[Online-Bildung:
Antisemitismus gestern und heute]
Teil 2
Flavius Josephus, Wilhelm Reich, Constantin Brunner?
Der alt-neue Horror
David Gall
Nach dem Holocaust dachten viele, der Antisemitismus sei auf immer
diskreditiert. Bald zeigte sich jedoch, dass dies ein Trugschluss war,
denn der Antisemitismus, das älteste Vorurteil der Geschichte, tritt
immer wieder und in zahlreichen Variationen auf. So wurde schon oft die
Frage gestellt, ob es denn neben dem "alten" auch einen "neuen
Antisemitismus" gäbe - "trotz" oder gerade "wegen Auschwitz".
Was der israelische Psychoanalytiker
Zvi Rix schon 1974 formulierte, dass nämlich "die Deutschen den Juden
Auschwitz lange nicht vergeben werden", liest sich in einer Studie der
Anti-Defamation-League (ADL, 2005), durchgeführt unter 60.000 Personen
in Europa, folgendermaßen: "42% der Befragten sind der Meinung, dass
Juden zu viel über den Holocaust reden". In Deutschland waren es sogar
48% der Befragten, die sich so äußerten.
Ergänzt werden solche Beobachtungen durch die regelmäßigen Berichte der
Heitmeyer-Studien oder auch des Verfassungsschutzes. Eine Studie der FES
(2006) weist explizit auf den "Antisemitismus in der Mitte der
Gesellschaft" hin.
Dieser wird besonders gerne geleugnet oder übersehen, was kein Wunder
ist, wird doch gerade der alltägliche Antisemitismus
zuerst vom "Verbreiter" versteckt formuliert, um danach, oft genug, auch
noch von den Zuhörern "unter den Teppich gekehrt" zu werden. Dass
derartige "Verkrampftheiten im Alltag" zu Aggressionen führen können,
ist in der Regel leichter zu erkennen, als der antisemitische "Verdacht
oder Vorbehalt" selbst.
Fast schon
eine Binsenweisheit ist in diesem Zusammenhang die Erkenntnis, dass
Antisemitismus keineswegs von der konkreten Anwesenheit von Juden
abhängig ist, oft sogar gerade dort, wo keine Juden ansprechbar sind,
ganz besonders floriert. Das "Gerücht über die Juden" (Adorno) lebt so
vor allem in Anspielungen fort. Egal wie absurd oder belanglos - vom
Antisemiten, dem bewussten oder unbewussten Judenhasser, wird es dennoch
sofort verstanden.
Dabei ist es unserer Meinung nach gar nicht so überraschend, dass
Verdächtigungen, Umschreibungen und Verschlüsselungen oft schon in
geringen Mengen ihre Wirkung entfalten und die gewünschte Reaktion in
Gang zu setzen. Fast drängt sich der Vergleich mit der Immunologie auf,
denn auch dort genügen winzige Trigger-Dosen um gewaltige Reaktionen
auszulösen.
Obwohl Erklärungen für die geringe Reizschwelle auf der Hand liegen,
werden sie viel zu oft übersehen. Psychologen, Soziologen, Pädagogen,
Werbefachleute und Medienberater sind sich darüber einig, dass die
Propagandafachleute der Nazis sehr erfolgreich waren. Sie verstanden es
alle damals verfügbaren Medien (Kino, Radio, Print etc.) optimal
auszunutzen und gingen dabei so begabt vor, dass etliche Elemente auch
heute noch in der professionellen Massenverführung angewandt werden. Die
Ursachen für diesen Erfolg lagen aber nicht nur im Einsatz manipulativer
Elemente, neuer Medien und herausragender Talente, sondern auch daran,
dass die Organisatoren auf bereits noch früher angelegte Ängste und
Abneigungen bauen konnten, die sich auf das am längsten wirksame
Vorurteil in der Geschichte der Menschheit stützen.
Dass die jahrtausendelange Tradierung eines "Vorurteils", insbesondere
nach einer Episode intensivster massenpsychologischer und multimedialer
Aufbereitung wie in der NS-Zeit, nachhaltige Wirkung zeigen dürfte,
sollte wirklich niemanden wundern. Trotzdem wird gerade dieser einfache
Sachverhalt kaum thematisiert.
Auch dass sich ein bedrohlicher Anstieg gerade heute einstellt, in
Zeiten unübersehbarer Verunsicherung durch "außenpolitische", sprich
nahöstliche Irritationen, sollte nicht überraschen. Und spätestens wenn
in einer Studie des
Eurobarometers 59% aller Europäer (65% der Bundesbürger) der Meinung
sind dass Israel heute das Land ist, das den Weltfrieden am stärksten
bedroht, sollte klar sein, dass wir es hier nicht mit einer rationalen
Betrachtung und tatsächlichen Folgen der Lage im Orient zu tun haben.
Die Virulenz
dieser in fast allen Epochen aufgetretenen Irrationalität steht deshalb
auch nicht im Widerspruch zur gleichzeitig stattfindenden
"Historifizierung" von NS-Zeit und Schoah. Der zeitliche Abstand zum
Erschrecken vor den Folgen der Schoah wächst nämlich proportional
schneller als der Abstand zur jahrtausendelangen Wirksamkeit des
"Gerüchts". Dessen Nachhall wird durch das Verblassen der Erinnerung
wieder wahrnehmbarer und deshalb ist es eben nicht überraschend, dass
die Hemmschwelle zur Äußerung des alten Verdachts sinkt. Die auf
gesellschaftliche Krisen, Globalisierung und Terrorismus folgende
Unsicherheit trägt zusätzlich dazu bei nach vermeintlich "einfachen
Erklärungen" nach vermeintlich "einfachen Erklärungen" und leicht
"abgrenzbaren Schuldigen" zu suchen.
Hier ist zu beachten, dass
Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus zwar oft gemeinsam auftreten,
aber keinesfalls identisch sind. Im Antisemitismus findet sich die
verschwörerische Kombination der "Minderwertigkeit" mit der
"Übermächtigkeit" und es stellt sich ein geheimnisvolles Hin- und
Hergerissensein zwischen "Verachtung", "Neid" und "Ehrfurcht" ein. Bei
aller Fremdheit meint der Antisemit, er habe den Juden erkannt, oder
besser "durchschaut". Vielleicht ist ja gerade deshalb das "Streben nach
finanziellen Vorteilen", das "Verschieben und Manipulieren zur Erlangung
materieller Vorteile", der Renner aller Antisemitismen...
Nächster Teil folgt...
Online-Bildung :
Antisemitismus gestern und heute
Ist die Geschichte der Menschheit eine
unendliche Geschichte von Lüge und Hass? Ja, auch. Aber eben auch eine
Geschichte von Wahrheit und Aufklärung und Solidarität - gegen Lüge, Hass
und Gleichgültigkeit...
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