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Der März der Schande

Die antisemitische Parteikampagne vom März 1968 in Polen

Gabriele Lesser

"Die Reisenden des Zuges 'Chopin' werden daran erinnert, daß sie gültige Fahrkarten und Reisedokumente besitzen müssen", wiederholt die Ansagerin auf dem 'Danziger Bahnhof' in Warschau monoton. Ab März 1968 stehen hier Sonderzüge nach Wien bereit. Polen bürgert "Systemfeinde" aus.

Dreißig Jahre später versammeln sich auf diesem Bahnhof die damals Ausgebürgerten: Juden, die als angebliche "Zionisten" das Land verlassen und für die Ausreise und den Verlust der Staatsangehörigkeit auch noch bezahlen mußten. Auf der Gedenktafel steht: "Sie haben mehr zurückgelassen, als sie besaßen". Gemeint ist die Liebe zu einem Land, das die Vorfahren, die vor Hunderten von Jahren hierher gekommen waren, als "Paradies" bezeichneten. Nach der Shoah flohen die Überlebenden aus dem "Land des Schreckens und der Pogrome". Die letzten Juden Polens wurden 1968 ausgebürgert. Dreißig Jahre später treffen sich im Warschauer PEN-Club Literaten und Schöngeister, an der Universität Historiker und Philosophen, im Jüdischen Theater Schauspieler, Musiker und Filmemacher. Ganz Warschau gibt sich dem Gedenktaumel hin. Alle sind sich einig: "Der März 1968 ist ein Schandfleck in der Geschichte Polens". Nur von den Tätern fehlt jede Spur. Niemand bekennt sich schuldig, niemand auch weist mit dem Finger auf sie. Der März 1968 war ein "Fehler im System". Und dabei bleibt es. "Die Rechnung ist nach wie vor offen", stellt der Schriftsteller Henryk Grynberg - auch er ein Vertriebener - nach all den Gedenkveranstaltungen verbittert fest.

Im Januar 1968 streicht die oberste Zensurbehörde in Warschau die "Totenfeier" vom Spielplan des Nationaltheaters. Damit ist für die Studenten das Maß voll. Sie besetzen die Universität der Hauptstadt, verteidigen den polnischen Nationaldichter Adam Mickiewicz, demonstrieren für Freiheit und Demokratie. Doch auf der Straße warten bereits die Arbeiter mit den Schlagstöcken. Milizionäre, die sie auf Lastwagen herangekarrt haben, übernehmen das Prügeln, als den Arbeitern langsam die Kraft ausgeht. Der 8. März 1968 geht als "Tag der Schande" in die Geschichte Polens ein. Am Tag darauf heißt es in der Parteipresse, daß die "Vertreter der Arbeiter-Klasse" den "Bananen-Studenten" gezeigt hätten, wofür es sich in Volkspolen zu kämpfen lohnt. Für "Arbeit, Studium, Ruhe!", wie es auf den Transparenten heißt, für "Gomulka!", den Parteivorsitzenden, und natürlich für die "Arbeiterpartei!". Der Feind und Provokateur habe die polnischen Studenten unterwandert und gegen die Arbeiter- und Bauernklasse aufgestachelt.: "Raus mit den Zionisten!"

In den folgenden Monaten organisiert die kommunistische Partei Polens (PVAP) eine beispiellose Hetzkampagne gegen die "Aufrührer und Verräter der Nation". Der Sündenbock für die Krise in Staat und Partei war schon Monate vor dem "März 1968" ausgespäht worden: die Überlebenden des Holocaust und ihre Kinder. Die "Zionisten", so heißt es 1968 in fast allen Medien Polens, seien vom Ausland finanzierte Konterrevolutionäre, die die polnische Jugend den Imperialisten in die Arme treiben wollten. Erst heute, da die Archive geöffnet werden, wird deutlich, daß das Verbot der Theateraufführung eine staatlich geplante Provokation war. Der Machtkampf innerhalb der kommunistischen Partei sollte den "Partisanenflügel" um Innenminister Mieczyslaw Moczar an die Spitze bringen. Die "Moskowiter" hingegen, Kommunisten, die nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Roten Armee nach Polen gekommen waren, kämpften um den Machterhalt. Parteichef Wladyslaw Gomulka, der 1956 nach Arbeiterunruhen in Poznan (Posen) enthusiastisch als Reformer von Partei und Staat begrüßt worden war, hatte im Lauf der Jahre alle Hoffnungen auf eine Änderung des Systems enttäuscht. Im Lande gärte es. An Reformen glaubte niemand mehr. Gomulka verlor das Vertrauen der Intelligenz und galt immer mehr als ein Mann mit nur beschränktem Horizont.

Bereits 1966 hatte der Parteichef einen technischen Knock Out im Kampf mit der katholischen Kirche Polens hinnehmen müssen. Statt die Polen der Kirche zu entfremden, hatte die Parteipropaganda genau das Gegenteil erreicht. Die Schikanen gegenüber den Bischöfen, die 1965 ihren Versöhnungsbrief mit dem berühmten Satz "Wir vergeben und bitten um Vergebung" nach Deutschland geschickt hatten, weckten Mitgefühl, nicht etwa Schadenfreude. Das Einreiseverbot für den Papst diskreditierte die Partei endgültig.

Gomulka hatte sich halbwegs von dieser Niederlage erholt, als Moskau schon wieder meinte, die eigensinnigen Polen "zur Ordnung rufen" zu müssen. Israel hatte im später so genannten "Sechs-Tage-Krieg" seine militärische Überlegenheit gegenüber den von der Sowjetunion hochgerüsteten arabischen Staaten gezeigt. Statt nun aber die offizielle Linie der Warschauer-Pakt-Staaten mitzutragen - bis auf Rumänien brachen alle Satelliten Moskaus die Beziehunge zu Israel ab - zeigten die Polen offene Sympathie für Israel und dessen berühmte Kriegshelden: polnische Juden. Das Victory-Zeichen und der Satz "Unsre Juden verhauen ihre Araber" waren so eindeutig antisowjetisch, daß Gomulka nach Konsultationen mit sowjetischen Beratern am 20. Juni 1967 eine Hetzrede gegen Israel und Amerika hielt. Sie hatte die größte antisemitische Kampagne im Nachkriegspolen zur Folge.

Millionen von Menschen saßen vor Fernseher und Radio, als Gomulka vor der "fünften Kolonne" im Lande warnte. Gemeint waren diesmal nicht die Nazis und deren Kollaborateure, sondern die "Zionisten", Mieczyslaw Moczar und seine "Partisanen" schienen auf dieses Stichwort nur gewartet zu haben. Der ehemalige Geheimdienstchef hatte schon Anfang der 60er Jahre eine eigene "Abteilung für Ahnenforschung" eingerichtet. Dort ließ er - gründlicher noch als die Nationalsozialisten - die "arische" oder auch "nichtarische" Herkunft der Parteikader, Offiziere und Wissenschaftler bis in die achte Generation hinein überprüfen.

In den Zeitungen begann es plötzlich nur so zu wimmeln vor Juden. Überall schienen sie zu sein, in der Partei, an den Universitäten, in den Verlagen, im Radio und Fernsehen, an den Gerichten, in den Schulen, in Arzt- und Rechtsanwaltspraxen. Diese polnischen "Zionisten" arbeiteten angeblich mit den "Revisionisten" in Deutschland zusammen und bildeten eine gegen Polen gerichtete "Achse Bonn-Tel Aviv". Moczar und seine "Partisanen" wußten, daß die Studenten Adam Michnik, Henryk Szlajfer, Seweryn Blumsztajn und andere gegen das Verbot der "Totenfeier" protestieren würden. Jetzt mußte nur noch für eine Eskalation der Ereignisse gesorgt werden, und dann war der Weg nach oben frei. Gomulka, der nicht mehr "Herr der Lage" wäre, würde abtreten müssen, und Moczar konnte seine Nachfolge antreten. Doch Gomulka reagierte anders als erwartet. Er hieb ebenfalls in die antisemitische Kerbe, unterstütze die "Säuberung in Partei und Staat" und rettete damit - zumindest für die nächsten zwei Jahre - seinen Kopf. Den Preis für diese innerparteilichen Machtkämpfe mußten die letzten in Polen verbliebenen Juden zahlen.

Hunderte von Studenten wurden verhaftet, Michnik und Szlaifer flogen von der Universität, Arbeiter demonstrierten für die "Entfernung aller zionistischen Elemente aus Staat und Partei", verdiente Genossen, denen die Abteilung Ahnenforschung eine jüdische Abstammung nachweisen konnte, mußten Dankadressen an das "polnische Volk für die im Krieg erwiesene Hilfeleitung" schreiben. Zehntausende verloren ihre Stellung, einige begingen Selbstmord, knapp 20.000 verließen das Land. Mit der Ausreise verloren die "Zionisten" automatisch die polnische Staatsbürgerschaft und wurden staatenlos.

Geholfen hat ihnen kaum jemand. Zwar protestierte der katholische Abgeordnetenzirkel ZNAK gegen die Verhaftung der Studenten, doch ebenso wie die Bischöfe wollten sich auch die katholischen Abgeordneten lieber nicht zu der antisemitischen Parteikampagne äußern. Pawel Jasienica, der bereits im Februar 1968 auf dem außerordentlichen Schriftstellerkongreß lautstark gegen antisemitische Flugblätter protestiert hatte - einige waren direkt aus dem "Stürmer" übersetzt, geriet in die Mühlen der Parteipresse. Gomulka bezichtigte ihn öffentlich, im Krieg mit den Deutschen kollaboriert, ein polnisches Dorf niedergemetzelt und sich nach dem Krieg den Stalinisten angeschlossen zu haben. Keine einzige Zeitung druckte seine Gegendarstellung.

Heute, dreißig Jahre später, wollen Regierung und Präsident das Unrecht von damals zumindest teilweise wiedergutmachen. Die Ausgebürgerten sollen die polnische Staatsbürgerschaft zurückerhalten. Sie müssen allerdings einen Antrag stellen, da eine pauschale "Rückbürgerung" aus rechtlichen Gründen nicht möglich ist, wie es heißt. Wahrscheinlich möchten auch viele der damals aus dem Lande Gejagten die polnische Staatsbürgerschaft nicht einmal geschenkt zurückhaben. Die Ironie der Geschichte will, daß Präsident Aleksander Kwasniewski, der selbst in der Partei Karriere gemacht und es noch im alten System bis zum Minister brachte, zum Jahrestag des 8. März zweien der damals Verfolgten den höchsten Orden Polens verleiht: den "Weißen Adler". Dank Jacek Kuron und Karol Modzelewski, so Kwasniewski in seiner Ansprache, könne "Polen mit gutem Gewissen in den Spiegel sehen." Die beiden haben den Machtkampf innerhalb der kommunistischen Partei, später die Auseinandersetzung zwischen der Gewerkschaft Solidarnosc und der Partei mit jeweils neun Jahren Gefängnis und einer ruinierten Gesundheit bezahlt. "Wir können die Geschichte nicht rückgängig machen", so Kwasniewski achselzuckend. "Wir erinnern und wir schämen uns. Polen muß im neuen Jahrtausend die schwierige Vergangenheit überwinden und eine neue Zukunft bauen."

Daß die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden könnten, ist für Kwasniewski kein Thema. Denn trotz aller Trauer und Scham ist der "März 1968" für die Polen vor allem eines: Geschichte.

Dieser Artikel wird auch in der kommenden Nummer des Israelitschen Wochenblattes Nr. 13, 27.3.1998, erscheinen. Die Autorin ist mit der unter ihrem Namen abgedruckten Fassung in der Allgemeinen Jüdischen Wochenzeitung (nr.6/98 -19-3-1998) nicht einverstanden.

Mit besten Grüßen aus Warschau
Gabriele Lesser

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