Zur Rolle des
Zentralrats der Juden in Deutschland im Geflecht der
deutsch-israelischen Beziehungen:
Zwischen allen Stühlen
Vortrag
von Dr. Salomon Korn anlässlich einer Tagung der
Konrad-Adenauer-Stiftung zum Thema:
40 Jahre
Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Deutschland und Israel
In den vergangenen fünf Jahrzehnten wurde der jüdischen
Gemeinschaft in Deutschland häufig eine Brückenfunktion innerhalb der
deutsch-jüdisch-israelischen Beziehungen zugeschrieben - allerdings nur von
deutscher Seite. Aus offizieller israelischer Sicht waren die in Deutschland
lebenden Juden einer solchen Rolle nicht würdig.
Seit wenigen Jahren wandelt sich diese Einstellung. Die jüdischen Gemeinden
in Deutschland seien für ihn, so der israelische Botschafter in Berlin,
Shimon Stein, im Dezember 2004 „natürliche Partner, die mit mir in einer
Schicksalsgemeinschaft verbunden sind.“ Israel benötige die Hilfe der
jüdischen Gemeinden, um das negative Bild Israels in der deutschen
Öffentlichkeit zu revidieren. In diesem Zusammenhang bezeichnet Stein die
jüdischen Gemeinden „als Brücke zwischen den beiden Staaten“. Die von ihm
verwendete Metapher der „Brücke“ lässt breiten Raum für Deutungen. Ob reale
oder imaginäre Brücke: im Mittelpunkt steht vor allem die Frage nach deren
Haltbarkeit und Belastbarkeit. Schließlich dient sie dazu, Abgründe zu
überspannen und auseinanderliegende Seiten zu verbinden.
Was nun die Rolle der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland anbelangt, so
ist festzustellen, dass sie - gewollt oder ungewollt – immer eine
„Brückenfunktion“ inne hatte. Von Interesse ist dabei, in welchem Zustand
sich diese metaphorische Brücke über Jahrzehnte hinweg befand, denn lange
Zeit war der Brückenschlag nur auf einer Seite gewollt. Erst die im Zuge der
zweiten Intifada verschärfte Israelkritik und das Anwachsen des
Antisemitismus in Deutschland und Europa erzeugten in Israel einen
Handlungsdruck, der in Shimon Steins zitierter Bemerkung gipfelte. Die von
Israel ausgesandten Appelle und Forderungen nach stärkerer Einbindung
jüdischer Diasporagemeinden mögen aus israelischer Sicht folgerichtig
gewesen sein. Für Juden außerhalb Israels ergab sich daraus jedoch das
Problem, in ihren jeweiligen Ländern Stellung dazu beziehen zu müssen.
Abgesehen davon bildeten auch in diesem aktuellen Fall nicht etwa das
Bemühen um die Zukunft des Judentums 60 Jahre nach der Shoah und gemeinsame
Anstrengungen zur Wiederbelebung und Erneuerung jüdischer Tradition und
Kultur weltweit den Impuls zur Überbrückung innerjüdischer Gegensätze,
sondern wachsende Israelfeindlichkeit und wachsender Antisemitismus.
Im Rückblick wird deutlich, dass die zu verbindenden Seiten, die
nichtjüdische deutsche Öffentlichkeit einerseits und Israels Regierung und
Bevölkerung andererseits, den in Deutschland lebenden Juden über Jahrzehnte
hinweg wenig Aufmerksamkeit schenkten. Diese Tatsache spiegelt nicht nur die
Komplexität der deutsch-jüdisch-israelischen Verflechtungen wider, sondern
wirft vor allem die Frage nach dem Ursprung dieser Entwicklung auf. Bei
näherer Betrachtung zeigt sich, dass die israelische Regierung und die
nichtjüdische Mehrheitsgesellschaft in Deutschland in ihren Haltungen
gegenüber den in Deutschland lebenden Juden in einem Punkt Gemeinsamkeit
aufwiesen: Auf beiden Seiten stellte kaum jemand die Frage, wer diese rund
15.000 übriggebliebenen Juden eigentlich waren, die nach der Befreiung der
Konzentrationslager und Auflösung der Displaced Persons-Lager Deutschland
nicht verlassen hatten. Die Tragik dieser Menschen war, dass sie sich selbst
zum Teil lebenslang als Durchreisende verstanden, aus persönlichen Gründen
und Schwierigkeiten heraus jedoch in Deutschland blieben. Sie richteten sich
ein, ohne Wurzeln zu schlagen; zum großen Teil stammten sie aus Osteuropa.
Nur eine Minderheit war deutsch-jüdischer Herkunft. Religiös mehrheitlich
orthodox und zionistisch geprägt, pflegten sie in den DP-Lagern intensiv
ihre Kultur, ohne viel von deutscher Kultur und Tradition zu wissen. Die
imaginäre Heimat dieser Juden war und blieb Israel. Übersetzt in das Bild
von der „Brücke“ wurden diese Menschen durch ihre bloße Anwesenheit und
entgegen ihrer persönlichen inneren Einstellung von nichtjüdischer deutscher
Seite als Pfeiler einer imaginären Brücke zwischen Deutschland und Israel
gesehen. Für sie aber stand alles Deutsche unter Verdacht und
versinnbildlichte die unauslöschliche Schuld an der erlittenen Katastrophe.
Mit der Gründung des Zentralrates 1950 in Frankfurt am Main wurden die
Träume und Sehnsüchte der in Deutschland gestrandeten Juden von einem Leben
fern von Deutschland, im neu gegründeten Staat Israel oder im Ausland
keineswegs begraben. Lange Zeit blieb die Haltung des Zentralrates, der
ersten jüdischen Dachorganisation in einem demokratischen deutschen Staat,
in der heiklen Frage „Bleiben oder Gehen?“ ambivalent. Auch die das
schlechte Gewissen besänftigende Vorstellung von so genannten
„Liquidationsgemeinden“ als Übergangslösung hielt sich trotz der
fortschreitenden Etablierung eines geregelten Gemeindelebens über viele
Jahrzehnte hinweg. Die Nachgeborenen der Männer und Frauen aus den DP-Lagern
bauten in kleinen, aber zunehmend entschlossenen Schritten auf dem
vorhandenen, fragilen Fundament auf. Nach wie vor fehlte die Bereitschaft,
sich mit Deutschland zu identifizieren. Und doch festigte dieser Zustand des
Verweilens unmerklich die zaghaft wachsende jüdische Gemeinschaft. Offen
zugegeben hätte dies damals niemand. Zu groß war bei den meisten Juden das
schlechte Gewissen und die Scham, Deutschland nicht hinter sich gelassen zu
haben. So sahen sie ihre Zukunft weiterhin im Ausland, vor allem in Israel,
und wollten dort ihre Beiträge und Spenden investiert sehen.
Die nichtjüdische deutsche Öffentlichkeit nahm von dem innerjüdischen Ringen
um Identität, Religion und Heimat kaum Notiz. Ob aus Scham, Unsicherheit
oder Antisemitismus: die Existenz jüdischer Gemeinden wurde bis in die
siebziger Jahre allenfalls bei Gedenktagen wahrgenommen. Für die
nichtjüdische Öffentlichkeit repräsentierten die jeweiligen Vorsitzenden des
Zentralrats die in Deutschland lebenden Juden. Wie viele, oder besser wie
wenige Juden tatsächlich in Deutschland lebten, wusste auf nichtjüdischer
Seite so gut wie niemand zu sagen. Die Schätzungen übertrafen die wirkliche
Zahl meist um ein Vielfaches - eine verzerrte Wahrnehmung, die im
Wesentlichen auf eine im Verhältnis zum bescheidenen Umfang der jüdischen
Gemeinschaft starke öffentliche Präsenz jüdischer Repräsentanten im
politischen und gesellschaftlichen Leben der Bundesrepublik zurückzuführen
ist.
Nur zu gern instrumentalisierten die jeweiligen Bundesregierungen jüdische
Funktionsträger für außenpolitische Zwecke. Im Zentrum stand dabei von
offizieller Seite das Bemühen um sichtbare Gesten der Normalisierung des
deutsch-jüdischen Verhältnisses, so, als sei dieses eine Art
verselbständigte innerstaatliche diplomatische Beziehung. Die Vertreter der
Juden in Deutschland wandelten dabei auf schmalem Grat. Groß war die Gefahr,
durch zu viel Versöhnungsbereitschaft „Verrat“ an den Opfern des Holocaust
zu begehen. Ebenso wenig wollten die Repräsentanten des Zentralrats als
rückwärtsgewandte, unversöhnliche Mahner missverstanden oder als
Lordsiegelbewahrer des begehrten Koscher-Stempels für
öffentlichkeitswirksames Gedenken dienen. Und dann waren da noch Israel und
die verschiedenen internationalen jüdischen Organisationen, deren Vertreter
in Bonn und später in Berlin die Aktivitäten des Zentralrats mit kritischem,
ablehnenden Blick zur Kenntnis nahmen.
Insgesamt ergab sich für den Zentralrat aus dem Bemühen um Ausgleich
zwischen der historisch, religiös, familiär geprägten emotionalen Beziehung
zu Israel und den rationalen politischen Notwendigkeiten als
Spitzenorganisation der Juden hinsichtlich deutscher Interessen ein nahezu
unüberwindlicher Spagat. Aktuell lässt sich das am Ringen zwischen der
Bundesrepublik und Israel um eine Lösung in der heiklen Frage der
Zuwanderung aus den ehemaligen GUS-Staaten aufzeigen. So nachvollziehbar das
Ansinnen der israelischen Regierung einerseits auch ist, die Zuwanderung von
Juden in Richtung Israel lenken zu wollen, so verständlich ist andererseits
die Haltung der Bundesregierung, aus historischer Verantwortung und
Verpflichtung heraus, den einwanderungswilligen Juden nicht den Zuzug nach
Deutschland zu verweigern. Für den Zentralrat wiederum steht der humanitäre
Aspekt im Vordergrund. Menschen, die sich verfolgt fühlen und diskriminiert
werden, seien es Juden oder Nichtjuden, dürfen nicht abgewiesen werden, wenn
sie nach Deutschland kommen wollen. Dass diese Position im Falle der
jüdischen Zuwanderer aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion den
israelischen Interessen zuwiderläuft, ist bedauerlich, aber unter den
gegebenen Umständen unvermeidbar.
Überlegungen hinsichtlich der Rolle der jüdischen Gemeinden und des
Zentralrats im deutsch-jüdisch-israelischen Verhältnis waren nach dem
Zweiten Weltkrieg und in den darauf folgenden rund 50 Jahren von eher
theoretischer Natur, da von israelischer Seite keinerlei Interesse an einer
solchen Mittlerrolle bestand. Zwischen 1950, dem Gründungsjahr des
Zentralrates der Juden in Deutschland, und dem Beginn der neunziger Jahre,
als sich durch die politische Wende in Osteuropa und den Zuzug von Juden aus
den ehemaligen GUS-Staaten die Situation der jüdischen Gemeinden in
Deutschland grundlegend wandelte, hätten die Beziehungen zwischen den Juden
in Israel und weiten Teilen der Diaspora einerseits und den in Deutschland
lebenden Juden andererseits kaum schwieriger sein können. In seiner
Grußbotschaft zum 50jährigen Jubiläum des Zentralrats im Jahr 2000 erinnerte
Avi Primor, der frühere Botschafter Israels in der Bundesrepublik, mit
bemerkenswerter Offenheit an die Distanz, ja Verachtung, mit der den in
Deutschland lebenden Juden über Jahrzehnte hinweg von israelischer Seite
begegnet worden war. Die Argumente für diese nahezu feindselige Haltung sind
bekannt: Mit der Gründung des Staates Israel gab es aus zionistischer Sicht
für Juden keinen vernünftigen Grund mehr, im „Exil“ und damit in einem als
erniedrigend geltenden Zustand zu verharren. Als unerträglich und
inakzeptabel erachteten es nicht nur die Ideologen unter den Zionisten, dass
einige Tausend Juden nach der Befreiung der Konzentrationslager in
Deutschland geblieben waren und im „Land der Henker“ schrittweise eine
jüdische Infrastruktur aufgebaut hatten. Dies widersprach der zionistischen
Forderung, nach der es nie wieder jüdisches Leben in Deutschland geben
durfte. Die völlige Abwesenheit von Juden galt als eindrücklichstes Mahnmal
der nationalsozialistischen Judenvernichtung.
Die sich Ende der 40er Jahre abzeichnende Institutionalisierung des
jüdischen Gemeindelebens in Deutschland rief deshalb bei zahlreichen
jüdischen Organisationen im Ausland sowie in der israelischen Öffentlichkeit
lautstarke Empörung und Verständnislosigkeit hervor. Der in Deutschland
geborene, linksliberale Verleger und Journalist Gershom Schocken verstieg
sich in seiner Zeitung „Haaretz“ zu der Forderung: „Israels Regierung und
die jüdische Weltorganisation sind aufgefordert, Maßnahmen zu treffen, um
die restlichen Juden aus Deutschland heraus zu schaffen, so dass es dort
bald keine Juden mehr geben wird.“ Schockens radikaler Vorschlag war an
höherer Stelle längst in konkrete Maßnahmen umgesetzt worden. Bereits vier
Wochen nach der Gründung des Zentralrates stellte der Sochnuth (Jewish
Agency for Israel) den in Deutschland lebenden Juden ein Ultimatum von sechs
Wochen, um das Land zu verlassen. Wer sich nach dieser Frist in Deutschland
aufhielte, so die Vertreter der Jewish Agency, sollte alle Rechte, die Juden
bei der Einwanderung nach Israel zustehen, verlieren. Flankiert war diese
Drohung, die die Schließung der Büros der Sochnuth in Deutschland zur Folge
hatte, durch unterschiedliche Gängelungen. So wurde, um nur zwei Beispiele
zu nennen, den Juden in Deutschland das Recht abgesprochen, Vertreter zum
nächsten Zionistischen Kongreß zu entsenden und die Zahl der deutschen
Teilnehmer an der Maccabiade in Israel im Unterschied zu allen anderen
Ländern offiziell begrenzt.
Schmähungen, Feindseligkeiten und Beleidigungen verstummten auch in den
darauf folgenden Jahrzehnten nie ganz. Noch Mitte der 60er Jahre fühlte sich
der damalige Vorsitzende des Zentralrats, Heinz Galinski, im Anschluss an
den Jüdischen Weltkongress in Brüssel zu einer entsprechenden Reaktion
herausgefordert: „Sind wir,“ so richtete sich Galinski aufgebracht an die
Juden in aller Welt, „die wir seit der Stunde des Zusammenbruchs des
Nationalsozialismus wieder in Deutschland ansässig sind, nicht auch
Überlebende der hitlerschen Konzentrationslager? Sind unter uns nicht auch
zahlreiche, die aus ihrer früheren Heimat vertrieben wurden und doch den Weg
wieder zurück fanden? Leben in unserer Gemeinschaft denn nicht auch die
zwangsweise Untergetauchten; wir alle, die Gehetzten, Verfemten, die täglich
den Tod vor den Augen hatten?“ Galinski scheute sich nicht, im gleichen
Artikel auch diejenigen Vertreter jüdischer Organisationen oder israelischer
Regierungsstellen an den Pranger zu stellen, die auf diplomatischer Ebene
längst in engem Kontakt mit gleichrangigen bundesrepublikanischen
Gesprächspartnern standen, gleichzeitig aber die in Deutschland lebenden
Juden mit Nichtachtung straften.
Was Galinski scharf als „Doppelzüngigkeit“ kritisierte, war über viele Jahre
hinweg die offizielle Haltung Israels. Yohanan Meroz, der sich große
Verdienste um die deutsch-israelischen Beziehungen erworben hat und von
1974-1981 israelischer Botschafter in Bonn war, brachte die damalige
israelische Sichtweise in seinen Erinnerungen auf den Punkt: Er wolle nicht
über die in Deutschland lebenden Juden richten, so Meroz; die Bildung einer
institutionalisierten Diaspora auf deutschem Boden sei jedoch ebenso
abzulehnen wie „die Anmaßung dieser Diaspora, eine Aufgabe als Vermittler
zwischen Deutschland und Israel zu haben“. Der von Meroz abfällig als „der
Apparat“ bezeichnete „Zentralrat“ galt ihm als überflüssiges, ineffektives
Verwaltungsmonstrum ohne Daseinsberechtigung. Kern der Kritik des einstmals
deutschen Juden Meroz war der Vorwurf, die Juden in Deutschland versuchten
hilflos etwas aufleben zu lassen, was unwiderruflich vorbei sei. Weitaus
schwerer wog aus seiner Sicht jedoch, dass der so genannte „Apparat“ durch
seine Einmischung in die bilateralen Kontakte beider Staaten die Entwicklung
eines gleichberechtigten, an praktischen Erfordernissen orientierten
Miteinanders behindere:
„Aus dieser Realität“, so die Schlussfolgerung des Diplomaten, „ und nur aus
ihr allein, ergeben sich völlig neue Zukunftsperspektiven, die nicht durch
alte Fehlvorstellungen – oder persönliche Ambitionen – belastet werden
dürfen. In diesem „Prinzip Hoffnung“ hat eine jüdische Gemeinschaft in
Deutschland keine Zwischenrolle auszufüllen“.
Dass es diese „Zwischenrolle“ oder Brückenfunktion dennoch gab, steht außer
Frage, ebenso die Tatsache, dass Israel wie die Judenheit insgesamt von der
Arbeit des Zentralrats und dem Eintreten der Juden in Deutschland für Israel
profitiert haben. In allen wichtigen Fragen, die in den vergangenen 55
Jahren für die Überlebenden des Holocaust, die Hinterbliebenen der Opfer,
die ehemaligen Zwangsarbeiter und insbesondere auch für die Juden in Israel
von Belang waren, wirkten die Vertreter des Zentralrats und der Gemeinden
als aufrichtige Mittler. Vorherrschend war und ist das Bestreben, sich weder
einseitig für deutsche, noch für israelische Interessen einspannen zu lassen
oder gar eigene außenpolitische Ziele zu verfolgen. Die von Medienvertretern
oder Politikern gern gestellte Frage, inwieweit der Zentralrat im
Zusammenhang mit der jeweils aktuellen israelischen Politik nicht mit
doppelten moralischen Standards messe, entlarvt sich deshalb ganz von selbst
als latent antisemitisch. Das alte Vorurteil von den Juden als den
illoyalen, ausschließlich dem jüdischen Volk verpflichteten Untertanen und
Staatsbürgern tritt in dieser Unterstellung unverholen zutage. Denn
verständlicherweise fällt es vielen Juden, auch den jüngeren, bis heute
schwer, Israel öffentlich zu kritisieren, von Nichtjuden kritisiert zu sehen
oder sich in bestimmten kritischen Situationen nicht mit Israel zu
solidarisieren. Das wird so bleiben, bis die Judenheit keine verfolgte
Minderheit mehr sein wird und auf die beruhigende Gewissheit eines im
Notfall sicheren Fluchtortes verzichten kann. Dieses Empfinden ist jedoch
nicht Ausdruck eines Loyalitätskonflikts, wie von nichtjüdischer Seite
gelegentlich der Eindruck erweckt wird, sondern Folge von Unsicherheit,
anhaltender Ungewissheit und leidvoller historischer Erfahrung.
Die skizzierten innerjüdischen Spannungen zählen zu den traurigen,
belastenden Langzeitfolgen des nationalsozialistischen
Menschheitsverbrechens. Sie trugen im Beziehungsgeflecht zwischen Israel,
der Bundesrepublik Deutschland und der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland
dazu bei, konfliktbehaftete Entwicklungen auszulösen. Ein anschauliches
Beispiel dafür bot in der jüngeren Vergangenheit die Deutschland-Visite des
israelischen Staatspräsidenten Ezer Weizmann im Jahr 1996. Aufsehen erregte
der Besuch des ranghöchsten Repräsentanten Israels unter anderem, weil
Weizmann vor den Abgeordneten des Deutschen Bundestages eine inhaltlich wie
auch durch ihre literarische Sprache bewegende Rede hielt. Schon im Vorfeld
seiner Reise aber hatte Weizmann auf unverblümte Weise die Existenz
jüdischen Lebens und jüdischer Gemeinden auf deutschem Boden kritisiert. Er
könne nicht verstehen, so Weizmann, dass Juden nach den Verbrechen der Nazis
weiterhin in deren Land lebten. Selbst heute würden die Deutschen die Juden
in ihrer Mitte verachten. Vertreter des Zentralrats, allen voran Ignatz
Bubis sel.A, verwahrten sich in aller Form gegen diesen abschätzigen
Kommentar. Einmal mehr war durch diesen Vorfall die für die vorausgegangenen
vierzig Jahre bezeichnende Situation entstanden, dass sich die Beziehungen
zwischen den Regierungen Israels und der Bundesrepublik stetig verbesserten,
der jüdische Teil der deutschen Bevölkerung jedoch von Seiten Israels mit
Nichtachtung für ihr vermeintliches Fehlverhalten gestraft wurde.
Die Juden in Deutschland saßen zwischen allen Stühlen. Eine Tatsache, die
sich auch am Verhalten der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft in
Deutschland ablesen ließ. Dem lange Zeit alles andere als einvernehmlichen
Verhältnis zwischen den in Deutschland lebenden Juden und Israel wurde keine
weitere Beachtung geschenkt - im Gegenteil: aus Sicht vieler deutscher
Nichtjuden war und ist ein Jude, gleichgültig welcher Nationalität, immer
auch irgendwie ein Israeli. Jeder in der Diaspora lebende Jude kennt die
absurden Situationen, die überall auf der Welt aus dieser unterstellten
Zweistaatlichkeit erwachsen. Zu den zahlreichen Beispielen, die Ignatz Bubis
erlebt hatte, zählt auch folgende Begebenheit: Im Anschluss an die erwähnte
Rede Ezer Weizmanns erhielt Bubis von einem Gesprächspartner das
zweifelhafte Kompliment: “ Ihr Präsident hat heute eine wunderbare Rede vor
dem Bundestag gehalten“. Schlagfertig erwiderte Bubis: „Ist das so? Ich
wusste gar nicht, dass Roman Herzog heute vor dem Bundestag eine Rede
gehalten hat“. Dass Bubis in seiner Funktion als höchster Vertreter der
Juden in Deutschland kurz zuvor von Weizmann eine schroffe Abfuhr für seine
Loyalität Deutschland gegenüber erhalten hatte und nun zum Israeli erklärt
wurde, entbehrt nicht bitterer Ironie.
Auch in anderer Hinsicht ist dieses Erlebnis von Ignatz Bubis allenfalls auf
den ersten Blick eine amüsante Anekdote. Sie wirft ein bezeichnendes Licht
auf die bei Nichtjuden nach wie vor verbreiteten Wissenslücken, auf tief
verankerte Vorurteile und verletzende Ignoranz in Sachen Judentum und
Israel. Die hohe Qualität der deutsch-israelischen Beziehungen, die
Städtepartnerschaften und Jugendaustausch-Programme haben daran bislang nur
wenig ändern können. Die offensichtliche Diskrepanz zwischen Substanz und
Güte offizieller Kontakte einerseits und gegenwärtigem Ausmaß
antisemitischer und antiisraelischer Einstellungen andererseits ist
besorgniserregend: dies umso mehr angesichts des Wiedererstarkens
rechtsradikaler, verfassungsfeindlicher Parteien, insbesondere der NPD und
deren jüngsten Auftritten.
Blickt man zurück, verwundert diese Entwicklung kaum. Bis weit in die
sechziger Jahre war die deutsche Mehrheitsgesellschaft fast zwanghaft
bemüht, die Existenz der wieder unter ihnen lebenden Juden zu ignorieren.
Ihr Interesse richtete sich vor allem auf ein nostalgisch verklärtes
Vorkriegsjudentum. Im Mittelpunkt standen und stehen die immer gleichen
Namen deutsch-jüdischer Künstler, Wissenschaftler und Geistesgrößen, Ikonen
einer vermeintlichen, nachträglich konstruierten deutsch-jüdischen Symbiose.
Kollektiv beweint wurde nahezu ausschließlich die geistig-künstlerische
„Selbstamputation des deutschen Volkes“, selten die menschlich-emotionale –
eine Selbstamputation ohne Phantomschmerz. Der Umstand, dass Juden und
Nichtjuden viel zu selten ins Gespräch kommen und es angesichts der geringen
Anzahl von Juden in Deutschland kaum nachbarschaftliche Kontakte gibt,
konservierte ein hohes Maß an Verkrampfung, Künstlichkeit und
Empfindlichkeit im deutsch-jüdischen Miteinander
Es war vor allem Ignatz Bubis, dem es in seiner Amtszeit gelang, diese
Starre partiell aufzubrechen, die Zurückgezogenheit der Juden teilweise zu
beenden und Nichtjuden auch zu Belangen der jüdischen Gemeinschaft Stellung
beziehen zu lassen. Bubis trieb an und war selbst getrieben vom Wunsch, die
Aussöhnung zwischen Juden und Deutschen voran zu bringen und die
deutsch-israelischen Beziehungen zu festigen. Er war überzeugt davon, dass
die Rückbesinnung auf die Vergangenheit als Grundlage der zukünftigen
deutsch-jüdisch-israelischen Beziehungen allein nicht ausreichen werde. Ganz
im Sinne von Ignatz Bubis müssen die Kontakte unter Israelis, in Deutschland
lebenden Juden und Nichtjuden der jüngeren Generation keineswegs nur
ausgebaut, sondern in vielen Fällen überhaupt erst einmal geknüpft werden.
In engem Zusammenhang damit steht ein aktuelles Phänomen, das in der
Vergangenheit zeitweise immer mehr abzunehmen schien. Gemeint ist der im
Zuge des Nahostkonflikts stetig deutlicher zu Tage tretende Antisemitismus
in Deutschland und Europa. Die jüngsten Entwicklungen und Friedensbemühungen
lassen zwar langfristig auf einen Wandel hoffen, dennoch schürt die
fortgesetzte Diskriminierung von Juden nicht nur bei den in Deutschland
lebenden Juden Ängste. Es ist schlimm genug, dass sich Juden für das
militärische Vorgehen Israels weltweit in Kollektivhaftung genommen sehen
und Juden in Deutschland von einem Bundstagsabgeordneten – vorsichtshalber
im Konjunktiv - zu Angehörigen eines „Tätervolks“ erklärt werden.
Besorgniserregend aber ist vor allem die durch Umfragen belegte Tatsache,
dass es sich hierbei nicht um einen „neuen“ Antisemitismus handelt, sondern
der vorhandene sich in seinem wahren Ausmaß zunehmend entlarvt.
Der denkwürdige Deutschland-Besuch Ezer Weizmanns liegt inzwischen neun
Jahre zurück. Seitdem hat sich in den Beziehungen zwischen Israel und den
Juden in Deutschland – erfreulicherweise - viel getan. Zu danken ist diese
Entwicklung nicht zuletzt auch dem israelischen Staatspräsidenten Moshe
Katsav. Mehrfach hat Präsident Katsav bei seinen zurückliegenden
Deutschland-Besuchen deutliche Zeichen der Verbundenheit, ja Freundschaft
mit den in Deutschland lebenden Juden gesetzt. Von hoher symbolischer
Bedeutung war seine Anwesenheit bei der Einweihung der Bergischen Synagoge
in Wuppertal im Jahr 2002. Ein Ereignis, das über Jahrzehnte hinweg
unvorstellbar schien, wurde damals Wirklichkeit. Anlässe wie diese bestärken
all jene in Deutschland lebenden Juden, die an eine aussichtsreiche
Weiterentwicklung des deutsch-jüdischen und jüdisch-israelischen
Miteinanders glauben. Dieses Engagement kann dazu beitragen, folgende, vom
Frankfurter Rabbiner Weinberg sel.A. geäußerte Hoffnung, ein Stück weit
Wirklichkeit werden zu lassen: „Mögen sich (…) immer zahlreiche deutsche
Menschen finden, die den Mut haben, sich in den Riss, der nicht nur zwischen
Juden und Deutschen, sondern durch die ganze Welt geht, zu stellen und neue
Brücken zu bauen.“
Es ist nicht überliefert, wie sich Rabbiner Weinberg diese universell
verstandene Brücke der Menschlichkeit und Verständigung vorstellte, ebenso
wenig, ob er bei der Verwendung der Metapher vielleicht ein dauerhaftes
Material wie Stein oder Stahl vor Augen hatte. Wohl kaum, denn dafür hatte
der Holocaust seinen Glauben an die Haltbarkeit und Belastbarkeit
menschlicher Beziehungen zu tief erschüttert. Treffender erscheint die
Vorstellung einer fragilen, aber tragfähigen Brücke aus einem lebenden
Material: aus Holz. Einem Material, das nicht vorschnell verspricht, jeder
Belastung für alle Zeiten stand zu halten - eines, das steter Aufmerksamkeit
und Wachsamkeit bedarf, wenn seine Tragfähigkeit dauerhaft gesichert sein
soll.
Kompliziert und schwer belastet:
Das
deutsch-jüdisch-israelische Beziehungsgeflecht
Die Rede des Präsidenten des Zentralrats der Juden in
Deutschland Dr. h.c. Paul Spiegel beim Zusammentreffen von Staatspräsident
Moshe Katzav mit Vertretern der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland...
www.zentralratdjuden.de
[FORUM]
hagalil.com 23-06-2005 |