Erinnerung an einen Pionier der psychoanalytischen Pädagogik und
Sozialarbeiter:
Ernst Federn (26.8.1914 - 24.6.2007)
Von Roland Kaufhold
"Ich fühle mich ganz als
Fortsetzer meines Vaters und betrachte es als meine Lebensaufgabe das Werk
des Professors (Sigmund Freud) in den Dienst einer besseren Weltordnung zu
stellen."
Ernst Federn an Anna Freud, 24. Juli 1945, gut drei Monate
nach seiner Befreiung aus Buchenwald (in Kuschey 2004, Bd II. S. 938).
Ernst Federns Leben trägt die Signatur des 20. Jahrhunderts: Es führte von
Wien über Dachau und Buchenwald nach Brüssel, dann in die USA und
schließlich wieder nach Wien. Ernst Federn, der am 24.6.2007 in Wien
92jährig verstorben ist, war ein führender Historiker der Psychoanalyse, ein
Pionier der psychoanalytischen Pädagogik und einer Psychologie des Terrors.
Die Grundlagen für sein bedeutendes, aber erst viel zu spät beachteten
Werkes schuf er im Konzentrationslager. Ernst Federn versuchte, seine
traumatischen Erfahrungen im Konzentrationslager auf psychoanalytischer
Basis zu analysieren und zu verstehen.
Ernst
Federn, der am 26. August 1914 in Wien geboren wurde, lernte die
Psychoanalyse quasi am Mittagstisch kennen: Sein Großvater war einer der
bekanntesten Ärzte Wiens, sein Vater Paul Federn, Arzt und Psychoanalytiker
der ersten Stunde, war von 1924 bis 1938 als enger Mitarbeiter Sigmund
Freuds an der Entwicklung der jungen Wissenschaft Psychoanalyse beteiligt
und setzte sich maßgeblich für deren soziale und pädagogische Öffnung ein,
im Sinne einer kollektiven Reformbewegung. Insbesondere junge, vom
Reformgeist gespeiste AnalytikerInnen verkehrten regelmäßig im Hause der
Federns, das der ungarische Psychoanalytiker von Isvan Hollós wegen seiner
gesellschaftlichen Offenheit und Liberalität einmal treffend als "Pension
zur aufgelassenen Ich-Grenze" bezeichnet hat.
Dabei hatte sich der junge Ernst Federn die Psychoanalyse nicht als Beruf
vorgenommen. Er studierte in Wien Jura und Sozialwissenschaften mit dem
Wunsch, sozialistischer Politiker zu werden. Schon bald engagierte er sich
bei den ab 1934 verbotenen "Revolutionären Sozialisten", was mehrfache
Inhaftierungen durch die politische Polizei und seinen Ausschluss von der
Universität zur Folge hatte. Aus dieser Not heraus arbeitete er als Sekretär
seines Vaters und beteiligte sich an der Bearbeitung des von diesem -
gemeinsam mit Heinrich Meng - ab 1926 herausgegebenen "Psychoanalytischen
Volksbuchs". Dieses Werk stellt einen ersten, interdisziplinären Versuch
dar, psychoanalytische Erkenntnisse auch breiteren Bevölkerungskreisen zur
Verfügung zu stellen.
Unmittelbar nach ihrer Machtübernahme 1938 verschleppten die
österreichischen Nationalsozialisten Ernst Federn wegen seines
antifaschistischen Kampfes sowie des ihm zugeschriebenen Judentums nach
Dachau, dann nach Buchenwald. Dort freundete er sich mit dem seinerzeit noch
völlig unbekannten Bruno Bettelheim an, woraus eine lebenslange, in ihrem
Briefwechsel dokumentierte, Freundschaft erwuchs (in Kaufhold, 1999). Sie
versuchten zu überleben, indem sie die terroristische Realität zu begreifen
versuchten. In nächtlichen Gesprächen entwarfen sie die Grundlagen einer
Psychologie des Terrors. Bettelheim hatte mehr Glück als Federn: Nach
elf Monaten wurde er mit der Auflage freigelassen, unverzüglich zu
emigrieren. Bettelheim ging nach New York, wohin auch Federns Eltern
geflohen waren, und wurde ein Pionier der Milieutherapie. Er arbeitete mit
psychisch sehr kranken Kindern, deren Leiden er auf psychodynamischer Basis
zu verstehen versuchte und denen er ein ideales Lebensumfeld anbieten wollte
(Kaufhold, 2001).
Ernst Federn hingegen wurde sieben Jahre lang in Buchenwald festgehalten -
und resignierte doch nicht. Seine psychoanalytisch gewonnenen Erkenntnisse
zeigten ihm, dass er sich dem Terror zwar weitgehend anpassen, aber
innerlich Reste von Autonomie erhalten musste. Er wurde auch von Vertretern
der von Kommunisten dominierten sogenannten Häftlingsselbstverwaltung
drangsaliert. Die Stalinisten duldeten abweichende Standpunkte, wie sie
Federn vertrat, nicht. "Als Begründer der österreichischen Sektion der
Vierten Internationale wurde ich im Lager von den Stalinisten isoliert",
schreibt Federn Jahrzehnte später über diese Zeit. "Mit einem Trotzkisten zu
reden, war verboten. Es gab allerdings einen berühmten kommunistischen
Gefangenen, der im Lager unerhörte Dinge durchgestanden hatte. Mit dem habe
ich sehr viel über Psychoanalyse gesprochen. Er ließ es sich nicht
verbieten, mit mir zu sprechen. Da er großen Einfluss auf die anderen hatte,
bekam ich den Ruf des Psychoanalytikers im Lager. Man konnte nun doch mit
mir sprechen, die Leute konnten mit mir über sich und ihre Probleme reden."
(Plänkers/Federn 1994, S. 158f.).
Sein Optimismus war für viele Mitgefangene eine große Ermutigung: "Du warst
verrückt im Lager, mit deinem Optimismus! Aber es war gut, dir zuzuhören",
berichtete ihm sein Freund Edgar Konradi Jahrzehnte später, bei ihrem
glücklichen Wiedertreffen in den USA (s. Kuschey 2004, S. 763f., 785f.,
833). Federn betonte im Rückblick: "Für mich war mein Optimismus ganz
entscheidend für mein Überleben. Ich war völlig überzeugt, daß mir nichts
passiert." (Plänkers/Federn 1994, S. 154)
Im April 1945 wurde Ernst Federn durch US-amerikanische Truppen befreit.
Eine Rückkehr nach Österreich, das von den Russen besetzt war, erschien dem
entschiedenen Gegner Stalins als zu gefährlich - eine realistische
Einschätzung: Sein Freund Karl Fischer beispielsweise wurde vom sowjetischen
Geheimdienst entführt und nach Sibirien verschleppt. Ernst Federn war
innerlich ungebrochen geblieben. Noch im Lager, am 20. April 1945,
veröffentlichte er mit drei anderen Häftlingen die "Erklärung der
internationalistischen Kommunisten Buchenwalds", in der sie sich gegen den
Stalinismus wandten und für eine österreichische Räterepublik eintraten.
Federn ging nach Brüssel, wo er sein politisches Engagement fortsetzte. Er
arbeitete mit dem marxistischen Ökonomen Ernest Mandel sowie mit dem
späteren SPD-Politiker Heinz Kühn zusammen. Zugleich gelang es ihm endlich,
wieder in Kontakt mit seiner Verlobten Hilde Paar zu kommen, die in Wien
sieben Jahre lang auf ihn gewartet und ihn durch regelmäßige, lebensrettende
Geldsendungen unterstützt hatte.
Ernst Federn hatte große Pläne: Er plante ein Buch zum Verhältnis von
Psychoanalyse und Marxismus. Vor allem jedoch arbeitete er, auf der
Grundlage der freudschen Erkenntnisse über das menschliche Seelenleben, an
einer "Psychologie des Terrors". Bereits 1946 veröffentlichte er seine wohl
bedeutsamste Studie, den "Versuch einer Psychologie des Terrors", in
der er seine fürchterlichen Erfahrungen verarbeitete. Er zeigte auf, wie im
Konzentrationslager der individuelle menschliche Sadismus durch ein perfides
System gezielt zum Zweck der grausamen, kollektiven Zerstörung
instrumentalisiert worden war. Die Etablierung eines kriminellen Über-Ichs
förderte die sadistischen Triebe der Einzelnen: "Mit der SS-Uniform wurde
der Verbrecher zum Ehrenmann, wurden seine Schandtaten zum Dienst am Volk.
Außerdem wurden alle Opfer des SS-Terrors als verworfene Banditen bezeichnet
und so die Maßnahmen gegen sie gerechtfertigt." (in: Kaufhold, 1999) Federn
beschönigt in der Studie nichts, klagt nicht an, sondern analysiert die
erlebte Vergangenheit frei von moralisierendem Unterton.
Die Zeitumstände waren nicht günstig für solche Analysen. Federn, der noch
vor Hannah Arendt die "Banalität des Bösen" beschrieben hatte, vermochte
seine Studie nur in einer kleinen belgischen Zeitschrift zu veröffentlichen.
Anfang 1948 emigrierte er gemeinsam mit seiner Ehefrau Hilde nach New York.
In der antikommunistischen McCarthy-Ära bestand keinerlei Interesse an
seinen Terrorstudien. Sie gingen vergessen. Erst 1999 erschienen sie unter
dem Titel "Versuche zur Psychologie des Terrors" (Kaufhold, 1999).
Die Freude des Wiedersehens mit den Eltern in New York währte nicht lange:
Federns Mutter verstarb 1949, sein Vater 1950. Er vermachte seinem Sohn, der
sich zum psychoanalytischen Sozialtherapeuten ausbilden ließ, jedoch ein
wichtiges Erbe: die umfangreichen Protokolle von Freuds "Psychoanalytischer
Mittwoch-Gesellschaft". Gemeinsam mit dem ebenfalls aus Wien in die USA
emigrierten Psychoanalytiker Hermann Nunberg edierte er diese Protokolle in
den sechziger und siebziger Jahren. Sie wurden zu einem Grundlagenwerk für
die Geschichte der Psychoanalyse und erschienen in den 1960er und -70er
Jahren auf englisch und erst danach auf deutsch. Es war ein harter Kampf,
bestand unter den meisten Psychoanalytikern anfangs doch keinerlei Interesse
an diesem eminent wichtigen historischen Quellen. Es enthält eine gewisse
Tragik, dass Ernst Federn das Erscheinen der Neuauflage dieser 4-bändigen
Protokolle - sie erscheinen im Juli 2007 beim Psychosozial-Verlag - nicht
mehr erleben durfte.
Der österreichische Bundeskanzler Bruno Kreisky sowie der Justizminister
Christian Broda, die mit Federn seit dessen Engagement in den dreißiger
Jahren im Wiener Untergrund befreundet waren, holten ihn 1972 aus den USA
nach Wien zurück. Seitdem arbeitete Ernst Federn als Psychotherapeut und
Supervisor an einer Reform des österreichischen Strafvollzugs. Waren noch
Anfang der siebziger Jahre persönliche Gespräche zwischen Gefangenen und dem
Gefängnispersonal untersagt, so bilden nun therapeutisch orientierte
Gespräche mit den Häftlingen einen selbstverständlichen Teil der
Resozialisierungsbemühungen. Die Verarbeitung seiner eigenen
Terrorerfahrungen war Federn eine Hilfe, sich in die Motive gewaltsamen
Verhaltens einzufühlen.
Sehr anrührend für Viele sind die Erinnerungen an die verschiedenen Wiener
Ehrenveranstaltungen anlässlich seines 90. Geburtstages, wo er noch einmal
mit außergewöhnlicher Kraft und Liebenswürdigkeit aus seinem so
außergewöhnlich reichhaltigen, schwierigen und doch so produktiven Leben
erzählte (s. Kaufhold, 2005a; Kuschey, 2006).
Der Tod Ernst Federns ist ein ganz außerordentlicher Verlust. Wir haben ihm
sehr viel zu verdanken. Es bleibt zu hoffen, dass in Wien - etwa vor seiner
ehemaligen Wohnung in der Kolingasse 20 - , in angemessener Weise an sein
Wirken erinnert wird.

V.r.n.l.: Ernst und Hilde Federn, Roland Kaufhold, Bernd
Nitzschke, 1995 in Düsseldorf
Foto: © Maria Nitzschke
Literatur
Federn, E. (1988): Die Emigration von Sigmund und Anna Freud. Eine
Fallstudie. In: Stadler, F. (Hg.): Vertriebene Vernunft II. Emigration und
Exil Österreichischer Wissenschaft 1930–40. Wien-München, S. 247–250.
Federn, E., & Wittenberger, G. (Hg.) (1992): Aus dem Kreis um Sigmund Freud.
Fischer TB, Frankfurt/M.
Federn, E. (1999):
Ein Leben mit der Psychoanalyse. Von Wien über Buchenwald und die USA zurück
nach Wien. Psychosozial-Verlag, Gießen.
Federn, E. (1999a): Versuch einer Psychologie des Terrors. In: Kaufhold, R.
(Hg.) (1999): Ernst Federn: Versuche zur Psychologie des Terrors.
Psychosozial-Verlag, Gießen, S. 35–75.
Kaufhold, R. (Hg.) (1999):
Ernst Federn: Versuche zur Psychologie des Terrors. Material zum Leben und
Werk von Ernst Federn. Psychosozial-Verlag, Gießen, S. 145-172.
http://www.hagalil.com/archiv/2010/03/09/bettelheim-federn-2/
Kaufhold, R. (2001): Bettelheim, Ekstein, Federn: Impulse für die
psychoanalytisch-pädagogische Bewegung. Mit einem Vorwort von Ernst Federn.
Psychosozial-Verlag, Gießen.
http://www.hagalil.com/archiv/2010/03/09/bettelheim-ekstein-federn/
Kaufhold, R. (2005): Erinnerung an Hilde Federn (26.10.1910 - 19.01.2005).
In: Kinderanalyse, 13. Jg., Heft 2/2005, S. 234-237.
Kaufhold, R. (2005a): Biographische Kontinuität, Emigration und
psychoanalytisch-pädagogisches Engagement. Laudatio auf Ernst Federn zu
seinem 90. Geburtstag. In: psychosozial, 28. Jg. Nr. 100 (Heft
2/2005), S. 75-83.
http://www.hagalil.com/archiv/2010/03/09/bettelheim-federn/
Kaufhold, R. (2007): Traumatisierung überleben und verarbeiten - Leben und
Werk des Pioniers der Psychoanalyse Ernst Federn. In:
Krisor, M., Wunderlich, K. (Hg.)
(2007): Gerade in schwierigen Zeiten: Gemeindepsychiatrie verankern -
Internationale Beiträge. Pabst Science Publishers, Lengerich, Berlin, S.
182-199.
Kuschey, B. (2003):
Die Ausnahme des Überlebens. Ernst und Hilde Federn. Eine biographische
Studie und eine Analyse der Binnenstruktur des Konzentrationslagers.
Bd. I und II. Psychosozial-Verlag, Gießen.
Kuschey, B. (Hg.) (2006): Die Psychoanalyse kritisch nützen und sozial
anwenden. Ernst Federn zum 90. Geburtstag. Verlag Theodor Kramer
Gesellschaft, Wien.
Nunberg, H., & Federn, E. (Hg.) (2007): Protokolle der Wiener
Psychoanalytischen Vereinigung, Bd. I – IV. Psychosozial-Verlag, Gießen.
Plänkers, T., & Federn, E. (1994): Vertreibung und Rückkehr. Zur Geschichte
der Psychoanalyse und Ernst Federns. Tübingen.
Dieser Nachruf wurde der
Website des Psychosozial-Verlages (s. Aktuelles) entnommen und wird
in der Zeitschrift "psychosozial" Heft 3 oder 4/2007 publiziert.
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