Fest des jüdischen Buches, Duisburg 26.3.06:
Grußwort Liliana Ruth Feierstein
"Selbst wenn das Firmament über uns
aus Pergament wäre, und wenn Tinte die Meere füllte, wenn alle Bäume Federn
und die Bewohner der Erde allesamt Schreiber wären – und wenn sie Tag und
Nacht schrieben, so vermöchten sie dennoch nicht, die Größe zu beschreiben
und den Glanz des Schöpfers der Welt".
Trotz Bilderverbot gibt uns der Anfang dieses traditionellen auf aramäisch
verfassten jüdischen Gedichts doch ein Bild von Himmel und Wasser:
sind sie da – aus Papier und Tinte. Die Welt ist Text – und der Mensch, und
jeder Mensch: ein Sofer, ein Schreiber.
Das ist nicht neues für uns. Все позты жυды – Alle Dichter sind Juden.
Und: es gibt sie in so vielen Sprachen! Wir sind stolz, dass wir Euch
ein mehrsprachiges Programm anbieten können, in dem die Diversität des
Judentums sich spiegelt. Wir werden u.a. auf Russisch über aramäische Texte
diskutieren, auf Deutsch über israelische und jiddische Literatur nachdenken
und auf Französisch die deutsche Geschichte reflektieren.
Gleichwohl gibt es etwas Gemeinsames: Das Judentum ist auf und um Texte
gebaut. Von den zehn Geboten bis zur Tora und Talmud, von der Mezuzah bis
zum Tefilin – wir alle leben in Texten. Wie im Zitat von George Steiner, das
unsere Einladung begleitet: "Der Text ist das Zuhause und jeder Kommentar
ein Zurückkehren".
Wir sind nicht nur in den
religiösen Schriften, sondern auch in der Literatur zu Hause. In den dunklen
Zeiten ist die Schrift zum Zeugnis und, wie in den zicher-bicher
(Gedächtnisbücher) zum symbolischen Grab geworden. Jedoch war sie immer da,
vor allem in sanfteren Tagen: wie in die alte Sitte, in der die Kinder am
ersten Schultag im Cheder Buchstaben aus Honig bekamen, damit in der
Erinnerung die Erfahrung des Lesens mit der Süße verbunden bleibt.
Wie die Literatur uns
stets durch die verschiedenen Zeiten begleitet hat, können wir heute auch in
unserem Programm erfahren. Von Edgar Hilsenrath, der in diesen Tagen 80
Jahre alt wird, bis zu Lena Gorelik, die gerade ihren 25. Geburtstag
feierte, werden wir heute drei Generationen jüdischer Schriftsteller
zuhören. Sie alle sind im Buch zuhause.
Ein Zimmer ohne Bücher
ist wie ein Haus ohne Fenster, steht in unseren Schriften. Heute wollen
wir unser Haus, d.h. das Buch, öffnen, um zusammen mit Euch zu feiern, d.h.
zu lesen. Jüdisch lesen, d.h. in verschiedenen Weisen und in verschiedenen
Sprachen. Wir bringen deswegen ganz bewusst Rabbiner,
Literaturwissenschaftler und Schriftsteller zusammen, um eine Tradition zu
entfalten, die aus Schrift gebaut ist. Wir hoffen, dass Ihr alle zwischen
den Seiten unseres Programms wandert und Eure eigenen Kommentare
findet.
"Wenn das Firmament über
uns aus Pergament wäre und wenn Tinte die Meere füllte..." Ich wünsche uns
allen einen wunderbaren Tag, voller Buchstaben, indem wir uns alle als
Schreiber verstehen, d.h. als Menschen.
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hagalil.com 27-04-2006 |