Jüdische Ärzte zwischen
nationalsozialistischer Verfolgung,
Emigration und Wiedergutmachung:
Zerrissene Biographien
Ein Forschungsbericht von Linda-Lucia
Damskis, vorgestellt in München, anläßlich des 70. Jahrestags des Approbationsentzugs
jüdischer Ärzte
Der Approbationsentzug im Jahre 1938
stellte eine Zäsur im Leben jüdischer Ärzte
dar. Daneben beeinträchtigten weitere
nationalsozialistische Verfolgungsmaßnahmen
das Leben und Wirken jüdischer Mediziner
während des Nationalsozialismus und die
Nachwirkungen von Flucht und Vertreibung
prägten die Lebenswelt der Verfolgten weit
über das Jahr 1945 hinaus.
Im Rahmen einer von der Kassenärztlichen
Vereinigung Bayern geförderten Studie wurden
die Folgen der nationalsozialistischen
Machtübernahme für jüdische Ärzte in Bayern
anhand von exemplarischen Einzelschicksalen
erforscht. Die Untersuchung nahm zum einen
die unmittelbar erfahrenen
Beeinträchtigungen unter dem NS-Regime in
den Blick, und untersuchte zum anderen,
welche Auswirkungen die Verfolgung auf das
Lebensganze entfaltete. Sie lässt die
Geschichte jüdischer Ärzte daher nicht – wie
in der historiographischen Forschung bisher
üblich – mit der Verfolgung enden, sondern
blickt über die Epochenzäsur von 1945
hinaus. Die gezwungene Emigration erwies
sich als weitere einschneidende
Lebenserfahrung. Für die Zeit nach dem Krieg
rücken die potentielle Remigration und die
Wiedergutmachung nationalsozialistischen
Unrechts in das Blickfeld. Damit ist die
zeitliche Perspektive der Untersuchung
markiert: Sie erstreckt sich von 1933 bis
weit über das Ende der NS-Herrschaft hinaus.
Um die Lebensschicksale der Verfolgten zu
rekonstruieren, wurden die einschlägigen
Entschädigungs- und Rückerstattungsakten
herangezogen, sowie in Polizei- und
Personalakten, in Akten der Finanzämter und
in Nachlässen recherchiert. Im Sinne eines
erfahrungsgeschichtlichen Ansatzes stellt
die Studie bei der genaueren Untersuchung
von elf Einzelfällen das subjektive Erleben
ins Zentrum und hebt den
lebensgeschichtlichen Zusammenhang der
einzelnen Phasen der Verfolgung, des Exils,
der möglichen Rückkehr und der
„Wiedergutmachung“ hervor. Es wurden
gleichermaßen jüngere und ältere, männliche
und weibliche Mediziner, Privat- und
Kassenärzte, sowie Studenten und
Hochschuldozenten der Medizin in den Blick
genommen. Auf dieser Art und Weise konnten
sowohl charakteristische Konstellationen für
den ärztlichen Berufsstand als auch die
besonderen Umstände im Einzelfall
herausgearbeitet werden.
Zur Eröffnung der Ausstellung
„Approbationsentzug 1938“ soll ein Einblick
in die biographischen Fallstudien gewährt
und wesentliche Aspekte der Untersuchung
hervorgehoben werden. Die erheblichen
Differenzen zwischen den Lebensläufen und
Erfahrungswelten jüdischer Mediziner hingen
von diversen Faktoren ab. Einige dieser
Gesichtspunkte sollen an zwei Fallbeispielen
aufgezeigt werden.
Der Chirurg Dr. Alfred Haas war
Inhaber und Chef einer von drei Münchner
Privatkliniken in jüdischer Hand. Er
verfügte sowohl über großes Renommee als
auch über ein außerordentliches finanzielles
Vermögen. Bis 1938 konnte Dr. Haas den
Quellen zufolge relativ ungestört seinem
Beruf nachgehen. Nachdem ihm allerdings im
Oktober 1938 wie allen anderen jüdischen
Ärzten kraft der „Vierten Verordnung zum
Reichsbürgergesetz“ die Approbation entzogen
worden war, sah sich Dr. Haas zum Verkauf
seiner Privatklinik genötigt. Seiner
Arbeitsmöglichkeit und im Zuge der
‚Arisierung’ auch seines Privatvermögens
beraubt reagierte Dr. Alfred Haas wie viele
andere jüdische Ärzte mit Flucht und
emigrierte in die U.S.A. Dort gelang ihm
wegen seiner wirtschaftlichen Stellung,
seiner internationalen Kontakte und aufgrund
der Fähigkeit, sich der neuen Situation mit
ihren Anforderungen zu stellen, ein
Neuanfang. Er bestand den erforderlichen
Sprachtest und das Medizinerlizenzexamen und
konnte anschließend eine neue Praxis in New
York eröffnen, die sich nach einiger Zeit
rentierte. Dieser Erfolg darf nicht das
unter dem NS-Regime erfahrene Unrecht
vergessen lassen. Im Rahmen der
Wiedergutmachung wurde zwar die Privatklinik
zurückerstattet und Dr. Haas erhielt eine
Ausgleichsrente; seine gewohnte Lebens- und
Berufswelt war jedoch unwiederbringlich
verloren.
Für die Zahnmedizinerin Margaret
Rosenthal aus Würzburg war die
nationalsozialistische Verfolgung
folgenschwer. Nachdem sie ihr Studium der
Zahnmedizin trotz der Beeinträchtigung durch
antisemitische Diskriminierungsmaßnahmen
erfolgreich beendet hatte, wurde ihr im Jahr
1935 vom Staatsministerium des Inneren die
Approbation verwehrt. Ohne Arbeitserlaubnis
und Verdienstmöglichkeit sah sie sich schon
früh mit der Ausweglosigkeit der Situation
in Deutschland konfrontiert. Bis sie mit
ihrem Mann über die Schweiz in die U.S.A.
emigrieren konnte, vergingen noch mehrere
Jahre, da familiäre Bindungen hemmend
wirkten und die Aus- und
Einreisebestimmungen schwere Hürden
darstellten. 1940 endlich in den U.S.A.
angekommen teilte Margaret Rosenthal das
Schicksal mit zwei Drittel der emigrierten
Medizinerinnen, die nie wieder praktizieren
sollten. Um für den Lebensunterhalt der
Familie zu sorgen, nahmen die meisten dieser
examinierten Medizinerinnen jegliche
Hilfsarbeiten an, während ihre Ehemänner
sich um einen neuen Berufseinstieg bemühten.
Der Tatsache, dass viele Ärztinnen
ehrenamtlich im ärztlichen Bereich tätig
wurden, steht der Verlust ihres
Lebensentwurfs gegenüber.
Die Untersuchung der einzelnen Biographien
zeigte im Vergleich, dass der
Erfahrungshorizont jüdischer Mediziner bei
aller Heterogenität der jüdischen
Ärzteschaft und der Individualität des
Einzelschicksals von Gemeinsamkeiten geprägt
war. Die nationalsozialistische Verfolgung
hatte verheerende Auswirkungen. Jüdische
Ärzte verloren Beruf, Doktortitel,
Lebenswelt und – nicht wenige – ihr Leben.
Und auch die Emigration bildete einen
einschneidenden Lebensabschnitt, da der
Neuanfang im Exil in jedem Fall schwer war.
Nur wenige jüdische Ärzte kehrten nach 1945
nach Deutschland zurück. Die
Wiedergutmachung stellte „für die
geschändeten Leben der jüdischen NS-Opfer
einen Beitrag zur Heilung von Biographien
dar – nicht mehr, aber auch nicht weniger.“1
Es war Ziel der Studie, einzelne Biographien
aus der Anonymität der Zahlen hervorzuholen
und dadurch der Geschichte Gesichter zu
geben.
1 Winstel, Tobias, Über die Bedeutung der
Wiedergutmachung im Leben der jüdischen
NS-Verfolgten. Erfahrungsgeschichtliche
Annäherungen, in: Hockerts, Hans Günter/Kuller,
Christiane (Hrsg.), Nach der Verfolgung.
Wiedergutmachung nationalsozialistischen
Unrechts in Deutschland?, Göttingen 2003, S.
199-227, hier S. 221.
Approbationsentzug 1938:
Und keiner hat es
gewusst?
Als Vorsitzender des Jüdischen
Ärzteverbandes Paul Ehrlich vertrete ich
etwa 80 Kolleginnen und Kollegen in ganz
Bayern. Es sind 20 Jahre her, 50 Jahre nach
Approbationsentzug für jüdische Ärzte in
Deutschland, als wir, auf der Suche nach
unseren Wurzeln, diesen Verband zu neuem
Leben erweckten...
Approbationsentzug 1938:
Ein Grund zur Trauer
1990 erschien ein Buch Simon Wiesenthals mit dem Titel: „Jeder
Tag ein Gedenktag“. Wiesenthal hat darin Verbrechen um Verbrechen aufgelistet,
die gegen Juden im Laufe von Jahrhunderten begangen worden sind. So wird jeder
Tag des Jahres zum Gedenktag, an jedem Tag gibt es Grund zur Trauer...
Ausstellung in München:
Approbationsentzug 1938
In München ist zur Zeit die Ausstellung „Approbationsentzug 1938“ zu sehen.
Darin wird anhand von Dokumenten und persönlichen Lebenswegen auf das Schicksal
jüdischer Ärztinnen und Ärzte aufmerksam gemacht, die zum Zeitpunkt der
Machtergreifung durch die Nationalsozialisten im Jahr 1933 in München lebten und
arbeiteten... |