Frankreichs Rechtsaußen (3):
Antisemitismus-/Philosemitismus-Debatte und
Bündnisdiskussion
Von Bernard Schmid
Philippe de Villiers' postkolonialer Rassismus und sein
vehementes Auftreten gegen Einwanderung, das er mit Le Pen teilt, können in
Teilen der konservativen Rechten durchaus als verschärfendes Korrektiv zur
eigenen Politik aufgefasst werden und Anklang finden. Beim offenen
Antisemitismus und dem Verdacht von Hitler-Sympathien dagegen scheiden sich
schnell die Geister zwischen Konservativ-Liberalen und Rechtsextremen. Doch
während Le Pen öfter in solcherlei Geruch kam, enthält sich de Villiers auf
diesem Gebiet anrüchiger Äußerungen. Was nicht bedeutet, dass die
Anhängerschaft, die er da erwirbt (oder um die er sich bemüht), von solchem
Geruch frei sei...!
So hatte im Juli 1996 de Villiers' Parteifreund Pierre
Bernard, der damals Bürgermeister der Pariser Trabantenstadt Montfermeil war
(er musste von diesem Amt nach einer strafrechtlichen Verurteilung wegen
Rassendiskriminierung im November 2002 zurücktreten), "immerhin" in aller
Öffentlichkeit an der Beerdigung von Paul Touvier teilgenommen. Paul Touvier
war der Chef der Miliz des französischen Vichy-Regimes, das mit dem
nationalsozialistischen Deutschland kollaborierte, gewesen.
Aber auch innerhalb des FN-Spektrums gibt es seit einem Vierteljahr eine
Strategiedebatte über den Stellenwert, den man dem klassischen Rassismus
einerseits, dem Antisemitismus andererseits zumessen soll.
So vertritt die FN-nahe rechtsextreme Wochenzeitung 'Minute' die Position,
es sei positiv zu vermerken, "dass die antirassistische Front Risse
bekommt". (So lautete der Titel ihrer Ausgabe vom 01. März 2006: 'Le front
antiraciste se fissure'.) Aufgrund der im Februar dieses Jahres, infolge des
Mords an Ilan Halimi, vorübergehend gewachsenen Spannungen zwischen
französischen Juden und arabischen oder schwarzen Einwanderergruppen, könne
es gelingen – so 'Minute' -, diese Bevölkerungsgruppen dauerhaft
gegeneinander aufzubringen. Die in Frankreich lebenden Juden müssten in ein
Bündnis gegen arabischstämmige Einwanderer und zur Verteidigung des Westens,
des Abendlands integriert werden.
Originalton 'Minute': "Der Lepenist Jean-Richard Sulzer (Anm. d. Verf. :
Regionalparlamentarierer der extremen Rechten im Pariser Regionalsparlament
und selbst jüdischer Konfession; er zählt zum wirtschaftsliberalen Flügel
des FN und nahm, diskret, an der Demonstration nach dem Tod von Ilan Halimi
teil) (...) weiß, er spürt, dass heute eine historische Gelegenheit besteht,
die so genannte antirassistische Front zu zerbrechen, deren unterschiedliche
Bestandteile nicht mehr viel miteinander gemeinsam haben, außer der
Verteidigung ihrer Eigeninteressen. (...) Die Achse, die sich abzeichnet,
ist gleicher Natur wie jene, die in Belgien die flämische nationalistische
Partei Vlaams Belang – die Nachfolgepartei des aufgelösten Vlaams Blok –
dazu bringt, sich an die jüdische Gemeinschaft in Antwerpen anzunähern, um
gemeinsam einen Block gegen die Moslems zu bilden. Ist dieser Versuch auf
Frankreich übertragbar? Die Umgruppierung der französischen politischen
Landschaft, die seit Jahrzehnten durch die verbalen Entgleisungen auf der
einen Seite und die Befürchtungen auf der anderen Seite verhindert wurde,
ist möglich. (...) Diese Strategie (...) impliziert, mit den pro-arabischen
Sympathien (Anm. d. Verf.: eines Teils der extremen Rechten, die in
Frankreich ein ziemlich heterogenes ideologisches Konglomerat bildet) zu
brechen. Sie impliziert, die Idee zu akzeptieren, dass wir einem 'Schock der
Zivilisationen', mit religiöser Hauptkomponente, gegenüber stehen (...). Sie
impliziert auch, das zu integrieren, was man die europäisch-atlantische
Achse nennt."
Solche Worte wie "'Schock der Zivilisationen' mit hauptsächlich religiöser
Komponente" hört ein fanatischer Rechtskatholik (und durch die 'falsche
Epoche' verhinderter Kreuzritter) wie Philippe de Villiers natürlich gerne.
Der Politiker wird denn auch in derselben Ausgabe von Minute (01. März 2006)
ausführlich interviewt, auf Seite 5, neben dem oben zitierten Jean-Richard
Sulzer auf Seite 4. Aber aus der Sicht von Aufklärung und Rationalität birgt
die Perspektive eines solchen, angeblichen "konfessionnell dominierten
Zivilisationsschock" natürlich alles andere als positive Aussichten in sich.
In den auf diese Auslassungen folgenden Monaten, mit der Zunahme der
Spannungen zwischen Le Pen und de Villiers, wird Minute sich dann negativ
auf den rechtskatholischen Politiker einschießen. Es geht nunmehr darum, zu
beweisen, dass Philippe de Villiers unlautere Konkurrenz gegen den FN
betreibe und der 'nationalen Rechten' schädlich sei. Seit Wochen
veröffentlicht Minute nunmehr fast ausschließlich Stimmen von (und
Interviews) mit einzelnen Aktivisten, die in jüngster Zeit von Philippe de
Villiers zu Le Pen übergelaufen sind – es gibt solche Fälle, aber in weit
größerer Zahl finden die Übertritte doch in anderer Richtung statt.
Eine ähnliche Linie verfolgt Philippe de Villiers aber auch weiterhin. Und
gerade im Wettstreit mit dem halb offenen Antisemiten Jean-Marie Le Pen
verlegt er sich nunmehr weitgehend auf den Philosemitismus. Letzterer,
kombiniert mit der Vorstellung eines religiös unterlegten Bündnisses
zwischen Christen und Juden gegen die Moslems (als solche und ziemlich
generell genommen) als gemeinsamen Feind, dient ihm in jüngster Zeit
geradezu als ideologischer Kompass.(1)
In der bereits seit längerem an französischen Kiosken erhältlichen
Juni-Ausgabe des 'Israel Magazine' hat Philippe de Villiers es dann sogar
auf die Titelseite geschafft. Es handelt sich um eine französischsprachige
Zeitschrift mit Mitarbeiter(inne)n in Frankreich und in Israel, die aktuell
den rechten Likud-Block, Benyamin Netanyahu und die Siedlerbewegung
unterstützt. In dem Interview, das auch die aktuelle Titelstory abgibt
(Seite 10 bis 14 der Ausgabe, unter dem Titel: "Die Islamisierung
Frankreichs – Die Gefahr"), spricht Philippe de Villiers sich gegen die
Anwesenheit zu zahlreicher moslemischer Immigranten in Frankreich sowie für
einen "totalen Einwanderungsstopp" aus. Auf eine Nachfrage des Interviewers
David T. Reinharc, die bereits in diese Richtung abzielt ("Werden Sie,
einmal an der Macht, die Einwanderungsströme umkehren?") antwortet de
Villiers: "Man muss eine Politik der 'immigration zéro' verfolgen. Die
Berichte zeigen (Anm. d. Verf .: de Villiers benennt nicht, welche...), dass
Frankreich nicht mehr die Mittel hat, um Einwanderer aufzunehmen. (...)
Diese Haltung ist ebenso unverantwortlich wie jene, die ein
Familienoberhaupt einnähme, das beschlösse, ein Kind zu adoptieren, während
seine eigene Kinder an Hunger streben." (Zitatende) Damit rehabilitiert
Philippe de Villiers die, bei Rechten gängige, Vorstellung von der
Gesellschaft bzw. Nation als einer "großen Familie", vulog "biologisch
begründeten Schicksalsgemeinschaft".
Dagegen nehmen, anders als Minute, die übrigen rechtsextremen Zeitungen eher
offen antisemitische Positionen ein. Insbesondere die altfaschistische,
ultraradikale Wochenzeitung Rivarol (die jedoch eine geringe Auflage hat,
etwas über 3.000). Und, in geringerem Maße, die zu 40 Prozent im Eigentum
der Partei stehende FN-nahe Wochenzeitung National Hebdo ("national
wöchentlich"), deren Verbreitung etwas größer ist. In National Hebdo höhnt
beispielsweise die Kommentatorin 'Topoline' über die auf den Mord an Ilan
Halimi folgende Mobilisierung gegen Antisemitismus. Sie spricht von einer
"pseudo-religiösen Bittprozession" und spottet - im Zusammenhang mit dem
Hinauswurf Philippe de Villiers' aus der ersten Reihe der damaligen
Demonstration, in der sich einzureihen versucht hatte – über eine
(unausgesprochen: jüdische) "Konfessionspolizei". (National Hebdo vom 02.
März 2006)
Es ist klassisch, dass die französische extreme Rechte bemüht ist (im
Ergebnis in oft widersprüchlicher Weise) ihren starken anti-arabischen
Rassismus einerseits und den historisch noch älteren Antisemitismus auf der
anderen Seite unter einen Hut zu bringen. Manche Strömungen geben dem
Rassismus gegenüber (vor allem maghrebinischen) Einwanderer aufgrund seiner
realen Massenwirkung den Vorzug. Andere dagegen halten vordringlich am
Antisemitismus fest, der ihr (mittels der Weltverschörungstheorien, die vom
Antisemitismus befördert werden, und seiner vermeintlich
"antikapitalistische" oder "sozialrevolutionären" Komponente) als
Welterklärungsersatz dient. Dies führt der Rechtsextremismusforscher
Jean-Yves Camus anderswo am Beispiel einer heute eher randständigen, aber
auf vergleichsweise hohem intellektuellen Niveau angesiedelten Unterströmung
der extremen Rechten aus. Es handelt sich um die Nouvelle Droite
(neuheidnisch beeinflusste und ethnopluralistisch-differenzialistische "Neue
Rechte"), die in den späten 70ern und den 80er Jahren zeitweise versuchte,
zum intellektuellen Think Tank einer breiteren rechten Öffentlichkeit zu
werden, aber damit scheiterte. Über sie schreibt Jean-Yves Camus: "Seit dem
11. September 2001 hat die Moslemphobie, die zum theoretischen Zentrum eines
bestimmten rechten Denkens geworden ist, die Theorien von Faye (Anm.:
Guillaume Faye, Ideologe der Nouvelle Droite und Theoretiker des
'unausweichlich kommenden Rassenkrieges') akzeptabel werden lassen. Aber sie
platziert die Nouvelle Droite in einer politischen Sackgasse: Auf der einen
Seite wird die 'politische Nische' der Ausländerfeindlichkeit und der Angst
vor dem Islam, im Rechtsaußenbereich, durch den Front National und den MPF
besetzt. Auf der anderen Seite kann das relative freundliche Herangehen, das
diese Strömung (Anm.: jene, die in erster Linie auf Konfrontation mit dem
Islam setzt) heute gegenüber Israel als Frontstaat gegenüber den
moslemischen Ländern und dem Islamismus an den Tag legt, kaum offene Ohren
in einer Strömung finden, wo der Antisemitismus noch immer gedeiht (Anm.:
gemeint ist die Nouvelle Droite)." (2)
Bündnisdiskussion auf der extremen Rechten:
Le Pen, de Villiers und die iranische(n) Atombombe(npläne)
Am 11. April 2006 bot Le Pen erstmals Philippe de Villiers
ein offenes Bündnis an. Um den neuen Rivalen im Rechtsaußenspektrum nicht
unnötig aufzuwerten, adressierte Le Pen sein "Angebot" zunächst auch noch,
pro forma, an andere "kleinere" Präsidentschaftskandidaten auf der
politischen Rechten (neben den bürgerlich-konservativen Schwergewichtern
Dominique de Villepin und Nicolas Sarkozy). So richtete Le Pen es auch an
den Christdemokraten François Bayrou, den Chef der konservativ-liberalen
UDF. Da konnte freilich inhaltlich überhaupt nichts zusammen passen, denn
Bayrou ist ein großer Fan der Integration Frankreichs in die Europäische
Union, während sowohl Le Pen als auch de Villiers die supranationale
Integration (in ihrer heutigen Form) kritisieren und im Namen der Rettung
des Nationalstaats ablehnen. Bayrou reagierte überhaupt nicht auf die
"Offerte" Jean-Marie Le Pens, was nicht überraschend war. Und Le Pen
erwähnte ihn dann auch nicht weiter. Ab diesem Zeitpunkt waren seine
Bündnisangebote dann auch explizit an de Villiers adressiert.
Konkret beinhaltete der Vorschlag des FN-Chefs eine "Einheitskandidatur der
Patrioten" bei den kommenden Präsidentschaftswahlen im April 2007, und ein
Wahlbündnis oder eine Listenverbindung bei den Parlamentswahlen einige
Wochen später. Am 11. April sprach sich Le Pen so im Fernsehkanal
i-télévision dafür aus, "eine aktive Koalition für die Parlamentswahlen" zu
formieren. Ansonsten nebulös bleibend, sprach Le Pen von "konvergierenden
Kräften". Dies aber konnte nur bedeuten: Erst unterstützen die Anderen
"meine" (Le Pens) Bewerbung zur Präsidentschaftswahl, denn an seiner Absicht
zur Kandidatur ließ Le Pen nicht den geringsten Zweifel – und dann lässt
sich etwas Gemeinsames für die hinterher stattfindenden Wahlen zur
Nationalversammlung auf die Beine stellen. Traditionell interessiert Le Pen
sich fast nur für die Präsidentschaftswahl, die er als "Königin aller
Schlachten" betrachtet, während ihm die Parlamentswahlen – zu denen er bei
den letzten beiden Malen nicht persönlich kandidierte – eher als eine
lästige Pflichtübung erscheinen. Als mit Abstand "dienstältester"
Präsidentschaftskandidat im Rechtsaußenspektrum (er kandidierte zum ersten
Mal 1974...) kann Le Pen auch einen entsprechenden Anspruch untermauern.
Anlässlich seiner Rede vom 1. Mai, an dem der Front National alljährlich zu
Ehren der von ihm wieder ausgegrabenen "Nationalheiligen" Jeanne d'Arc
aufmarschiert, erneuerte Le Pen das Angebot. Bei gleichzeitiger scharfer
Kritik an de Villiers als "Duplikator", der ihn nur ständig kopiere. Aus
diesem Anlass schlug Jean-Marie Le Pen eine "Union patriotique", als
pragmatisch ausgelegtes Bündnis mit seinem Rivalen Philippe de Villiers,
vor.
De Villiers schlug das Angebot jedoch alsbald aus. Am 13. April erklärte er
im Fernsehen als Reaktion auf den ersten Vorstoß Le Pens: Eine Allianz setze
voraus, dass man sich erst einmal "über gemeinsame Ideen" einig werden
könne. An diesem Punkt meldete de Villiers jedoch Bedenken an. Aber er
machte sie nicht am Rassismus des FN-Chefs fest, sondern daran, dass dieser
noch "vor wenigen Tagen für das Recht des Iran auf die Atombombe"
eingetreten sei. Tatsächlich hatte Le Pen sich nicht unmittelbar in diesem
Sinne geäußert (in seiner Ansprache vom 1. Mai dementierte er eine solche
Absicht gar), wohl aber in der Märzausgabe der FN-Mitgliederzeitschrift
Français d'abord festgestellt: "Warum wirft man Ahmedinedjad vor, was man
Anderen vor ihm nicht vorgeworfen hat? Man hat nicht Krieg gegen Indien,
Pakistan oder Israel geführt, als diese Länder militärische Atomtechnologie
erworben haben."
Diese Positionierung ist ganz im Sinne des Nationalneutralismus, den Le Pen
seit dem Ausbruch der Golfkrise im August 1990 predigt. Damals vollzog er
einen Bruch mit der traditionellen pro-atlantischen, antikommunistisch
begründeten Doktrin des FN in Sachen Weltpolitik: Nach dem Ende des Kalten
Krieges und der "kommunistischen Bedrohung" gelte es nunmehr, den liberalen
Kapitalismus zum neuen Hauptfeind zu erwählen und sich vom US-Imperium
abzugrenzen. In jener Zeit, und vor allem in der (1992/93 beginnenden)
Clinton-Ära, war es in den westlichen Hauptstädten einige Jahre lang üblich,
nicht mehr offen von Kriegen und machtpolitischen Interessen, sondern nur
noch von "humanitären Interventionen" zu sprechen: Viele ihrer Kriege in den
neunziger Jahre wurden durch die Großmächte unter Berufung auf
"Menschenrechte", "die Herstellung von Demokratie" und humanitäre Interessen
begründet. Man denke an die Intervention in Somalia 1992/94, und später jene
im ehemaligen Jugoslawien. (Mit dem 11. September 2001 endete diese Ära, und
ihr Diskurs wurde durch den "Antiterrorismus" als wichtigste Doktrin
abgelöst.) Dagegen wandte sich eine Opposition von Rechts, indem sie die
offizielle Begründung für bare Münze nahm und einfach umdrehte, nach dem
Motto: "Wir wollen uns lieber um unsere eigene Interessen – zu Hause –
kümmern, und nicht unser wertvolles Blut für fremde Interessen und
abstrakte, utopische Menschenrechte vergießen lassen." Jean-Marie Le Pen war
ein wichtiger Wortführer einer solchen "Opposition von Rechts" gegen
(bestimmte!) Kriege, deren politische Grundlage keineswegs pazifistisch oder
antimilitaristisch, sondern nationalistisch ist. Denn gleichzeitig forderte
Le Pen immer auch eine Erhöhung der nationalen Rüstungsausgaben.
Diese Linie hat Le Pen (der kein sich selbst über die Jahre hinweg treu
bleibender Theoretiker ist, sondern im Laufe der Zeit gern durch neue und
bisweile überraschende Thesen oder Positionen glänzte) nicht immer stringent
durchgehalten. Sie prägte aber beispielsweise seine Stellungnahmen zu den
beiden Kriegen im Irak, 1991 und 2003, in denen er, sehr zum Missfallen
einesTeils seiner Wählerschaft, erstmals für einen arabischen Diktator
Partei ergriff. Es trifft ferner auch zu, dass Le Pen in der Vergangenheit
gewisse momentane Annäherungen an Vertreter des iranischen Regimes vollzog.
So nahm Jean-Marie Le Pen anlässlich der vorletzten
Fußball-Weltmeisterschaft, im Juni 1998 in Lyon, am Spiel Iran/USA teil –
auf der Ehrentribüne des Iran...
In seinem o.g. Beitrag für die FN-Mitgliederzeitschrift warnt Le Pen davor,
die USA wollten die Welt auf einen Krieg gegen den Iran vorbereiten.
Philippe de Villiers nutzte diese Positionierung des FN-Chefs als Vorlage,
um sich selbst im richtigen Lichte zu positionieren: "Ich, ich möchte die
Banlieues entwaffnen, und Le Pen möchte die Bärtigen bewaffnen", stellte er
einen etwas gewagten Zusammenhang zwischen der französischen Innenpolitik
und den internationalen Ereignissen her.
(Jean-Marie Le Pen erwiderte darauf in seiner Ansprache vom 1. Mai,
Originalton: "Der Graf wiederholt in allen Tonlagen: 'Ich, ich schaffe Ruhe
in den Banlieues, und Le Pen bewaffnet die Bärtigen'. Ich, ich habe die
Bärtigen bekämpft, als der Graf sich damit begnügte, Tennisbälle (Anm.:
statt Kugeln) um seine Ohren pfeifen zu lassen." In dieser Passage spielt Le
Pen auf seine Vergangenheit als Offizier im französischen Kolonialkrieg in
Algerien an. Dort hat er im ersten Halbjahr 1957, wie inzwischen in
Frankreich gerichtlich nachgewiesen worden ist, eigenhändig gefoltert. Der
Gegner der französischen Kolonialarmee damals waren keine Islamisten,
sondern eine linksnationalistische und z.T. marxistisch beeinflusste
Befreiungsbewegung, die einem konfessionnel drapierten Apartheidsystem in
'Französisch-Algerien' ein Ende bereitete. Le Pen weiter im Originalton: "Er
(der Graf) behauptet, ohne die Lächerlichkeit zu fürchten, dass ich dem Iran
die Bombe geben möchte. Diese Anklage ist irrsinnig. Ein Krieg mit dem Iran
hätte derart tragische Auswirkungen, dass es heute unsinnig ist, die
Verantwortungslosen Öl ins Feuer gießen zu lassen.")
Ein Untoter meldet sich zurück: Bruno Mégret
Ein stärkeres Echo fand Le Pen dagegen bei seinem ehemaligen Chefideologen
und späteren "Dissidenten", Bruno Mégret, der sich sofort für ein Bündnis zu
interessieren begann. Das ist aber auch kein Wunder: Mégret hat kaum noch
Parteigänger mit seinem MNR (Mouvement national républicain,
"National-republikanische Bewegung") übrig und verwaltet dafür einen
Schuldenberg in Höhe von 4 bis 5 Millionen Euro. Anfang April 2006 wurde
zudem noch ein Strafprozess gegen den MNR-Chef Mégret eröffnet wegen
Missbrauchs öffentlicher Gelder: Im Jahr 2002, als seine Gattin Catherine
Mégret noch Bürgermeisterin im südfranzösischen Vitrolles war (einige Monate
später sollte sie abgewählt werden), hatte sie 75.000 Euro aus städtischen
Geldern dazu benutzt, um MNR-Propaganda zu verbreiten.
In der zweiten Aprilwoche erklärte Bruno Mégret großspurig, er nehme das
Bändnisangebot Le Pens an. Er denke an eine Koalition aus dem FN, dem MPF,
dem "souveränistischen" (EU-skeptischen und nationalistischen) Flügel der
konservativen Regierungspartei UMP "und natürlich dem MNR", also seiner
eigenen Partei. Daraufhin erntete er zunächst kaum ein Echo.
Aber am Dienstag, den 23. Mai 2006 berichtet die Tageszeitung Libération
über Bündnisgespräche zwischen dem FN und Bruno Mégrets MNR, die anscheinend
hinter den Kulissen geführt worden sind. Beide Parteien erkennen dies
demnach an. Der Front National will allerdings offiziell nur vom Wirken
eines "Unterhändlers" wissen, während seitens des MNR öffentlich behauptet
wird, es gäbe "Gespräche auf höchster Ebene". Klar ist, dass der auf einen
winzigen Kern zusammengeschrumpfte MNR eher ein Interesse daran hat, die
Dinge zu übertreiben (um sich wichtig zu machen oder überhaupt wahrgenommen
zu werden), als der FN. Dass es Gespräche auf Spitzenebene geben soll,
erscheint jedoch unwahrscheinlich: Ein tiefer Graben aus Hassgefühlen trennt
Le Pen und Mégret nach wie vor. Dennoch ist in dem Artikel konkret die Rede
von einer Aufteilung der Wahlkreise bei den kommenden Parlamentswahlen, im
Juni 2007. An möglichen Absprachen vor den Wahlen könnten beide Seiten ein
gewisses Interesse haben: Jean-Marie Le Pen darf nicht riskieren, erneut auf
Schwierigkeiten bei der Sammlung der 500 Unterstützungsunterschriften von
"Mandatsträgern der Republik" (Bürgermeistern, Regional-, National- und
Europaparlamentariern) zu stoßen, die eine zwingende rechtliche
Voraussetzung für eine Kandidatur zu den Präsidentschaftswahlen sind. Im
April 2002 wäre Le Pen beinahe an dieser Hürde gescheitert. Also kann er
nicht riskieren, dass der andere rechtsextreme Bewerber Mégret ihm solche
Unterschriften (und seien es auch nur ein paar Dutzend!) wegschnappt. Der
MNR dagegen könnte es sich - personell und vor allem finanziell ausgeblutet
- gar nicht mehr leisten, eine Präsidentschaftskandidatur bis zum Ende
"durchzuziehen". 2002 erhielt Bruno Mégret 2,3 Prozent der Stimmen.
Auch andere Spaltproprodukte des FN melden sich so zurück. So Franck
Timmermans, der in den frühen 1970er Jahren zu den Gründungsmitgliedern des
Front National zählte und später Bruno Mégret zum MNR folgte, bevor er eine
eigene Splitterpartei gründete (unter dem Namen: Parti populiste français).
Auch er kündigte an, sich der neuerdings durch Le Pen propagierten "Union
patriotique" anzuschließen. In dem von Libération am 23. Mai publizierten
Artikel wird auf andere ehemalige FN-Kader verwiesen, die wieder aktiv
werden könnten, wie Pierre Vial (Geschichtsprofessor in Lyon und lupenreiner
Rassenideologe). Auf diesem Wege könnte der Front National möglicherweise
"immerhin" einige seiner versprengte, ehemaligen Kader wieder an sich
binden.
FN und MPF beklagen den "Autoritätsverlust" des Staates
Zurück zu Le Pen und de Villiers: Beide rechten Politiker
und "ihre" Parteien machen sich für einen autoritären Staat, wenngleich in
unterschiedlichem Ausmaß, stark. Jüngst nahmen etwa (am Samstag, 20. Mai
2006) rund 200 Mitglieder beider Parteien, des FN und des MPF, an einer
Kundgebung vor dem französischen Parlament für die Wiedereinführung der
Todesstrafe teil. Jüngst haben in Frankreich zwei Kindermorde die Emotionen
hoch schwappen lassen: Am Wochenende des 6./7. Mai waren der 4jährige
Mathias im ostfranzösischen Département Nièvre (in Burgund) und die 5jährige
Madison im Bezirk Bouches-du-Rhône (bei Marseille) ermordet aufgefunden
worden. Über die psycho-pathologischen Motive der Täter besteht noch kein
genauer Aufschluss. Die Erregung über den Tod der beiden Kinder ist
vollkommen legitim, aber sie dient im Moment rechten Demagogen als
gefundener Vorwand, um Propaganda für die Todesstrafe und den starken Staat
zu treiben.
Bemerkenswert ist, dass Mitglieder von FN und MPF anscheinend gemeinsam
auftraten (laut Libération vom 22. Mai 2006, die übrigen Medien sprechen von
einer FN-Demonstration). Seitdem wird die rechtsextreme Presse im übrigen
nicht müde, dieses Propagandathema auszuschlachten. Die FN-nahe
Wochenzeitung Minute vom 23. Mai zeigt auf ihrer Titelseite eine schimmernde
Guillotine und darunter die Überschrift: "Die Witwe (Anm d. Verf.: Kosenamen
für das Fallbeil) darf nicht länger untätig bleiben". Und die andere größere
rechtsextreme Wochenzeitung, National Hebdo, titelt am 24. Mai 2006
schlicht: "Die Todesstrafe!" Der MPF unter Philippe de Villiers hat
seinerseits eine landesweite Petition für die Wiedereinführung der
Todesstrafe lanciert.
FN und MPF gleichermaßen betrachten sich selbst als gestärkt, seitdem die
bürgerlich-konservative Regierung am 10. April 2006 einen Rückzieher im
sozialen Konflikt um den "Ersteinstellungsvertrag" CPE machen musste. Beide
denunzierten in heftigen Worten die Schwäche des Staates, der unbedingt auf
seinem Autoritätsanspruch hätte beharren müssen und nicht nachgeben dürfte.
De Villiers sprach zudem vom "Kapitulantentum" von Innenminister Nicolas
Sarkozy, "der Frankreich im Fernsehstudio reformiert, aber kneift, sobald
ihm der erste Pflasterstein um die Ohren pfeift". Le Pen mokierte sich in
seiner 1. Mai-Ansprache seinerseits darüber, dass "Schulkinder die Regierung
zum Nachgeben zwingen", wobei er die Studierenden meinte. Erstmals seit
Ausbruch des Konflikts um den CPE kritisierte er am 1. Mai allerdings auch
die Deregulierung im Arbeitsrecht, die im Interesse "multinationaler
Konzerne" betrieben werde - während er zugleich das Leistungsprinzip an und
für sich sowie die Wertarbeit französischer Unternehmer und Mittelständler
verteidigte.
An gleicher Stelle forderte Le Pen freilich auch seinerseits eine
Deregulierung der Ökonomie (das Sozialsystem sei unbezahlbar geworden, wegen
der Einwanderer, und: "Man muss die Ökonomie befreien. Es kommt ein Moment,
wo die Reglementierungen zu Ketten der Knechtschaft werden"). Aber eben
nicht im Sinne der multinationalen Unternehmen, sondern des "guten"
nationalen Kapitals... Die hohe Arbeitslosigkeit, so Le Pen, sei "die Frucht
der weltweiten Konkurrenz ohne nationalen Schutz". Nationale Ausbeutung –
möglichst ohne "Fesseln und Begrenzungen" - ist also gut, aber Ausbeutung
unter internationalen Vorzeichen von Übel.
Wahrscheinlich dürften die beiden Rechtsaußen,sich durch ihre Position im
CPE-Konflikt einige Sympathien bei der Jugend verscherzt haben. Der FN etwa
sank im März in der Altersgruppe der 18- bis 24jährigen von 10 auf 7 Prozent
an Sympathiewerten. Aber bei denen, die das Geschehen weitab von ihrem
Fernseher aus verfolgten und dort vor allem "Gewalt" und Ausschreitungen
serviert bekamen, dürften sie im Nachhinein dagegen tatsächlich punkten.
Konservativer Innenminister übernimmt manche Parolen von de
Villiers/Le Pen
Der konservative Innenminister Nicolas Sarkozy
seinerseits, der Wirtschaftsliberalismus mit autoritärem Populismus
verknüpft, zeigt sich erneut explizit und öffentlicht bemüht, rechtsextreme
Wähler einzubinden und für die Konservativen zurück zu gewinnen. Am 22.
April 2006 machte er öffentlich Furore, indem er vor neu beigetreten
Mitgliedern der konservativen Regierungspartei UMP (deren Vorsitz er inne
hat) in Paris ausrief: "Wenn bestimmte Leute Frankreich nicht lieben, dann
sollen sie sich nicht davon abhalten lassen, es zu verlassen." Ein Slogan,
den sowohl Le Pen als auch de Villiers in ähnlicher Weise, aber griffiger
formuliert, benutzt hatten.
In den 80er Jahren hatte zunächst Le Pen, während der Reagan-Ära, den -
ursprünglich seit dem Vietnamkrieg durch die US-amerikanische konservative
Rechte benutzten -Slogan (America, love it oder leave it!) übernommen und
auf französische Verhältnisse adaptiert. Das Ergebnis der "Übersetzung"
lautete dann: La France, aime-la ou quitte-la! Aber während der
US-amerikanische Slogan weniger der Propagierung des Rassismus als vielmehr
der Einschüchterung der innenpolitischen Opposition während des
Vietnamkriegs diente (nach dem Motto: "Geht doch rüber"), hatte die vom FN
übernommene Parole von Anfang an eine klar rassistische Komponente. Sie
sollte die Einwanderer und ihre Nachfahren darauf hinweisen, dass sie nicht
ihren Platz in Frankreich hätten, falls sie dort nicht zufrieden seien. (3)
Die Jugendorganisation FNJ, Front national de la jeunesse, machte aus dem
Slogan zeitweise sogar ihr Hauptmotto. Später dann, 2000/01, entwarf die
Jugendfront eine verbalradikale, schärfere Version dieses Slogans. (4)
Vor nunmehr sechs Monaten war es dann Philippe de Villiers, der die ältere
FN-Parole (La France, aime-la ou quitte-la) fast wortidentisch übernahm und
plakatieren ließ: La France, tu l'aimes ou te la quittes. Beides bedeutet:
Entweder Du liebst Frankreich, oder Du verlässt es. Man könnte von einer Art
"affektiver Erpressung" sprechen. Auch an dieser Stelle geht es der
(extremen) Rechten darum, die Gesellschaft auf eine Vorstellung von der
Nation als fest zusammengeschweißter Schicksals-, wenn nicht
Blutsgemeinschaft einzuschwören: Eine Nation ist wie eine Familie, also eine
(möglichst biologische begründete) Affinitätsgemeinschaft, aus der man sich
nicht ausklinken kann – nicht ohne "Verrat an den Seinen" zu gehen, infolge
dessen man sich nicht mehr länger blicken lassen kann. Für die Idee einer
rational, und freiwillig begründeten Zugehörigkeit zu einer Gesellschaft, in
der es auch (legitime) abweichende Interessen geben kann, bleibt da kein
Platz.
Manche Zeitungen begannen die Begriffsgeschichte zu rekonstruieren, und
strichen die "Wanderung" oder "Weiterreichung" des Slogans durch Le Pen über
Villiers an Sarkozy kritisch heraus. (5)
Doch Le Pen ließ sich nicht die Butter vom Brot nehmen, und seine
jugendlichen Anhänger trugen auf der 1. Mai-Demonstration ein Schild mit dem
'Hexagone', also dem achteckigen Umriss Frankreichs und dem altbekannten
Spruch vor sich her. (Siehe Fotos unten.) Aber damit war die Geschichte
wiederum nicht zu Ende. Am Sonntag, 21. Mai klagte nunmehr der
Rechtskatholik Philippe de Villiers, anlässlich eines Interviews mit dem
Sender 'Radio J', das politische Urheberrecht für den Slogan ein – indem er
Innenminister Nicolas Sarkozy beschuldigte, "ihn zu kopieren", so fasst es
die Pariser Abendzeitung Le Monde in ihrer Ausgabe vom 24. Mai zusammen.
>> Fortsetzung:
Spannungen zwischen Bevölkerungsgruppen nehmen
(periodenweise) zu
Teil 1:
Ideologische Abgrenzungsversuche, Islam-Diskussion
Teil 2: "Rupft" der MPF
erfolgreich den Front National?
Anmerkungen:
(1) Diese Vorstellung einer Allianz von Christen und Juden
gegen die Moslems, als gemeinsamen Feind, kann in Frankreich auf einen
kolonialen geschichtlichen Hintergrund zurückblicken. Im französisch
beherrschten Algerien (1830 bis 1962), wo der französische Staat ein
außerordentlich brutales Apartheidsystem mit konfessionellen Kategorien
aufrecht erhielt, gewährte Frankreich den einheimischen Juden mit dem
"Crémieux-Dekret" von September 1870 das Staatsbürgerrecht. Der übergroßen
Mehrheit der ansässigen Bevölkerung, den Berbern und Arabern (die als 'les
musulmans' bezeichnet wurden), hingegen wurden weder die Staatsbürgerschaft
noch minimale Bürgerrecht gewährt, abgesehen von einer sehr schmalen
Bildungselite.
Die durch Frankreich solchermaßen ungefragt "eingebürgerten" Juden Algeriens
sahen sich mit zunächst einer heftigen antisemitischen Bewegung und
Hasspropaganda aus der europäischstämmigen Siedlerbevölkerung in Algerien
konfrontiert. Der berüchtigte antisemitische Schriftsteller Edouard Drumont
etwa vertrat das "französische Algerien" in den 1890er Jahren im Pariser
Parlament. Dieser europäische Antisemitismus unter kolonialen Bedingungen
hatte einen doppelten Resonanzboden: Einerseits die auch in anderen
Varianten des Antisemitismus verbreitete Anklage, die Juden kontrollierten
"die Finanz" und das Geld und seien für die Wirtschaftskrisen des modernen
Kapitalismus verantwortlich. Andererseits aber sahen die Antisemiten unter
den europäischen Siedlern in der Kolonie die algerischen Juden als
"trojanisches Pferd der Eingeborenengesellschaft": Sofern man sie in der
belagerten Wagenburg der europäischen Siedlergesellschaft dulde, dann würde
irgendwann auch die "barbarische" Masse der "Eingeborenenbevölkerung"
Einlass begehren. Hinter der Figur des Juden wurde somit "die Denunzierung
des 'Eingeborenen', den man zur französischen Staatsbürgerschaft empor
erhoben hatte" sichtbar. (Zitat nach Benjamin Stora: "L'impossible
neutralité des juifs d'Algérie", in Mohammed Harbi/Benjamin Stora: "La
guerre d'Algérie", Paris 2004, S. 411 ff. der Taschenbuchausgabe. Hier
zitiert: S. 419. Dieser sehr vollständige Buchbeitrag behandelt die
Geschichte der algerischen Juden während der gesamten Kolonialära. Der
Historiker Benjamin Stora stammt selbst aus einer algerisch-jüdischen
Familie.)
Als dann die französische Kolonialherrschaft über Algerien durch eine
Befreiungsbewegung abgeschüttelt wurde, die sich ab 1954 zum bewaffneten
Aufstand gegen die Unterdrückung erhob, versuchte die europäischstämmige
Bevölkerung, die algerischen Juden mit zu sich herüber "ins Boot" zu ziehen.
Die algerischen Juden blieben jedoch den größten Teil des Konflikts über
neutral, da sie wussten, dass die im Kolonialkrieg besonders aktiven
rechtsextremen Milizen ihre eigenen, alten Feinde waren. Doch lehnten sie
auch das Ansinnen der algerischen nationalen Befreiungsbewegung ab, das den
Juden vorschlug, sich zukünftig als Bestandteil der "eingeborenen"
Gesellschaft zu betrachten, die sich nach der Befreiung von der
französischen Herrschaft selbst regieren werde. Zu tief saß die Angst bei
den algerischen Juden, dass ihnen die einmal errungenen Bürgerrechte wieder
aberkannt würden und dass sie wieder von ihrem Status hinab gestoßen würden
- wie das Vichy-Regime es während der Jahre seiner Kontrolle über das
'französische Algerien' getan hatte. Daher klammerten sie sich fest an ihren
Status als Bürger des 'französischen Algerien'. (Vgl. Benjamin Stora,
a.a.O., S. 424) Als die Stunde der Entscheidung dann nahte und Frankreichs
erzwungener Rückzug aus Algerien sich abzeichnete, verließ die Mehrheit der
algerischen Juden das Land zusammen mit den Europäern, zu 90 Prozent in
Richtung Frankreich (und ein kleiner Teil ging nach Israel). Auch aufgrund
der Furcht, nunmehr nach dem Abgang der Europäer als einzige Minderheit im
Land zu verbleiben.
Was Philippe de Villiers anstrebt und zumindest Teile des Front National in
ähnlicher Weise versuchen (während andere Teile des FN dafür zu offen
antisemitisch geprägt sind), ist die Wiederbeliebung dieser
"Schicksalsgemeinschaft" von Christen und Juden gegenüber den Moslems. In
diesem Falle bilden die Einwanderer in Frankreich, und die arabischen Länder
(in Wirklichkeit für de Villiers/Le Pen: die gesamte "Dritte Welt") den
gemeinsamen Feind.
(2) Zitiert aus: Revue La Pensée, Nr. 345,
Januar/Februar/März 2006, Dossier "Nouvelle Droite", S. 23 ff. Hier zitiert:
S. 28
(3) Dies in einem Kontext, der seit 1983/84 von einer
starken Mobilisierung der Einwandererkinder für gleiche Rechte geprägt war.
Man denke vor allem an die 'Marche pour l'égalité' (Marsch für die
Gleichheit) von Oktober bis Dezember 1983 – so hieß ihr Originaltitel, erst
nachträglich machten sozialdemokratisch-kulturalistische
Antirassismusfunktionäre daraus die so genannte 'Marche des beurs' (Marsch
der arabischstämmigen Jugendlichen). Ursprünglich war das Anliegen aber
keinesfalls kulturalistisch oder auf Differenz abzielend, sondern im
Gegenteil ging es darum, im universalistischen Sinne gleiche Recht für alle
einzufordern, unabhängig von ihrer Herkunft. Unterschiedliche Kräfte, von
den regierenden Sozialisten bis zu kulturalistischen Antirassisten, trugen
dazu bei, dass dieses Anliegen verschüttet wurde.
(4) 2000/01 verklebte der FNJ in größerer Zahl einen
Aufkleber, der Immigrantenjugendliche in aggressiver Pose und im typischen
Look von Banlieue- (Trabantenstadt-)Jugendlichen zeigt. Die Aufkleber trugen
die Aufschrift: "Tu niques la France? Dégage!" Also sinngemäß: "Du scheißt
auf Frankreich? Dann hau' ab'!"
(5) Vgl. dazu Libération vom 25. April, die Titelseite der
Wochenzeitung Le Canard enchaîné vom 26. April 06 ("Sarko et Villiers
démarrent à Front la caisse"), Le Monde vom 24. Mai 2006 sowie die
Antifa-Zweimonatszeitung Ras le front von Mai/Juni 2006, Seite 6. Letzere
druckt auch Original-Aufkleber mit den 'historischen' Slogans der
US-amerikanischen Rechten und des Front National aus den 80er Jahren nach.
Angaben der Zeitschrift zufolge ist der Originalslogan (Love it or leave it)
in Frankreich "seit Mitte der 80er benutzt worden (...). Ein
FN-Parlamentarier soll ihn von einer Reise aus den USA mit gebracht haben."
Damals, 1986 bis 88, verfügte der FN noch über eine eigene
Parlamentsfraktion (denn seinerzeit galt in Frankreich noch das
Mehrheitswahlrecht) und hatte intensive Kontakte zum rechten Flügel der
US-Republikaner unter Ronald Reagan geknüpft. FN-Funktionäre betrieben
damals auch, auf internationaler Ebene, Propaganda für die Wiederwahl Ronald
Reagans. Diese Kontakte rissen ab dem Ende des Kalten Krieges von 1989 ab,
damals fing der Front National an, von einem pro-atlantischen zu einem
teilweise "anti-westlichen" Nationalismus überzugehen.
Dagegen datiert Le Monde vom 24. 05. 2006 die Übernahme des Slogans bereits
auf einen etwas früheren Zeitpunkt. Demnach war es Alain Jamet,
Bezirkssekretär des Front National im Raum Montpellier, der den Slogan schon
1982 aus den USA übernahm. Damals, so die Pariser Abendzeitung, hatte die
US-amerikanische Rechte zu Beginn der Amtszeit von Präsident Ronald Reagan
diesen Slogan aus den Jahren des Vietnamkriegs wieder ausgegraben. Alain
Jamet (FN) habe ihn dagegen von Anfang an, in seinen Wahlkämpfen, gegen die
in Frankreich lebenden Einwanderer gerichtet. Anlässlich der
"Kopftuchdebatte" im Laufe der achtziger Jahre habe der Front National dann
den Aufkleber mit dem Slogan massenhaft verbreitet - um zu signalisieren,
moslemische Immigranten hätten keinen Platz in der französischen
Gesellschaft. Le Monde fügt hinzu, dass der Slogan 1991 vorübergehend auch
durch eine rechtsbürgerliche Organisation, das 'Mouvement initiative et
liberté' (MIL), sowie die konservativ-autoritäre Studierendenorganisation
UNI benutzt worden sei. Daraufhin habe die FN-Jugendorganisation FNJ
wiederum offensiv um das politische Copyright über den Slogan gekämpft, und
ihn massiv eingesetzt. (Vgl. Christiane Chombeau: "'La France, aimez-la ou
quittez-la', bataille pour un slogan", in: Le Monde vom 24. 05. 2006, Seite
12.)
hagalil.com 25-05-2006 |