inhaltsverzeichnis (pdf 20kb)
[BESTELLEN?]
Geschrieben für: Psychiater, Psychotherapeuten, Verhaltenstherapeuten,
Psychoanalytiker, Psychologen, Klinische Psychologen; Schlagworte: Katastrophe,
PTSD, Posttraumatische Belastungsstörung, Posttraumatisches Syndrom, Stress,
Traumata
"Siegel der Erinnerung":
Über die Weitergabe des stummen Entsetzens
Die »Gedenkkerzen« und die Wucht der seelischen Deformation der
Opferkinder...
Dina Wardi:
Siegel der Erinnerung
In den letzten zwanzig Jahren meiner Tätigkeit als Psychotherapeutin habe
ich, in einer Kombination von Einzel- und Gruppentherapie, Dutzende von
Söhnen und Töchtern Holocaust-Überlebender behandelt...
Reden ist besser als Schweigen:
Auch die
Enkel leiden am Holocaust
Die
Wunden des Holocaust bluten noch immer. Zu diesem Schluß kommen
Psychotherapeuten, die mit den Kindern von Opfern und von Tätern des
Nationalsozialismus arbeiten...
Ilani Kogan:
Der stumme Schrei der Kinder
In sieben ebenso eindrucksvollen wie verstörenden psychoanalytischen
Fallstudien zeigt Ilany Kogan, wie Angehörige der sogenannten zweiten
Generation, also Kinder von Überlebenden des Holocaust, auf ihre Weise an
den schrecklichen Folgen einer Vergangenheit leiden, die nicht ihre eigene
ist...
Die dritte Generation:
Enkel des Holocaust
Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, warum ich
meine Gedanken zum Schicksal meiner Großmutter und zum Holocaust
aufschreiben musste. Ich hatte wohl das Gefühl, einen persönlichen Abschluss
mit dem Thema herbeiführen zu müssen, das mich schon so lange beschäftigt...
De Prijs van Overleven, der Preis des
Überlebens:
Begrijpt u nu waarom ik huil?
1969 drehte Louis van Gasteren
"Verstehst du jetzt, warum ich
weine?", einen Film über einen Überlebenden eines
Konzentrationslagers...
ESRA in Wien:
Hilfe für NS-Verfolgte und
ihre Kinder
Akutpsychotraumatologie, Holocaustsyndrom und
Migrationssyndrom...
"Care, Cure and Justice":
esra für Schoah-Überlebende
esra - hebräisch Hilfe - wurde 1991 in Berlin, mehrheitlich von
international bekannten ausländischen Fachkräften, für die psychosozialen
Folgen der Schoah ins Leben gerufen...
Posttraumatische Belastungsstörung:
Cannabis gegen Kriegstrauma
Der israelische Forscher Rafael Meshulam von der School of
Pharmacy an der Hebräischen Universität zu Jerusalem, hat mit Cannabis gute
Erfolge erzielt...
hagalil.com 20-08-2007
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